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Das Treffen in Wien

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Noch vor kurzer Zeit mochte eine publizistische Betrachtung über ein Treffen der beiden Repräsentanten der twei militärisch stärksten Weltmächte init dem stereotypen Satz beginnen: „Die Augen der Weltöffentlichkeit sind nach X gerichtet.“ Dem ist heute nicht mehr so. Auf das Treffen der Herren Kennedy uni Chruschtschow in Wien am 3. und 4. Juni sieht ein nicht kleiner Sektor der einen Menschheit nur mit einem Auge: beide Augen sind auf die am 5. Juni in Kairo beginnende Besprechung gerichtet. Dort treffen sich die Vertreter von rund 20 Staaten zur Vorbereitung einer gemeinsamen Großtagung der allianzfreien Staaten, die sich unter dem Dreigestirn Tito, Nasser und Sukarno finden wollen. Afrikaner, Asiaten, Lateinamerikaner und Europäer kommen da in Kairo, der „leuchtenden Stadt“, zusammen. Nicht nur das lautstarke Wort des Vertreters Kubas wird, von Kairo her, deutlich genug vernehmbar sein. Wer von den eingeladenen Europäern kommen wird, ist noch zweifelhaft. Neben Schweden und Finnland wird da auch Österreich ge- genannt .., Die einladenden Ägypter und Jugoslawen wollen zunächst eine Art gemeinsame Fraktion in den Vereinten Nationen bilden, und die Neutralen in die Abrüstungsgespräche und in den Aufbau der Entwicklungshilfe politisch stärker einschalten. Gewiß: die Meinungen, Reden und Pläne, die Bemühungen im Vordergrund und im Hintergrund werden in Kairo eine Vielfalt und Gegensätzlichkeit enthalten, wie auch alles das, was bei Tref-

fen der zwei militärisch stärksten Staatschefs zur Debatte steht, gesägt und nicht gesagt wird Eben diese Tatsache mindert nicht die Bedeutung der Vorkonferenz von Kairo. Für keinen der Herren, die nach Wien kommen, ist zu übersehen, daß das Jahr 1960 bereits „ein Jahr Afrikas“ war und ist zu überhören, daß bereits 1961 oder eines der nächstfolgenden Jahre ein Jahr Südamerikas sein kann: dies letztere vielleicht in einem sehr tragischen Sinne. Der Blick auf die Welt zeigt, wie sehr jeder falsche Egozentrismus und jeder falsche Europäis- mus heute weltpolitisch nur schiefe Blicke, schiefe Pläne und gefährliche Folgerungen nach sich ziehen kann.

Wien ist nicht „die Welt“. Berlin ist nicht die Welt. Eine gewisse bis- marckistische Aufblähung der Berlin- Frage kommt einerseits nur den Russen zugute, die am näheren Hebelarm sitzen und führt zu einer Selbstfesselung des Westens. Auch Paris ist nicht die Welt. Kennedy, der von De Gaulle und seinem Paris nach Wien kommt, dürfte dies wissen. Auch Moskau ist nicht die Welt. Daran wird Chruschtschow nicht nur durch Peking täglich erinnert.

Also werden sich die beiden größten Gefangenen unserer Zeit in Wien treffen.

Kennedy und Chruschtschow — die beiden größten Gefangenen unserer Zwischenzeit? Unschwer ist dies einzusehen: schwer ist beider Gepäck, sind beider Lasten, beider Verpflichtungen. Eine führende westdeutsche Zeitung notiert: „Kennedy schleppt auf dem Weg nach Wien eine Kette von Mißerfolgen hinter sich her, von denen einige bereits auf das Konto der neuen Administration kommen. Was die Entwicklung für den nationalen Stolz besonders quälend mache, so schreibt ein amerikanisches Blatt, das sei die Beharrlichkeit, mit welcher Diplomaten und Militärs aufs falsche Pferd gesetzt haben; nicht nur in Laos, sondern sogar in Südkorea, wo doch Amerika als Schutzmacht keineswegs bloß übliche Quellen der Information zur Verfügung habe.“

■ Sprechen wir es zudem in Wien offen aus, was in Paris und London die Spatzen längst von den Dächern pfeifen, was von den Verhören des Generals Challe und aus anderen Quellen längst durchgesickert ist: Eine potente Reaktion in Amerika y ollte „den jungen Mann“ Kennedy zweifach international anrennen lassen, beziehungsweise fixieren: einmal in Kuba, um dergestalt eine härteste Frontstellung gegen Moskau zu erzwingen, zum anderen in Algerien, wo nicht nur whiskyselige amerikanische NATO-Offiziere den Rebellen gegen De Gaulle allzuviel versprochen haben: amerikanische Hilfe beim Aufbau eines neuen, straff militärisch geführten Diktaturstaates Frankreich, nach der Beseitigung des schwierigen alten Mannes, De Gaulles. Um aus diesem dunklen und immer nach dunkeldrohenden Hintergrund ins gleißende Licht des Tages zu treten: das Benehmen diverser Asiaten, vornehmlich von Laoten, bei der Genfer Laos-Konferenz, ist ein bewußter Affront an die Adresse der Weltmächte. Eine Frau, eine Prinzessin aus diesem Land, das der Werbung Pekings, Moskaus und Washingtons ausgesetzt ist, hat es da sehr deutlich gesagt: Die Großmächte sollten uns in Ruhe lassen.

Dies Wort von vielen, vielen, aus Asien, Afrika, Südamerika (dort nicht nur aus Kuba und aus Quadros-Kreisen in Brasilien!) richtet sich an die Adresse der beiden Herren, die jetzt nach Wien kommen. Wenn es fast schon abgeschmackt und undelikat erscheinen mag, von den großen Sorgen und Lasten des tapferen Mr. Kennedy zu sprechen, so ist es sehr, am Platz, Herrn Chruschtschows große eigene Probleme nicht zu übersehen. Soeben hat dieser in Moskau bei einem Empfang für Vertreter der britischen Industrie eine wirklich aufsehenerregende Erklärung abgegeben: Die Sowjetunion wird in Zukunft nicht mehr die Schwerindustrie forcieren, sondern die Konsumgüterindustrie im selben Tempo weiterentwickeln. Das offizielle Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs, bekannt durch seine Zurückhaltung und genaue Beobachtung der Sowjets, bemerkt dazu: „Die Erklärung Chruschtschows bedeutet anscheinend eine gänzliche Wendung in der Wirtschaftspolitik der Sowjetunion. In Stalins Zeit war die Vorherrschaft der Schwerindustrie absolutes Dogma (sie ist es auch heute in China), aber auch Chruschtschow selbst hat diese These noch 1958 verkündet.“

Wird Chruschtschow eine so revolutionäre Kursänderung gelingen? Der erste Mann im Kreml, der eben eine umfassende Umbesetzung in oberen und mittleren Führungsstellen im ge samten Apparat der sowjetischen Staatsgesellschaft begonnen hat, sieht sich dem Druck von Militärs, Parteimännern und der Massen gegenüber. Der Massen? Wann, so sagen und schreiben die makabren Schwarzseher und Rotseher in unseren Zonen, hat je ein Staatsführer in Rußland auf sie Rücksicht genommen? Nun: die Anforderungen, die gerade die Weltpolitik an die Sowjets stellt, erzwingen dies: Man kann die Weltrevolution nur dann vorwärtstreiben, wenn man sehr viel bestgeschulte und hochqualifizierte Männer und Frauen in Afrika, Asien und aller Welt einsetzen kann. Diese Gesellschaft „neuer Menschen" will besser leben: farbiger, reicher in jeder Hinsicht. Die Moskauer Mode von 1961 spricht eine deutliche Sprache: nicht nur einige Dutzend Diplomaten ersten Ranges wollen und sollen im Ausland einen dem Westen ebenbürtigen Lebensstandard vorstellen: Millionen Russen wollen diesen im Inneren leben. Das weiß Chruschtschow. Sehr genau weiß er aber auch, daß er diese und andere revolutionäre, wirklich über Stalin hinausführende Änderungen nur durchsetzen kann, wenn er neue Dogmen schafft, die dann für lange Jahre hin bannend, richtend die Partei und ihre Männer verpflichten. Eben deshalb hat er sich sehr offiziell die Sommermonate für die Ausarbeitung des neuen Parteiprogramms Vorbehalten. In ihm soll seine These vom friedlichen Kampf, vom friedlichen Sieg der Weltrevolution, feierlich sanktioniert werden. Wer die Kräfte und Bewegungen im Weltkommunismus auch iiür Einigermaßen kennt, weiß, welche Großmächte der Reaktion sich ihm entgegenstellen; nicht nur Heißsporne in Südamerika und die.chinesische Sphinx, deren Löwenklauen in Asien liegen, deren Augen von Albanien auf Moskau und von Kuba auf Washington sehen.

Wahrhaftig, groß sind die Lasten, die auf den beiden Männern ruhen, die sich in Wien jetzt treffen. Bewußt ihrer Schwere, spricht die Ankündigung des Weißen Hauses über diese Zusammenkunft die Sprache der Bescheidenheit: „Der Präsident und Ministerpräsident Chruschtschow sind der Auffassung, daß dieses Treffen keinen Verhandlungen oder Vereinbarungen über große internationale Probleme dienen soll, die das Interesse vieler anderer Staaten berühren. Das Treffen wird jedoch eine zeitgemäße und günstige Gelegenheit zu einem ersten persönlichen Kontakt und zu einem allgemeinen Austausch von Ansichten über die hauptsächlichen Fragen der Beziehungen zwischen den beiden Ländern bieten.“ Dieser Sprache und dem Ernst der Begegnung entsprechend, sollten sich Wien und Österreichs Volk bemühen, beiden Herren und ihrem Gefolge einen aufrichtigen und würdigen Empfang zu bereiten. Unwürdig und bösartig ist das Gestänker einer gewissen Presse, die sich zu „Drohungen“ an die Adresse des russischen Staatschefs versteigt und diese dem amerikanischen Präsidenten insinuiert. Der böse Blick und der unfromme Wunsch verraten hier schlechteste Gedanken. Woran Präsident Kennedy neben vielem anderem auch denkt, wenn er nach Wien kommt, verrät dasselbe Kommunique des Weißen Hauses: Er wird sich von Wien nach London begeben, zur Taufe einer Nichte, der Tochter des Prinzen Radziwil und der Schwester von Frau Kennedy. Tauffeier also, und Bekundung der Freundschaft zwischen Amerika und Polen! Die Wiedergeburt Europas, eines Europas, das größer und jünger ist, als manche seiner abergläubischen und fragwürdigen Verehrer sehen wollen, hat in unserer Zeit begonnen: nicht ohne ernste Mitwirkung jener beiden Mächte, deren Vertreter sich jetzt in Wien treffen, und gebeten sind, auf dieses Ereignis Rücksicht zu nehmen

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