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Das verdunkelte Idol

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Man hat gesagt, die französischen Gemeinde- wählen seien nicht ein Votum gegen den General de Gaulle gewesen, sondern nur eines gegen die Gaullisten. Die Stellung des Staatschefs sei noch unerschüttert wie zuvor. Das stimmt zumindest insoweit, als immer noch die Mehrheit des französischen Volkes hinter de Gaulle steht. Aber tut sie das noch aus denselben Gründen wie im Herbst? Damals war man dem General dankbar dafür, daß er den Bürgerkrieg verhindert habe, und man vertraute darauf, daß er nun Frankreich in eine bessere Zukunft führen werde. Diese Hoffnungen haben sich — ob nun zu Recht oder zu Unrecht — seither weitgehend verflüchtigt. Was heute eine ‘ Mehrheit des französischen Volkes sich an de Gaulle klammern läßt, ist die bange Frage; „Was kommt nach de Gaulle?”

Der Aufbau der Fünften Republik wird mehr und mehr durch einen anderen Vorgang aus dem Mittelpunkt des Interesses gedrängt. Immer zahlreichere Franzosen beginnen zu erkennen, daß es in ihrem Lande politische Lager gibt, die alle ihre Kräfte auf die Vorbereitung für „einen neuen 13. Mai” konzentrieren — sei es nun auf seine Durchführung oder auf seine Abwehr. Aber das Thema ist vorläufig noch tabu. Der Franzose reagiert meist gereizt, wenn man ihn daraufhin anspricht. Er spürt mit ohnmächtiger Wut, daß die unangenehme Kassandra Mendės- France wieder einmal mit einer Prophezeiung recht behalten könnte. Die These der Mendė- sisten über den „ersten” 13. Mai ist bekannt: „De Gaulle verhindert die Auseinandersetzung, auf die alles zusteuert, nicht — er schiebt sie bloß auf. Und wenn sie dann kommt, wird sie für die republikanischen Kräfte schwerer zu bestehen sein als 1958: die Feinde der Republik benützen den Scheinfrieden des gaullistischen Regimes, um ihre Stellungen zu verstärken; sind sie einmal stark genug, so werfen sie die Maske ab und wenden sich offen gegen de Gaulle, in dessen großem Schatten sie doch allein aufsteigen konnten…”

Was läßt befürchten, daß die Mendėsisten mit ihrer düsteren Prognose recht bekommen könnten? Bedenklich ist beispielsweise die Entwicklung in der Armee. Zwar spielen sich alle politischen Entwicklungen in ihr wie hinter einem dicken Teppich ab. Aber eines läßt sich feststellen: die Kenner behaupten nicht mehr mit der gleichen Sicherheit, wie noch vor einem halben Jahr, daß de Gaulle die Armee fest in Händen habe. Gewiß, er hat die gefährlichsten Gegenspieler unter den Generälen auf administrativem Wege entmachtet. Aber eine Armee — das ist vor allem die Schicht der Berufsoffiziere von den Hauptleuten bis zu den Obersten —, die kann man schließlich nicht alle versetzen. Es ist erstaunlich, auf wieviel Feindschaft gegen de Gaulle man seit einiger Zeit gerade in dieser Schicht stößt. Ob dabei der General als „Mann des Systems” betrachtet wird oder nur als „Gefangener des Systems”, kommt aufs gleiche heraus. Vor allem diese weitherum feststellbare Reaktion innerhalb des Offizierskorps auf den kommunistischen Wiederaufstieg bei den Gemeindewahlen war bezeichnend: „Wenn ,er nicht imstande ist, die Kommunisten niederzuhalten, dann müssen wir die Sache in die Hand nehmen …”

Dieses sich ankündende Schwenken der Armee ist um so gefährlicher, als es sich ja nicht im luftleeren Raum abspielt. Es korrespondiert mit einem Vorgang unter den „Zivilisten”, den man etwas übertreibend als die allmähliche „Faschistisierung” eines Teiles der französischen Bevölkerung bezeichnet hat. Gemeint sind dabei nicht die zahlenmäßig kleinen, bewußt faschistischen Kampfgruppen, die nicht überschätzt werden sollten und höchstens als Fieberbläschen von Bedeutung sind. Der Vorgang, den wir meinen, übergreift einen weiteren Bereich.

Gespeist wird er aus zwei verschiedenen Quellen. Die eine sind die demobilisierten oder in Urlaub entlassenen Soldaten der Algerienarmee. Wir haben einen republikanisch gesinnten Stabsoffizier gefragt, ob jene Links- und Rechtsextremisten recht hätten, die — unter verschiedenem Vorzeichen natürlich — die Algerienarmee als „eine Maschine zur Fabrikation von Faschisten” kennzeichneten. Der Offizier drückte sich zurückhaltender aus: „Ich würde sagen, daß diese jungen Leute ihre Familien und ihren Bekanntenkreis mit nationalistischem Geist anstecken. Außerdem kommen sie aus einer Situation, in der die Armee alles ist: sie kämpft nicht nur, sondern verwaltet auch, baut auf, ist die Justiz, erzieht — das kann dazu ver- leiteh, sich den idealen Staat zu sehr nach Analogie der Armee vorzustellen.”

Die andere Quelle ist der „Technokratenschreck”, der sich über weite Teile gerade des kleineren Bürgertums gelegt hat. Die kühle und um psychologische Milderung kaum bemühte Art. mit der unter de Gaulles Aegide die technischen Intelligenzen auf so manchem Lebensgebiet zum Ruder gegriffen haben, hat im französischen Mittelstand alte Instinkte wieder auf gescheucht: diese im Verhältnis zum Ganzen unmäßig gewucherte Schicht lebt ja in der ständigen Furcht, sie könnte von den „Technokraten” (oder den „Banken”, der „Synarchie”, den „Juden”) unters Operationsmesser genommen werden. Kein Wunder, daß wieder die alten Thesen von der „Verschwörung gegen die guten Franzosen” aufzusteigen beginnen.

Es läßt sich sehr leicht eine Situation vorstellen, in der diese Impulse alle in der gleichen Richtung zu wirken beginnen: die Affekte der Offiziere, die sich „von der Politik um den Sieg betrogen” glauben; die Affekte der nationalistisch gewordenen und für autoritäre Ordnungen aufgeschlossenen Jugendlichen; die Affekte des sich durch die Modernisierung in seinen Privilegien bedroht fühlenden Mittelstandes. Aus dem Zusammenwirken dieser Impulse aber könnte ein Sturm entstehen, der Frankreichs Gesicht zu verändern vermag.

Seit man auf der nichtkommunistischen Linken dieser Gefahr ansichtig geworden ist, verbreitet sich dort von unten herauf bis weit in die Parteistäbe hinein die Ueberzeugung, man könne sich „den Luxus eines Zweifrontenkampfes gegen Reaktion und Kommunismus”

nicht mehr leisten; der Kommunismus sei das kleinere Uebel und dürfe zumindest als Kampfgenosse gegen die „drohende faschistische Diktatur” nicht abgewiesen werden. Diese Ueberzeugung hat sich mit sprunghafter Schnelligkeit verbreitet. Während noch letztes Jahr sehr vereinzelte Volksfrontparolen von der sozialistischen und radikalsozialistischen Wählerschaft nur sehr zögernd befolgt wurden, hat jetzt anläßlich der Gemeindewahlen bei den zahlreichen Volksfrontkoalitionen durchschnittlich nur mehr ein Bruchteil (15 bis 20 Prozent) der gleichen Wählerschaft „gestreikt”. Damit ist die KP aus ihrem Ghetto befreit und die französische Politik polarisiert sich in verhängnisvoller Weise auf ihre Extreme.

Wo aber ist die republikanische Mille ? Sie ist — und das ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich — bei de Gaulle. Das ist etwas anderes als die alten Parteien, die rettungslos kompromittiert sind. Und es ist auch etwas anderes, als das kleine Häufchen der um Mendės-France gescharten „Opposition innerhalb der Republik”, die zwar recht erhalten hat, aber bis jetzt in den Massen nicht Fuß fassen konnte. Es bleibt vorerst wirklich nur de Gaulle.

Was aber hat de Gaulle hinter sich? Gewiß, er hat mit jenen „Technokraten” gewisse Füh- rungs- und Intelligenzschichten hinter sich, die für Frankreichs Zukunft unerläßlich sind. Sie sind aber nicht eine für Bürgerkriegssituationen geschaffene „Hausmacht”. Die Bildung einer solchen hat de Gaulle, der sich immer als Repräsentant aller Franzosen, nicht als Chef einer Partei sah, unterlassen. Was sich an Ansätzen dazu auf dem rechten Flügel des so diffusen Gaullismus findet, dürfte beim „zweiten 13. Mai” (der notabene keineswegs auf einen 13. Mai zu fallen braucht!) wohl zu den Aufständischen übergehen — sei es auch nur, um „den General aus den Netzen des Systems zu retten” …

Vorerst macht man sich noch unbeliebt, wenn man es ausspricht — aber es muß ausgesprochen werden: Es droht die Gefahr, daß Frankreich zu dem Boden wird, auf dem sich in den nächsten Jahren die beiden großen politischen Mythen unseres Jahrhunderts ihre heftigsten Schlachten liefern.

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