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Das verstopfte Tor in die Freiheit

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Der Waffenstillstandsvertrag, der zum Abschluß der Genfer Konferenz am 21.. Juli 1954 von Vertretern des französischen Oberkommandos in Indochina beziehungsweise der Vietminh-Streitkräfte in Anwesenheit der Delegierten der vier Großmächte und der Regierungen von Kambodscha, Laos, Vietnam und des kommunistischen Vietminh unterzeichnet wurde, sichert jedem Bewohner des früheren Gesamtgebietes von Vietnam das Recht zu, völlig frei und unbehindert darüber zu entscheiden, ob er in der Zone, in der er sich zur Zeit des Vertragsabschlusses befand, verbleiben oder seinen Wohnsitz jenseits der Demarkationslinie, als die der 17. Breitegrad vereinbart wurde, verlegen wolle. Und nicht nur das. Jedermann, der von diesem Uebcrsiedlungsrecht Gebrauch machen will — die Frist, die ihm hierfür zur Verfügung gestellt wurde, erstreckt sich laut Waffenstillstandsvertrag über 300 Tage, d. h. bis zum 19. Mai 1955 - hat Anspruch auf Unterstützung und den Schutz seiner persönlichen Sicherheit durch die zuständigen Behörden.

Zur Kontrolle der Durchführung wurde von der Genfer Konferenz eine internationale Kommission eingesetzt: je ein Vertreter Indiens, der den Vorsitz führt, Kanadas und Polens. Diese Kommission sollte ihre Kontrolltätigkeit durch eine größere Zahl von Ueberwachungsgruppen ausüben, die paritätisch aus Offizieren der drei genannten Nationen zusammengesetzt ist. Bei Zwischenfällen oder Vertragsverletzungen, die von der intervenierenden Ueberwachungsgruppe nicht bereinigt werden können, hat die internationale Kommission einzugreifen. Sollte es auch ihr nicht gelingen, die dem Vertrag entsprechende Ordnung herzustellen, oder würde sie bei der Erfüllung ihrer Obliegenheiten in vertragswidriger Weise behindert, dann hat sie, laut Artikel 43, „die Teilnehmer an der Genfer Konferenz in Kenntnis zu setzen“.

Wie sieht es nun mit der Durchführung dieser Bestimmungen aus?

Während den Bewohnern der südlichen Zone, die nach dem kommunistisch beherrschten Norden übersiedeln wollen, keinerlei Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden und sie die behördliche Unterstützung finden, die der Waffenstillstandsvertrag vorschreibt, ist von einer Beobachtung dieser Bestimmungen nördlich der Demarkationslinie so gut wie keine Rede. Und dabei handelt es sich bei den Südvietnamesen, die es nach dem Herrschaftsgebiet des Vietminh zieht, um Dutzende oder Hunderte, indes die Bewohner der nördlichen Zone, die bereit sind, das Letzte aufs Spiel zu setzen, um auf den Boden des freien Vietnam zu gelangen, nach Hunderttausenden zählen.

Einem Teil dieser unübersehbaren Schar, einigen Zehntausenden, ist die Flucht nach dem Süden wohl geglückt, aber nur unter Schwierigkeiten und Opfern, denen die Kräfte der großen Mehrzahl eben nicht gewachsen waren. Um die Abwanderung zu verhindern, wendeten die Organe des Vietminh-Regimes vom ersten Tage an Drohungen und massive Propagandamittel, ja offene Gewaltmaßnahmen an. Die Straßen zu den Demarkationslinien wurden durch reguläre Truppen oder kommunistische Lokalmilizen blockiert oder durch Minen unpassierbar gemacht; allen Besitzern von Land- oder Wasrer-transportmitteln wurde bei strenger Strafe verboten, Flüchtlinge zur Beförderung aufzunehmen; viele der für ein Fortkommen im Tonkingdelta unentbehrlichen Boote und Fähren wurden kurzerhand beschlagnahmt und fortgeschafft; Leute, die als Führer von Flüchtlingsgruppen in Betracht kommen konnten, warf man ins Gefängnis; wer der Absicht der Abwanderung nach dem Süden verdächtigt wird, darf seine Hütte oder sein Stück Feld nicht verkaufen, so daß es ihm oft unmöglich ist, sich die notwendigen Geldmittel für die Kosten seiner gefahrvollen Reise zu beschaffen; ein Flüchtling, der, bevor er freies Land erreichen konnte, durch bewaffnete Gewalt oder Hunger in sein Heimatdorf zurückgetrieben wird, findet den Besitz, den er verließ, bereits ins „Volkseigentum“ überführt und sich selbst damit zur Zwangsarbeit verurteilt; oft werden Kinder den Armen ihrer Mütter entrissen oder Ehegatten gewaltsam getrennt, um so die Fluchtabsicht einer Familie zu vereiteln; gar nicht zu reden von dem rücksichtslosen Waft'en-gebrauch, durch den Vietminh-Truppen ungezählte Flüchtlinge, die in schwanken Booten bereits die hohe See erreicht hatten, zur Rückkehr in den kommunistischen Herrschaftsbereich gezwungen haben.

Wie von vornherein zu befürchten war, erwies sich die Einsetzung einer Kontrollkommission, der auch bei den schlimmsten Verstößen gegen die in Genf getroffenen Vereinbarungen als letztes Mittel der Korrektur bloß das Recht zusteht, „die Teilnehmer der Genfer Konferenz in Kenntnis zu setzen“, praktisch als nahezu wertlos. Daran hätte sich auch kaum etwas geändert, wenn ihre Tätigkeit und die ihr unterstellten Ueberwachungsgruppen nicht so häufig durch den Umstand lahmgelegt worden wäre, daß die kanadische Vertretung von einer indisch-polnischen „Koalition“ überstimmt wurde. Selbst einhellig gefaßte Beschlüsse der drei Vertretungen konnten oft nicht durchgeführt werden, weil die Organe des Vietminh-Regimes jede Mitwirkung verweigerten. So gab die internationale Kommission im September Plakate in französischer und vietnamesischer Sprache heraus, um die Bevölkerung auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Südlich der Demarkationslinie wurde dieses Plakat allerorts angeschlagen, in der Vietminh-Zone aber hat noch niemand auch nur ein Exemplar der Kundmachung gesehen. Auch werden dort die Ueberwachungsgruppen so gründlich von der Bevölkerung ferngehalten, daß es ihnen nur selten gelingt, sich über den wahren Stand der Dinge zu informieren; die Leute, mit denen sie ins Gespräch kommen können, sind fast immer vou auswärts herangebrachte kommunistische Agenten, getarnt als harmlose Ortsbewohner, die über Befragen natürlich erklären, daß niemand in der Gegend eine Klage über das Regime vorzubringen habe oder gar daran denke, nach dem Süden abzuwandern.

Daß trotz alledem bereits viele Zehntausende von Nordvietnamesen die unsäglichen Mühsale und Gefahren einer Flucht nach dem Süden auf sich genommen haben, obwohl sie genau wissen, daß dort kein Eldorado ihrer harrt, beweist mit erschütternder Deutlichkeit, wie unerträglich das Leben in der dem Vietminh überlasse-nen Zone geworden ist, und zwar unerträglich nicht nur, wie vielfach angenommen wird, für den katholischen Bevölkerungsteil, Die Aussagen viele Tausender von Flüchtlingen, darunter auch vieler Nichtchristen, gehen übereinstimmend dahin, daß allein die persönliche Rechtlosigkeit, die unter dem Vietminh-Regime herrscht, und sein System der Zwangsarbeit, der Massendeportierung und der wirtschaftlichen Ausbeutung genügt hätten, um den Entschluß zur Flucht reifen zu lassen. Aber den Zehntausenden, denen die abenteuerliche. Fahrt in die Freiheit geglückt ist, steht die weit größere Zahl jener gegenüber — nach den vorsichtigsten Schätzungen beläuft sie sich auf etwa eineinhalb M i 11 i o n e n — die das gleiche Wagnis unternehmen wollen, aber bisher nicht imstande waren, die Hindernisse zu überwinden. Das wird den allermeisten von ihnen auch in der noch verfügbaren knappen Zeit bis zum 19. Mai nicht gelingen, soferne die Signatarmächte der Genfer Konferenz, die dort als Mandatare der freien Welt aufgetreten sind, sich nicht ungesäumt und ohne Rücksicht auf andere sie bedrängende Probleme mit voller Kraft für die strikte Beobachtung sämtlicher Klauseln der Genfer Waffenstillstandskonvention einsetzen. Werden diese Mächte ihrer in Genf übernommenen formellen und moralischen Verpflichtungen gerecht werden, oder wollen sie untätig zuwarten, bis sich für die unglücklichen Nordvietnamesen das letzte Tor in die Freiheit geschlossen hat? Im letzteren Falle würde das schon so tief gesunkene Ansehen des Westens in den Augen der asiatischen Völker neuerlich einen Schlag empfangen, der nicht wiedergutzumachen wäre.

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