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Das Wagnis zum Wort

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Werden Marxismus und Kapitalismus in ihrer Wechselwirkung dauernd und immer mehr das christliche Abendland aufspalten können? Große Massen der industriellen Arbeiterschaft sind dem Christentum soweit entfremdet worden, daß zu ihnen kaum mehr Stege hinüberzuführen scheinen, über die man sich zu gemeinsamem Verstehen nähern könnte. Davon, daß diese Trennung durchbrochen werde, hängt nach menschlichem Ermessen die Schichsalsgestakung der Völker ab. Auf die Unternehmen, den Durchbruch zu vollziehen, sind verschiedene Antworten und auch Kritiken erfolgt. Eine gültige Methode kann schwerlich allgemein gefunden werden; sie wird immer örtlich, von der Gelegenheit und der Art der Menschen bestimmt sein und vor allem von dem, der dazu begnadet ist. Immer wird man solchen Wagnissen, die aus gewissenhafter Erwägung und ernsthaft empfundener Berufung kommen, Achtung zollen und den Mut anerkennen, der sie begleiten muß. Vor allem gilt es, Erfahrungen zu sammeln. In den letzten Wochen wurde in Wien neuerdings ein Versuch unternommen, über den „Die Furche“ hier berichtet. ^

Die Maiandacht ist ein derartiger traditioneller Wiener Brauch, daß selbst Leute, die das ganze Jahr keine Kirche sehen, sich zu einer und der anderen Maiandacht einfinden. Dem von dem Wiener Arbeiterapostel P. Schwanz (gest. 1929) gegründeten Wiener Arbeiterorden (im Volksmund nach dem Ordenspatron St. Kalasanz allgemein der „Kalasantiner“ genannt) war es darum zu tun, zum erstenmal seit Kriegsende mit dem der Kirche fernstehenden Teil der Arbeiterschaft in Fühlung zu kommen. Daß es, wenn zwei Pole sich nähern, Funken gibt, ist naheliegend. Durch einige Tage gab es sogar Kurzschluß. P. Bredendick, weiten Kreisen durch die seinerzeitigen Skizzen aus der Arbeiterseelsorge in der Pulverfabrik Blumau bekannt, war von der Ordensleitung mit der Durchführung der „Maiandacht der Arbeiter“ betraut worden. Er wählte als Thema der 31 Predigten: Das Tagebuch Mariens und die Lebensprobleme von heute. Die Zuhörer aus Arbeiterkreisen wurden gleich in den ersten Maitagen aufgefordert, in Briefen an den Prediger darzulegen, welche Probleme sie am dringendsten behandelt wünschen und auch andere, namentlich die bisher der Kirche Fernersteh?nden, zu dieser offenen Aussprache einzuladen.

Bald brach es wie glühende Lava aus einem Vulkan hervor: alles, was der Kirche fernstehende Arbeiter schon lange einmal deutlich sagen wollten Arbeiter und Arbeiterinnen setzten sich nach Feierabend hin und schrieben sich alles vom Herzen, mit Bleistift und Tinte, seitenlang. Bis so mancher Arbeiter sich zum Schreiben bequemt, das kostet etwas, aber diesmal mußte es sein, sonst versäumte er, sein Herzensthema noch im Mai unterzubringen. Die Briefe kamen zuerst mit der Post, dann wurden .ie, damit es schneller ging, in der Sakristei abgegeben Einige trugen die Briefe bei sich, aber wollten keine Sakristei betreten. „Nur in die Kirche — weiter gehen wir nicht!“ Da kamen die Arbeiter auf den Gedanken, ein Schnellpostamt in der Kirche selbst zu errichten. Ein Arbeiter ging während der Maiandacht die Massen ab und sammelte in einem Körbchen die Briefe an den „Maiprediger“ ein. So gelangten sie unmittelbar gleich nach der Andacht in dessen Hände. Und selbst da schrieben noch manche auf den Umschlag: „Dringend!“

Man hätte nun meinen können und so ziemlich sicher erwartet, daß die Arbeiterschaft die Behandlung sozialer Fragen und die Stellung der Kirche überhaupt zur Arbeiterfrage erörtert wünscht. Es hatte auch der Prediger den Vorschlag gemacht, auf Wunsch über die päpstlichen Rundschreiben zur Arbeiterfrage zu sprechen. Von sämtlichen während des ganzen Monats abgegebenen Briefen verlangte nicht ein einziger die “Erörterung dieser Probleme. Die Lösung sozialer Probleme überläßt der Arbeiter seiner Gewerkschaft und seiner Partei. Er hat schon das Vertrauen, daß er sich das selbst richten kann. Auch in charitativer Beziehung wurde nicht die geringste Forderung gestellt. Nein, da weiß mancher schon, daß von der Kirche allerlei an Liebeswerken geschieht. Zunächst am dringendsten wurde aber verlangt, über persönliche Lebensführung und Fragen der Ethik zu sprechen, vor allem das Problem der Probleme, das den Arbeiter am meisten in Konflikt mit der Kirche bringt und weshalb er sie einfach ablehnt — die sexuelle Frage. Hic Rhodus, hic salta! „Werden Sie darüber offen und von Grund aus mit uns sprechen?“ Es wurde daraufhin sofort schon für den 5. Mai das Thema an-gesagt.

Die Kategorie der Fernstehenden fragte:

Was geht unser persönliches sexuelles Leben und mein Eheleben die Kirche an? Sie sagten meist drastischer: Was geht das den Pfarrer an? Wir sehen es nicht gern, daß unsere Frauen bei euch beichten sollen. Die Beichte habt doch nur ihr Priester erfunden. Wer bestimmt das, daß im sechsten und neunten Gebot alles schwere Sünde ist?

Eine andere Kategorie erklärte: Warum hat man uns in diesen Dingen so „vertrottelt“ aufwachsen lassen? Warum mußten wir uns aus trüben Quellen erst die Aufklärung holen? Wir wissen bis heute noch nicht, was ist im sechsten und neunten Gebot Sünde, was nicht? Was ist in der Ehe erlaubt oder noch erlaubt, was nicht? Beschwerde: Wir haben nie im Religionsunterricht, auch nicht im Brautunterricht etwas Gescheites darüber erfahren. Warum hat man uns den „Weg in den Himmel“ in dieser Hinsicht so schwer gemacht?

Beide Kategorien: Wollen Sie im Anschluß daran uns etwas über Willensfreiheit sagen? Und wie weit ist der menschliche Wille frei? —

In einem Vortrag von 50 Minuten Dauer wurden zusammenfassend die Fragen beantwortet: Es kamen gleich nachher die Zettel: „Sie haben zu kurz gesprochen, manches nur gestreift. Eine Stunde Vortrag ist gewiß nicht zuviel.“

Es ist vielleicht kein Stand, der sosehr an seinen Kindern hängt wie gerade der Arbeiter. Die sozialistischen Kinderorganisationen zeigen es. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß neben den Fragen der persönlichen Lebensführung sofort Fragen der Pädagogik an zweiter Stelle standen. , Für diese Fragen hat der Arbeiter eine ganz große Aufgeschlossenheit. Deshalb die sorgenvolle Frage: Wie sag ich's meinem Kinde? — Gleich am folgenden Tag, 6. Mai, wurden die Fragen der Sexualpädagogik besprochen, daß es keine eigene „sexuelle Erziehung“ gibt, sondern daß sie ein integrierender Teil der Gesamterziehung ist; daß es eine eigene sexuelle Not der Jugend nicht gibt, sondern diese immer ein Signal ist, daß das Kind und der Jugendliche mit den Problemen des Lebens nicht fertig wird, daß sexuelle Freude nur „Ersatzfreude“ ist; daß man mit rein natürlicher Pädagogik nicht zurechtkommt und die Gnadenhilfe etwas Wesentliches in dieser „Not“ ist. Und daß Gnade eine Wirklichkeit ist!

„Wollen Sie einmal die reifere Jugend zu unserer Andacht zulassen, um uns zu zeigen, wie man zur Jugend darüber spricht? Wir schicken unsere Burschen und Mädeln. Geht das?“

Mittwoch, der 7. Mai, wurde dazu bestimmt.

Unter den Zuhörern befanden sich neben Jugendlichen aus allen sozialen Schichten eine Reihe Ärzte, Krankenpflegerinnen, Fürsorgerinnen der normalen und der Ge-fährdetenfürsorge, Mittelschulprofessoren und Jugendseelsorger. Man rang ja um eine wichtige Erfahrung.

Die Wirkung war die einer Atombombe. Daß ganz Wien davon sprach .ist nicht übertrieben. Ein Teil der Jugend war hochrot dagestanden, lehnte sogar entrüstet ab, ungewohnt, ein solches Thema in offener Sprache behandelt zu hören. Ein Teil machte später nicht mehr mit. Erfahrene Jugendseelsorger, die mehr mit der „Jugend am Rande des Lebens“ und der „Jugend von heute“ in Berührung sind, sagten: „Das ist die Kirche in Wien, die dieses aktuellste Jugendproblem in Angriff nimmt.“ Ärzte waren von der Darlegung gepackt, manche ergriffen: „Wir hätten es medizinisch kaum besser, feiner aber gewiß nicht sagen können.“ Ärzte und Jugend, noch in Diskussion über den Film „Schleichendes Gift“, sahen hier das ideale Gegenstück der Aufklärung: die Frau als „Gottes Werkstatt“, an der Schöpfungskraft Gottes teilnehmend: „Lasset uns den Menschen machen!“. Die weltlichen Krankenpflegerinnen fanden es „ausgezeichnet“, Fürsorgerinnen schrieben, daß sie jeden Satz nicht nur einmal, sondern zehnmal unterstreichen. Die „fernstehende Jugend“ aber war gepackt, vor allem aber von einem Alpdruck befreit. Endlich einmal aus reiner Quelle!

Das Schnellpostamt der Kirche - hatte in den nächsten Tagen Briefe voll Entrüstung, Briefe voll Verwirrung und Verzweiflung, Lebensbekenntnisse, Briefe voll Dankbarkeit und heller Begeisterung zu befördern. In allen Geschäften und auf dem Markt war es Tagesgespräch. Daß es auch nichtverstehende und witzelnde Außenseiter gab, ist begreiflich. Sie bildeten aber die kleinste Gruppe. Entrüstete schrieben an den Kardinal und machten Vorstellungen. Auch an den Prediger kamen einige Schreiben: „Sie schaden der Kirche mehr als sie nützen.“ Selbst bei den Kalasantinerpriestern waren anfänglich die Meinungen über dieses „Experiment“ geteilt.

Mit Rücksicht auf die Wünsche der Arbeiterschaft billigte der Kardinal von Wien, daß bis Ende Mai noch weitere Probleme, die von den Zuhörern vorgeschlagen wurden, auf der Kanzel besprochen wurden. Der Massenbesuch steigerte sich derart, daß die Kirche die Zuhörer nicht mehr zu fassen vermochte und viele auf der Straße standen.

Das Gesamtergebnis: Es hat sich gezeigt, daß Seelsorger und Arbeiter durch liebevolles Verstehen, Offenheit und mutiges Erfassen der Lebensnöte des arbeitenden Menschen zueinander finden.

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