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Das wahre Gesicht 1938 bis 1945

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Bescheidenheit am unrechten Ort hat dem Österreicher schon oft einen Streich gespielt. Aber so fehl am Platz war sie noch kaum, wie in der ersten Zeit nach der Befreiung, da es Aufgabe gewesen wäre, dem Auslände das wahre Gesicht Österreichs zu zeigen. Es wäre naheliegend gewesen, an erweisbaren Tatsachen den tiefen Trennungsstrich zu offenbaren, den das Volk, längst bevor das Geschehen auf den Schlachtfeldern das nahende Schicksal der Usurpatoren erkennen ließ, zwischen sich und jenem fremden Wesen gezogen hatte, dessen Sitten und Umgangsformen so sehr der österreichischen Art widersprachen, daß sie rasch zu einer Abwehrstellung herausforderten. Selbst bis in die Kreise österreichischer Nationalsozialisten hinein reichte diese heftige Reaktion, bei diesen unterstützt durch'' die Enttäuschung fast naiver Erwartungen. Dieser instinktiv ausbrechende Widerstand äußerte sich bekanntlich in gesellschaftlichen Gegensätzen, in Boykott und gewaltsamen Entladungen, die in verschiedenen Städten die deutschen Militärbehörden zwangen, den Verkehr von Wehrmachtsangehörigen auf bestimmte Gaststätten zu beschränken. Das war der unorganisierte, aus naturhaften Motiven kommende Widerstand, der sich bis zu gegenseitiger Erbitterung steigerte.

Viel gewichtiger war jedoch die o r g a n i-sierte Abwehr, die bald aus verschiedenen Lagern her einsetzte. Man hat es bisher auf österreichischer Seite versäumt, eine zusammenfassende quellenmäßige historische Darstellung zu geben, ein Unterlassen, das manche schädliche Mißdeutungen erklärlich macht. Es ist gut, daß jetzt ein Berufener, Dr. Hans Becker, der nach seiner Rückkehr aus langer Haft in Konzentrationslagern, organisatorisch sich dieser Widerstandsbewegung widmete, in einem Vortrag* dieses Schweigen gebrochen hat. Zum erstenmal wurden hier Zahlen genannt, die in ihrem erschütternden Ausmaß auch im Auslande nicht unbeachtet bleiben können.

Es sind globale Ziffern, die da genannt wurden, wie es nicht anders sein kann, wo die aktenmäßigen Unterlagen überall von Gestapo und SS tagelang vor ihrer Flucht verbrannt wurden und die Vorsicht verboten hatte, andere Verzeichnisse zu führen. Aber daß diese Ziffern von Übertreibungen frei sind, weiß jeder, der die roten Maueranschläge mit den Namen der zum Tode Verurteilten und die nie rastenden Blutgerichte der Gewalthaber verfolgen konnte, die im Wiener Landesgericht immer acht bisf fünfzehn Opfer auf einmal dem Henkerbeil überlieferten und immer rasender wurden, je höher ihre verzweifelte Aussichtslosigkeit stieg. Dr. Becker teilte mit, daß insgesamt 4 0. 000 österreichische Wehrmachtsangehörige zum Tode verurteilt wurden, davon allein 6000 vom Volksgericht Wien. In Buchenwalde und Mauthausen waren je 40.000, in Dachau 20.000 Österreicher gefangen. Seit den ergreifenden, in ein „Gott schütze Österreich“ ausklingenden Worten, die der letzte österreichische Kanzler am 11. März 1938 sprach, bis zur Depesche Hitlers in den ersten Apriltagen 1945, die anordnete: „Gegen die Aufständischen in Wien mit den brutalsten Mitteln eingreifen“, ist der Widerstand der österreicher gegen das aufgezwungene Regime niemals erlahmt. Es bedurfte nicht erst der Deklarationen von Moskau und Jalta, die nur von seitefi der Großmächte bestätigten, was schon lange klar zutage getreten war, um zu zeigen, auf welcher Seite der Platz des freiheitsliebenden Österreichs sei.

Sofort nach der gewalttätigen Annexion Österreichs füllten sich im März 1938 die Gefängnisse bis zum letzten Winkel m i t rund 7 0.0 0 0 Österreichern. Die ersten drei Transporte nach Dachau hatten die damalige Führe relite erfaßt. Es war in Berlin alles sorgfältig vorbereitet worden, um den österreichischen Widerstand im Keime zu ersticken und in den führerlos gewordenen Massen Schrecken und Verwirrung zu verbreiten. Es wurde von da ab ein weiter Weg von den ersten durch die Gestapo immer wieder zu Fall gebrachten Widerstandsgruppen bis zur Vereinigung aller Freiheitskämpfer in der Organisation „O 5“. Als erster Staat Europas war Österreich im Juli 1934 dem Mythos des Dritten Reiches mit der Waffe in der Hand entgegengetreten und 600 Österreicher mit ihrem Kanzler an der Spitze bildeten die Avantgarde der Millionen Opfer, die in den darauffolgenden elf Jahren dem unheilvollen System außerhalb Deutschlands zum Opfer fielen. Von einer in sich selbst unschlüssigen Welt verlassen, kämpfte Österreich auf eigenem Boden doch solange aHein weiter, bis die gewalttätige Agression auch den - anderen Staaten die Augen öffnete. Freikorps „W“, Dr. Jakob K a s t e 1 i c, Roman Scholz, Gerhard Fischer-L e d e n i c e, bis zu den letzten Opfern des Freiheitskampfes, Oberleutnant R a s c h k e, Hauptmann H u t h und Dr. Walter Barth — Anfang und Ende einer unübersehbaren Reihe von Kämpfern, die ihr Leben ihrer Heimat am Richtblock und unter den Kugeln hingaben!

Mit Fug konnte Dr. Becker zum Abschluß sagen: „Es geht manches sehr langsam. in Österreich, selbst die Anerkennung der Toten. Aber sie wird kommen und muß kommen um unseres Vaterlandes willen, das mehr gelitten hat und mehr leidet als viele andere Länder, sie muß kommen um unseres Volkes willen, das endlich einmal leben soll in einem freien Österreich und dieses Recht verdient hat.“

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