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Digital In Arbeit

Das Wechselfieber der Wirtschaft

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Die Arbeitskonflikte verursachen soziale Störungen und materielle Verluste, deren Ausmaß nicht genau erfaßt werden kann. Ihre psychologischen Rückwirkungen, die Spannungen, die dem offenen Konflikt vorausgehen und die eine anhaltende Arbeitsniederlegung hinterläßt, können zahlenmäßig überhaupt nicht ausgedrückt werden. Ebenso entziehen sich die Nebenwirkungen wirtschaftlicher Art einer genauen Errechnung. Die großen politischen Streiks in Frankreich in der Zeitspanne von 1947 bis 1949 haben z. B. den Tourismus bis weit in die Jahre 1950/51 beeinträchtigt, doch läßt sich der Verlust nicht errechnen.

Hingegen bemüht sich das Internationale Arbeitsamt (IAA), Genf, zumindest die Anzahl der verlorenen Arbeitsstunden zu ermitteln. Ihre Statistik erfaßt nur die Länder der freien Welt, weil in den autoritär verwalteten Ländern Arbeitsunterbrechungen verboten sind und nur in äußerst seltenen Fällen Vorkommen; dann nehmen sie die Form von Aufständen an (Ost- Berlin, Posen, Budapest). Unter den Ländern der freien Welt führen nur 28 genaue Statisti-

ken über die Arbeitskonflikte, doch handelt es sich um die wichtigsten unter ihnen, so daß die ausgewiesenen Zahlen einen guten Ueber- blick über die Schwankungen der Arbeitskonflikte bieten. Das Bild erinnert an gewisse Epidemien, die nie ganz verschwinden, aber — aus Gründen, die die ärztliche Wissenschaft noch nicht genau kennt — manchmal beso lers heftig auftreten, um sich hernach für einige Zeit abzuschwächen.

Insgesamt gingen der Welt in der sieben Jahre umfassenden Periode von 1949 bis 1955 rund 500 Millionen Arbeitstunden ver’ ren, und an die 75 Millionen Arbeitnehmer ' aren an der Unterbrechung der Arbeit beteilig Die Kurve bewegte sich zwischen zwei sehe . gezogenen Grenzlinien:

Die untere Grenze scheint also bei 50 Millionen Arbeitstagen zu liegen, wogegen die 100-Millionen-Marke dreimal annähernd, aber nie ganz erreicht wurde.

Ein direkter Zusammenhang zwischen den Verlusten an Arbeitstagen und den allgemeinen politischen oder sozialen Umständen läßt sich aus der Zahlenreihe nicht herauslesen. So z. B. waren die Jahre 1953/54 eine Zeitspanne verflachender Konjunktur (die Verschiedenheiten von einem Land zum anderen können hier nicht berücksichtigt werden), und die Logik besagt, daß die Arbeitnehmer bei rückläufigem Geschäftsgang keine Arbeitskonflikte riskieren. Dementsprechend waren die Zahlen der Verlusttage damals sehr niedrig, aber 1949 war ein Jahr ausgesprochen nachlassender Konjunktur, und es wurden sogar Befürchtungen laut, daß die Welt einer Wirtschaftskrise entgegensteuert; dennoch waren die Arbeitnehmer kampffreudig. Anderseits stand das Jahr 1951 im Zeichen der Koreakottjunktur, was die Arbeitnehmer nicht zur Durchsetzung von neuen Lohnforderungen benützt haben.

Die Untersuchungen der IAA haben auch kein genaues Verhältnis zwischen den geleisteten und den verlorenen Arbeitstagen ermitteln können, weil die ersteren nur in sehr wenigen Ländern genau erfaßt werden. Für die Vereinigten Staaten werden für das Jahr 1954 0,2 Verlusttage für je einen Werktätigen angegeben, da 12 Milliarden Arbeitstagen 22 Millionen Streiktage gegenüberstanden. Die Veröffentlichung fügt noch hinzu, daß es nur vereinzelt zu so ausgedehnten und lang anhaltenden Arbeitskonflikten kommt, daß der Verlust in dem einen oder anderen Lande bis zu einem vollen Arbeitstag pro Arbeitnehmer heranreicht. Ferner wird betont, daß die Verluste durch Krankheiten und durch unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit (Bergwerke!) immer und überall weit größer sind als durch Arbeitskonflikte. In England betrugen im Jahre 1945 die Verluste aus dem ersteren Grunde 15,6 Arbeitstage im Durchschnitt aller Arbeitnehmer, wogegen selbst im Großstreikjahr 1944, in dem in England mehr Arbeitstage verloren gingen als in irgendeinem anderen Jahr früher oder seither, nur 0,2 Arbeitstage pro Arbeitnehmer von Streiks verschlungen wurden.

Ein Versuch des IAA, die Verluste an Arbeitstagen nach den Streikursachen zu trennen, scheiterte daran, daß nur wenige Länder genaue Unterscheidungen vornehmen. Manchmal sind die Ursachen verdeckt oder werden sie offiziell nicht zugegeben, wie bei politischen Streiks, denen durch irgendwelche untergeordnete Forderung der Charakter eines Lohnstreiks gegeben wird. Manche Streiks wechseln im Laufe der Arbeitspnterbrechung ihr Ziel: aus einem Lohnstreik kann ein Konflikt wegen der Entlassung der Anführer entstehen.

Für die Auswirkungen der Streiks auf das Wirtschaftsleben des Landes (ausnahmsweiseauch auf weitere Länder) sind die Dauer der Arbeitsniederlegung und die Sparte des Wirtschaftslebens maßgebend. Das IAA verweist darauf, daß eben jene Streiks, die die größte Anzahl von Arbeitern erfassen, oft von Anbeginn nur für einen Tag angekündigt werden (politische Streiks, Warnungsstreiks). Manchmal wird die Arbeit sogar nur für eine Stunde unterbrochen. Dagegen währen manche Streiks mehrere Wochen hindurch, so z. B. im Jahre 1955 der große, aber lokalisierte Streik in einer amerikanischen Großunternehmung der Elektroindustrie, der an die acht Monate gedauert hat; auch der Streik der Metallarbeiter in Schleswig- Holstein zählt zu diesen Fällen. Man ersieht die Bedeutung dieses Faktors, indem man die Zahlen während des Jahres 1954 für die Streikbeteiligung und für den entstandenen Verlust an Arbeitstagen vergleicht.

Am aufschlußreichsten ist die Zusammenstellung der IAA in bezug auf die geographische Verteilung der Arbeitskonflikte (in 19 Ländern und in den vier wichtigsten Erwerbszweigen ). Die Zahlen widerspiegeln die Entwicklung in der Zeitspanne 1947/54, im Falle der Deutschen Bundesrepublik und Italiens aber nur seit 1949. Es sind fast bei jedem Land zeitlich verschieden ruhige und bewegte Jahre festzustellen. In Frankreich wurden im Jahre 1947 fast zweimal so viele Arbeitstage, berechnet auf je 1000 Arbeitnehmer, verloren als in dem nächstschlechtesten Jahr, sonst war 1947 nur in Kanada, der Schweiz, Dänemark, der Südafrikanischen Union und in Indien ein Streikjahr. Das darauffolgende Jahr verlief ruhig, wogegen im Jahre 1949 Italien und Holland ihr schlechtestes Jahr hatten. Im Jahre 1050 erlebte Finnland einen Großstreik und auch Australien und Belgien verzeichneten damals ihre Höchstzahl. Im Jahre 1951 wurde Neu-Zeeland durch einen Großstreik heimgesucht, ferner haben die Deutsche Bundesrepublik und Schweden größere Arbeitskonflikte zu verzeichnen gehabt. Sehr unruhig war 1952, als die Vereinigten Staaten, Irland, Japan und Norwegen ihr Nachkriegshoch erreichten. J.953 war wieder ein ruhiges Jahr und im Jahre 1954 waren auch nur in England große Arbeitsunterbrechungen zu verzeichnen.

Aus obiger Zusammenstellung kann man eine Anzahl von Folgerungen ziehen. In einigen Ländern sind besonders heftige Streiks vor sich gegangen (Kolonne II). Gegenüber dem Durchschnitt der Beobachtungsperio.de verzeichnete das schlechteste Jahr im Falle Dänemarks das 7,2 fache an Verlusttagen und fast ebenso groß war das Mißverhältnis bei der Südafrikanischen Republik. In Finnland verursachte ein schlechtes Jahr 6,3 mal höhere Verluste als der Durchschnitt. Demgegenüber verlief die Entwicklung in allen anderen Ländern viel gleichmäßiger. Schaltet man die Zufallsvorgänge aus (Kolonne III), so sind für je 1000 Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten die meisten Arbeitstage verlorengegangen. Indien, Frankreich und Australien zählen noch zur „Spitzengruppe“. Das klassische Land des Streiks, Frankreich, erscheint immerhin rehabilitiert. Am unteren Ende der Tabelle findet man sieben Länder — davon sechs europäische —, wo der soziale Frieden weit besser gesichert war als sonstwo in der freien Welt. Ferner ersieht man, wie stark die Streiks lokalisiert sind und wie schwer sie auf einzelnen Belegschaften und Unternehmungen lasten können. Im Jahre 1954 entfielen in den Vereinigten Staaten die Verluste an Arbeitstagen auf nur 1,5 Millionen Arbeitnehmer (aus insgesamt 40 Millionen) mit einem Durchschnittsverlust von 15 Arbeitstagen. (Für die übrigen Länder werden in der Studie die Zahlen gesondert nicht angeführt; gesamthaft waren es 1,6 Millionen Arbeitnehmer, die 9,3 Millionen Arbeitstage verloren haben, was einen Durchschnitt von nicht ganz sechs Tagen ergibt.) Streiks wirken wie Hagelschäden in der Landwirtschaft. Verteilt auf die gesamte Fläche ist der Schaden tragbar, in manchen Jahren sogar gering, aber „wem es just passieret“, der leidet schwer darunter.

Die Studie des IAA zieht keine Schlußfolgerungen aus dem zusammengetragenen Zahlenmaterial. Dem Beobachter aber drängt sich die Bemerkung auf, daß man es hier mit einer sozialpolitischen Erscheinung zu tun hat, die wir nicht meistern können — und auch nie können werden —, weil sie in seelischen Vorgängen fußt. Die Zufallsmäßigkeit, die sich daraus ergibt, führt zu Ungerechtigkeiten, die der einzelne durch keine Maßnahme, Vorsicht usw. abwenden kann. Das Problem müßte daher versicherungstechnisch intensiver erforscht werden. Die Arbeitnehmer tun dies sek Jahrzehnten, indem sie Beiträge leisten, um in Streikzeiten aus den Ersparnissen aller Arbeitnehmer des Berufszweiges (manchmal auf Solidaritätsgrundlage auch durch Arbeitnehmer anderer Berufszweige und sogar anderer Länder) ein Taggeld zu entrichten. Das hat natürlich den Nachteil, daß die Arbeitnehmer sich anfänglich auf Bedingungen versteifen, von denen sie im späteren Laufe manchmal abkommen müssen. Aus dem gleichen Grunde wäre es gefährlich, auf der Ebene der Arbeitgeber eine generelle Risikoverteilung ins Auge zu fassen. Hingegen wäre es wirtschaftlich richtig und moralisch durchaus vertretbar, indirekte Streikschäden zu versichern, die durch die Arbeitsniederlegungen in anderen Werken verursacht worden sind, auf die das eigene Werk — weder die Leitung noch die Belegschaft — einen Einfluß ausüben kann. So wichtig dies im Einzelfalle sein mag, wäre aber vor allem die vorbeugende Schlichtung auszubauen, denn auch ein Verlust von nur 0,2 Prozent ist unverantwortlich, wenn er nicht durch eine Naturkatastrophe oder ein unabwendbares Ereignis hervorgerufen wurde, sondern durch soziale Gegensätze. Denn letzten Endes muß jeder Streik beigelegt werden (ebenso wie jeder Krieg irgendwie ein Ende nehmen muß). Es fehlt nicht an Versuchen, den internationalen Konflikten zwischen den einzelnen Mächten durch obligatorische Schlichtungsverfahren vorzubeugen und auf gewisse Kampfformen durch gegenseitiges Abkommen zu verzichten. Dies sollte als Wegweiser dienen, um die Arbeitskonflikte auf der einzelstaatlichen Ebene — -wo die Beachtung der Schlichtungsregeln auch tatsächlich erzwungen werden kann! — zu lösen, bevor sie Verluste verursachen.

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