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Das wirkliche Südtirol

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Auf einen Brief von Chruschtschow an de Gaulle in dem ersterer den Verzicht auf Gewaltanwendungen zur Regelung territorialer Streitigkeiten gefordert hatte, chrieb de Gaulle:

„Wir gehen in der Definition und tn der Anwendung des Begriffes friedliche Regelung” von Streitigkeiten zwischen Staaten weiter als Sie. Wir sind der Ansicht, daß dieses Prinzip durch ein zweites ergänzt werden muß, das seit langer Zeit von Frankreich als wesentlich betrachtet wird, und das ist die Selbstbestimmung aller Völker.”

Auch die Charta der Vereinten Nationen hat das Selbstbestimmungsrecht recht eindeutig anerkannt.

Der international höchst angesehene Schweizer Völkerrechtslehrer Buntschli, der Gründer des Instituts für Völkerrecht in Gent, schreibt in seiner Staatslehre, Seite 103:

„Wird eine Nation in ihrer sittlichen und geistigen Existenz von der Staatsgewalt angegriffen, so sind ihre Genossen zum höchsten Widerstand dagegen veranlaßt. Es gibt keine gerechtere Ursache zur Auflehnung wider die Tyrannis als die Verteidigung der Nationalität.”

In dem Artikel „Das innerste Südtirol” schrieb Claus Gatterer in der „Furche” Nr. 13 und 14/1965 in einem Auszug aus einem vor Südtiroler Hochschülern in Wien gehaltenen Vortrag:

„Die italienischen Regierungen zwischen 1922 und 1953 erzeugten im Lande genau jene Situation, die nationale Explosionen begünstigt, ja geradezu provoziert. Das Land, die Dörfer gehören deutschen und ladinischen Tirolern, die Städte den Italienern. (1918 waren 3 Prozent oder rund 7000 Italiener in Südtirol.)”

Gott sei Dank trifft der Vergleich Gatterers noch nicht zu, in dem er die Situation der Slowenen in den Tälern des slowenischen Venetien, die sich auf verlorenem nationalen Posten befinden, mit dem der Südtiroler vergleicht. Aber ein mögliches Zukunftsbild zeichnet er und läßt damit das gleiche Schicksal der deutschen Tiroler im Trentino anklingen, das Chefredakteur Wurzer der „Dolomiten” nachgewiesen hat.

Autonomie: hier und dort

Dabei hat Papst Johannes XXIII. immer wieder den Schutz des Volkstums betont; hat der Prager Erzbischof Beran kürzlich in Wien festgestellt, daß nur aus der Einheit von Glauben und Volkstum die Kräfte fließen, die ein Überdauern von Drangsalen ermöglichen, und die Haltung des katholischen Polen ist eine glänzende Bestätigung dafür. Ja, sogar die katholischen Bischöfe in Vietnam, die die Gläubigen auf-

fordem, für den Frieden zu beten, betonen, daß es sich nicht um einen Frieden um jeden Preis handeln kann; Knechtschaft, Ungerechtigkeit, Unterdrückung können niemals die Grundlagen eines dauerhaften Friedens sein.

Gatterer selbst weist auf die Tatsache hin, daß das Ergebnis aller Bemühungen auch Österreichs, den Südtirolern zu einem gerechten Frieden zu verhelfen, seit 50 Jahren einfach Null ist.

Wenn man diesen Tatsachen die Existenz der Autonomie im Aosta- tal gegenüberstellt; wenn man bedenkt, mit welcher Selbstverständlichkeit Italien für Triest, das doch ein Teil Österreichs war, die Volksabstimmung verlangte; wenn man sich vor Augen hält, welche absolute Italianità im Schweizer Kanton Tessin aufrechterhalten wird, wo es unmöglich wäre, ein anderssprachiges Plakat anzuschlagen, geschweige denn anderssprachige Schulen zuzulassen, und wo jeder, der sich dort niederläßt, automatisch italia- nisiert wird ; wenn man schließlich daran erinnert, daß die reichsitalienische Irredenta mitten im Frieden von Österreich die Freigabe des seit 1000 Jahren zu Tirol und seit 600 Jahren auch zu Österreich gehörigen Trentino an Italien verlangte und diese Forderung „wn des Friedens willen” sogar von Papst Benedikt XV. bei Kaiser Franz Joseph I. unterstützt wurde, wirkt die Feststellung Gatterers auf vollkommenes Fehlschlagen aller Bemühungen erschütternd.

Um so unverständlicher sind darum die sonstigen Ausführungen in diesem Artikel. Wieviel Verwirrung und Verharmlosung dieser Artikel anrichtet, beweist die unter „Briefe an den Herausgeber” in Nr. 16 d. J. der „Furche” veröffentlichte Zuschrift von Dr. Vospemik, Föderlach, Kärnten, „Südtirol — Südkärnten”, wo unter Zustimmung zu den Ausführungen Gatterers behauptet wird, daß es die Slowenen in Kärnten in ihrer nationalen Existenz schwerer haben als die Südtiroler in Italien. Die Schlagseite des Artikels beweist aber schlagend, daß er sogar dem italienischen Staatsanwalt Dr. Bonelli im Südtirolprozeß in Mailand Argumente gegen die Südtiroler geliefert hat.

Vier Thesen

Die Thesen Gatterers sind, aufbauend auf dem Satz „Südtirol liegt heute in Italien” und damit einen klaren Verzicht auf Südtirol aussprechend folgende:

Die Südtiroler können sich ihre kulturelle und wirtschaftliche Existenz nur mehr sichern, ihr freiwillig gewähltes Getto nur dann verlassen, wenn sie:

ihren abwegigen Mythos, die Ver-

ehrung des Rebellen Andreas Hofer, fallenlassen;

• ihre betonte Zugehörigkeit zum Tiroler Volkstum als überholten Nationalismus abtun;

• ihre rechtlichen und machtpolitischen, das heißt ihre Freiheitsbestrebungen zurückstellen und endlich gesellschaftspolitisch, das heißt eben italienisch denken lernen, sich also der Kultur und Wirtschaft Italiens integrieren, wie dies angeblich die Südtiroler Wirtschaftskreise bereits tun;

• der humanistischen Demokratie zum Durchbruch verhelfen.

„Überholter Nationalismus”?

Wenn der Autor den Schweizern empfehlen würde, ihren „Teil- Mythos” als überholten Humbug abzutun, könnte dies ein historisch geschulter Nichtschweizer allenfalls verstehen; in der Schweiz würde der Vorschlag ohne Zweifel Empörung auslösen. Und was möchten die Italiener sagen, wenn Garibaldi als Rebell bezeichnet würde, dessen Verehrung abzulehnen sei!

Dabei muß man sich vor Augen halten: Die Ereignisse nach dem ersten und zweiten Weltkrieg sind genau die gleichen wie zu Napoleons Zeiten, ja sogar noch ärger, weil das 1000jährige Tirol aus rein imperialistischen Gründen gewaltsam zerrissen und unterworfen wurde. Daß man durch den Pariser Vertrag, der bis heute nicht erfüllt wurde und der auch wirklich Illusorisch geworden ist, versuchte, zu retten, was möglich ist, steht auf einer anderen Seite.

Von einem überholten Nationalismus zu sprechen, wo es sich einzig und allein um ein aus der Not geborenes besonderes Bekenntnis zu freiem Volk und freier Heimat handelt, ist unverständlich. Das Volkstum hat seine Aufgabe auf dem Wege zur Vereinheitlichung der Menschheit noch lange nicht erschöpft. Diese Vereinheitlichung kann nur in einer ungezwungenen, freien, gegenseitigen Einfühlung unter Achtung aller echten Werte erfolgen, niemals aber durch Verleugnung oder Unterdrückung erreicht werden.

Das Überleben von Tolomei und Mussolini wäre den Südtirolern nach den Thesen Gatterers nie möglich gewesen. Ein Volk, das seine Geschichte verleugnet oder mißachtet, verliert seine Seele und hat keine Zukunft mehr.

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