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Dauervisum für Kafka?

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Auch in seinen kühnsten Träumen wäre Franz Kafka nicht eingefallen, daß er kurz vor seinem 80. Geburtstag gleichsam zum Panier des innerkommunistischen Widerstandes gegen die neueste Richtung der Moskauer Kulturpolitik erhoben werden würde. Nach Jahren der Verfemung und Verdächtigung als „Obskurantist“ und „Mystiker“ war dem am 3. Juli 1883 in Prag geborenen Dichter nun eine Konferenz auf Schloß Liblice in der Nähe seiner Heimatstadt gewidmet, bei der solche Tendenzen deutlich hervortraten.

Nun erst recht

Die Konferenz war schon seit längerer Zeit geplant gewesen, als gemeinsame Veranstaltung der Institute für Germanistik und für tschechische Literatur in der Prager Akademie der Wissenschaften und des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandcs. Als Gäste waren namhafte Forscher und Schriftsteller aus dem kommunistischen Lager eingeladen. Nach Chruschtschows neuer Offensive gegen die Schriftsteller hatten ängstliche Gemüter schon eine Vertagung des Kongresses empfohlen, die Mehrheit entschloß sich aber, einen „Nun-erst-recht“-Standpunkt einzunehmen. Prominente linksstehende Gelehrte wie der Franzose Roger G a r a u d y, KP-Theoretiker und Professor an der

Sorbonne, wurden geradezu von ihrer Partei gesandt, um anläßlich der Kafka-Exegese allgemein für eine aufgeschlossene marxistische Kulturpolitik zu demonstrieren. Schon bei dem unmittelbar vorher durchgeführten Schriftstellerkongreß in Prag hatte man über Kafka erstaunliche Töne hören können. Etwa von Pavel H a -n u s : „Mit Schrecken wurde ich mir (bei der Lektüre) bewußt, daß das Lebensgefühl des Herrn K. (im „Prozeß“) sich nicht sehr von den Empfindungen jener unserer Zeitgenossen unterschied, die verhaftet wurden und nicht ahnten, warum. Sie sollten Verbrechen eingestehen und wußten nicht, welche. Die Maschinerie des bürokratischen Despotismus hat im .Prozeß' ihren Hohlspiegel.“

Franz Kafka starb 1924 in einem Lungensanatorium in Kierling bei Wien. Bis zu diesem Zeitpunkt waren von ihm nur einige Erzählungen veröffentlicht. Er hatte den Freund Max B r o d gebeten, seinen Nachlaß zu vernichten. Brod entschloß sich schließlich aber doch, die fragmentarischen Romane „Amerika“, „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ zu veröffentlichen. Kafkas Ruhm und vor allem seine Wirkung auf die Literatur in Europa und Amerika erreichte erst nach 1945 ihren Höhepunkt. Die versuchten Deutungen seiner schwierigen Werke bilden schon eine ganze Bibliothek.

Die Interpretation der Gelehrten

Es stimmt aber nicht ganz, daß die Kafka-Forschung bisher ausschließlich im Westen stattfand. Kafkas Bücher wurden zwar im Osten nicht gedruckt, die Gelehrten beschäftigten sich aber mit ihm. Als im Frühjahr 1957 der (inzwischen emeritierte) Ordinarius für Germanistik an der Prager Universität, Prof. Hugo Siebenschein, vor der Ostberliner Akademie der Wissenschaften einen sehr klugen .Vortrag über Frau; Kajka hielt, konnte er schon auf eigene Studien aus dem Jahr 1948 und auf eine Polemik des (inzwischen verstorbenen) kommunistischen Schriftstellers F. C. Weis-köpf im Ostberliner „Sonntag“ hinweisen. Weiskopf hatte die Jahre seiner Prager Emigration offenbar zu Kafka-Studien genutzt und forderte nun, dem Dichter den Platz innerhalb der deutschen Literatur anzuweisen, „der ihm als Charakterzeichner von außerordentlicher Einprägsamkeit, als Erforscher dunkelster Winkel der menschlichen Seele, als Meister der Sprache rechtens zukommt“.

Siebenschein gab in seinem Vortrag von 1957 in erster Linie eine sehr klare, wenn auch noch nichf endgültige Interpretation des Dichters, in der vor allem die Ableitung der Vorstellungen über Gerechtigkeit und Gesetz aus altjüdischer Überlieferung Eindruck machte. Er wandte sich gegen westliche Über-Interpretationen, speziell gegen Max Brod, der sich „die denkbarste Mühe gibt, ihn zum Philosophen, Propheten, Erlöser, Heiligen. Religionsstifter, Menschheitserzieher, Tugendmuster zu machen und in übertriebener Schwärmerei von einem Jr.'.irhundert Kafkas' zu sprechen. Uns genügt es vollkommen, in ihm. den unvergleichlichen Prager realistischen Humoristen zu lieben und zu verstehen, dessen Größe womöglich nur noch dadurch Steigerung erfahren kann, daß wir ihn als Prager Realisten, nicht bloß als einen aus <•> Prag gebürtigen, auszuweisen und zu interpretieren haben.“

Die Umwelt des Dichters

Damit wurde der Anspruch der Prager tschechischen Germanistik angemeldet, in der Kafka-Forschung mitzusprechen. Die Lebensumstände des Dichters, seine Beziehungen zum tschechischen Volk und zur tschechischen Kultur, dürften nicht vernachlässigt werden und seien am besten an Ort und Stelle zu klären. Das etwa ist auch die Ansicht des Germanisten Dr. Hugo R o k y t a, der als Beamter des staatlichen Denkmalamtes seit Jahren die Kafka-Gedenkstätten (in erster Linie das Familiengrab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof) betreut.

Auch er ist der Meinung, daß Kafka im Westen zu kompliziert interpretiert worden sei und geht als Einheimischer auch zuerst von der Umwelt aus, in der Kafka gelebt hat. Natürlich wissen die Prager Germanisten, daß Kafka — besonders in seinen späteren Werken — nicht die Wirklichkeit im Baedeker-Sinne abgebildet hat. Trotzdem kann das Sammeln historischer Materialien, die Identifizieruiii; von Örtlichkeiten Sn seinen Werken für die Forschung von großem Wert sein. So wurde als „Vorbild“ des „Schlosses“ in dem gleichnamigen Roman Schloß Strela hei Strakonitz identifiziert. Auch die Landschaft um Zürau (Sirem), wo sich Kafka im Jahre 1918 bei seiner Schwester Ottilie aufgehalten hat, spielt hier eine Rolle.

In der Richtung dieser Forschungen lag auch — wenngleich äußerlicher — ein Buch, das 1960 im Prager Artia-Verlag in deutscher Sprache (offenbar für Exportzwecke) erschien: „Kafka lebte in Prag“ von Emanuel F r y n t a. Hier wurde mit vielen interessanten

Bildern die Umwelt des Dichters dargestellt, auch hier spielten begreiflicherweise die Beziehungen zur tschechischen Kultur eine große Rolle. Man hat sich ja die Einsamkeit dieses Menschen, der als Jude von den

Deutschen, als Deutscher von den Tschechen isoliert war, nicht so vorzustellen, daß er ein Einzelgänger war. Er hatte viele gesellschaftliche Kontakte und in alle Gesellschaftskreise Zutritt. Seine Tätigkeit bei der Arbeiter-Versicherungsanstalt brachte ihn zwangsläufig auch mit sozialen Fragen in Berührung, für die er großes Interesse hatte, offenbar aber nicht so

sehr als politischer wie als mitleidiger und mitleidender Mensch.

Immerhin zeigte aber Siebenschein in seinem zitierten Vortrag schon Ansatzpunkte auf, wie man sich Kafka nicht nur von tschechischer, sondern auch von marxistischer Seite nähern konnte. Er knüpfte dabei an das erste Kapitel des „Amerika“-Romans („Der Heizer''), auch an Brods Biographie an, wo es heißt: „An politischen Bewegungen hat Kafka allerdings nie

teilgenommen. Aber seine betrachtende Teilnahme gehörte allen Bemühungen, die auf Verbesserungen des Menschenloses hinzielten. Deshalb besuchte er eifrig tschechische Massenversammlungen und Diskussionen ...“ Hatte Siebenschein noch den Nachweis führen zu müssen geglaubt, daß Kafka jedenfalls nicht antisozialistisch eingestellt war, so konnte

im Zeichen allgemeiner kultureller Liberalisierung der diesjährige Kafka-Kongreß einen großen Schritt weitergehen. Dozent Dr. Eduard Gold-s t ü c k e r, Siebenscheins Nachfolger auf dem Prager Lehrstuhl für Germanistik, überraschte seine Hörer mit einer Art marxistischer Selbstkritik: „Das Werk Kafkas wurde im nichtsozialistischen Teil der Welt Gegenstand außerordentlicher Aufmerksamkeit, eines brennenden Interesses, das

beweist, daß eine große Anzahl von Menschen in diesem Werk den Ausdruck ihrer Lebensgefühle und -Probleme gefunden hat. Schon diese augenfällige gesellschaftliche Tatsache hätte uns dazu bewegen sollen, uns mit ihr zu befassen und uns nicht zu begnügen, sie mit der Pauschalbezeichnung .bürgerlich-dekadente Neigungen' abzutun.“ Er wandte sich dann gegen die bisher gebräuchliche äußerliche Form kommunistischer Literaturbetrachtung, die er als „vulgäres Soziologisieren“ bezeichnete, „das manchmal zu einer Reduktion des biographischen Materials nach dem Schema eines Kadergutachtens führte“.

Die schöne Eintracht über Kafka, die auf Liblice herrschte, wurde — wie kaum anders zu erwarten — durch die Delegierten der DDR gestört. Klaus Hermsdorf, Verfasser einer Kafka-Studie, erklärte schlicht, Kafka gehöre der Vergangenheit an, denn die sozialistische Welt habe die Entfremdung endgültig überwunden. Außerdem sei Kafka, zum Unterschied von Thomas Mann oder Brecht, kein Realist gewesen. Diese Störung festigte jedoch nur die Einheitsfront der anderen Delegierten, ob sie nun aus Warschau, Paris oder Wien kamen. Man war sich einig darüber, daß Kafka, „den wir Marxisten allzu lang der Bürgerwelt überließen... uns alle angeht“, wie es der prominente Wiener KP-Theoretiker Ernst Fischer formulierte. Er schloß seinen vielbeachteten Vortrag mit den Worten: „Wir brauchen Kafka. Wir brauchen ihn nicht nur, weil die sozialistische Welt auf keinen großen Dichter verzichten sollte, sondern auch, weil er zu leidenschaftlichem Nachdenken über Probleme der modernen Wirklichkeit anregt. Allein schon die geistige Auseinandersetzung mit dem Werk Kafkas ist bedeutsam, zwingt uns zu vertiefter und verfeinerter Argumentation. Wir appellieren an die sozialistische Welt: Ruft das Werk dieses Dichters aus unfreiwilligem Exil zurück! Gebt ihm ein Dauervisum!“

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