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Deckname „Lebensart“

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Naturgemäß ist seit 1920 auch jeder Religionsunterricht in der Schule bis heute verboten. Es gibt jetzt allerdings wieder viele katholische Privatschulen mit öffentlichkeitsrecht. Ein Orden oder sonst eine Gruppe von Katholiken kann eine Privatschule eröffnen; die Bedingung ist, daß der Direktor ein Laie ist und die Schule einen weltlichen Namen für die Behörden tragen muß. Auch in Privatschulen wäre Relgionsunterricht nicht gestattet. Man wußte sich jedoch zu helfen. Statt Religion heißt der Gegenstand „Lebensart“. Jeder weiß, daß dies der Religionsunterricht ist, doch dem Gesetz ist Genüge getan.

Privatschulen sind in Mexiko ein teures Unternehmen. Nur wer genügend Geld hat, kann seine Kinder dorthin schicken. Somit ist der Arme vom Religionsunterricht ausgeschlossen, denn in den staatlichen Schulen bat der Religionislehrer keinen Zutritt. Dies ist für die Kirche Ln Mexiko eine große soziale Belastung.

Allein die gebildete Mexikanerin fühlt sich für die geistige und religiöse Entwicklung des Landes verantwortlich. Seit etwa zehn Jahren unterrichtet sie in den Pfarren arme Indiofrauen und deren Kinder in Religion. Diese Damen haben keine missio canonica, meist auch keinen Katechetenkurs. Ein kleiner Leitfaden der katholischen Aktion bildet die einzige Unterlage. Die Bedingungen, unter denen gelehrt wird, sind unvorstellbar primitiv! Oftmals ist es eine halbfertig gebaute Krypta, etwa 300 Frauen mit Kleinkindern haben darin Platz. Fünf Damen unterrichten je sechs Bankreihen zur gleichen Zeit. Keine Tafel, keine Bilder stehen zur Verfügung. Jeder Groschen wird für Nahrungsmittel für die Armen verwendet. Nach dem Unterricht werden Lebensmittel verteilt. In den vergangenen Jahren richteten diese Damen ebenfalls Näh-, Koch- und Säuglingspflegestunden ein.

Um dem Umstand der vollkommenen Mittellosigkeit — sogar die Gebäude der Kirche sowie das ecz-bischöfliche Palais sind staatliches Eigentum — irgendwie zu begegnen, wurden von der Kirche Privatgesellschaften gegründet, die von Laien verwaltet werden. Schenkungen und andere Erwerbungen werden so nutzbringend angelegt. Diese privaten Realitätengesellschaften besitzen Häuser, Grundstücke, landwirtschaftliche Betriebe, Aktien und so weiter. Auch das ist absolut kein Geheimnis. Dem Gesetz ist Genüge getan, mehr wird in Mexiko nicht verlangt. Der Mexikaner, und mag er noch so arm sein, ist außerdem für seine Kirche ein sehr gebefreudiger Spender. Die Religiosität des Volkes und seine Spendenfreu-digkedt haben mit der kirchenfeindlichen Haltung des Staates nichts zu tun.

Mexiko hat keinen Vertreter am Vatikan, es existiert kein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl. Die Existenz der Kirche wird vom mexikanischen Staat vollkommen negiert. Seit Johannes XXIII. besitzt das Land einen Kardinal, doch sein Sitz liegt nicht in der Hauptstadt. Es darf keine Kirchensteuer eingehoben werden, vom Staate her gesehen, gehört der Kirche in Mexiko überhaupt nichts. Es ist eine dringende Notwendigkeit, daß der Klerus um Geld betteln muß. Wer bezahlt schon den Lebensunterhalt des Geistlichen? Den Opferwein (der bis vor wenigen Jahren importiert werden mußte, da Mexiko kein Weinland ist)? Der Priester darf nicht mit dem Talar oder gar im Ornat die Straße betreten. Fronleichnamsprozessionen sind auch heute noch nicht gestattet. Selbst an den großen Wallfahrten, die alle Orte zur Guadalupe einmal jährlich unternehmen, darf der Priester nur in ziviler Kleidung teilnehmen. Auch Klosterfrauen dürfen nicht mit Schleier und Ordenstracht gehen. Man kennt die einzelnen Frauenorden der Tracht nach nicht auseinander, da alle mit schwarzem Rock, schwarzer Bluse und schwarzer Schürze bekleidet sind.

Im Jahre 1960 wurde auf Veranlassung Papst Johannes' XXIII. in Mexiko ein lateinamerikanischer Missionskongreß abgehalten, an dem etwa 70 Bischöfe teilgenommen haben. Dieses Ereignis wurde auch wirklich zum Wendepunkt im Leben der Kirche in Mexiko.

Mexiko muß heute wieder universell denken lernen. Es erfüllt neuerdings wieder seine Missionspflichten. Seine Hauptmissionen liegen in Japan. Überhaupt fühlen sich die Mexikaner besonders zu den Asiaten hingezogen, weil sie dann den Rassenkomplex, dem jeder Durchschnittsmexikaner im allgemeinen unterliegt — sie nennen ihn selbst den „Malinchismo“—, nicht so stark spüren.

Seit 1961 ist der Klerus verpflichtet, jeden Sonntag zu predigen. Dieser Wunsch des Oberhirten war für den einzelnen Geistlichen eine Katastrophe. Es gibt nämlich kaum einen mexikanischen Priester, der imstande ist, auch nur drei Sätze über Religion auswendig herzusagen. Eine Predigt war also das größte Problem und ist es auch noch heute. Ein Europäer kann sich keine Vorstellung von der Primitivität einer solchen Ansprache machen. Wenn einer mit eigenen Worten das Evangelium nur nacherzählen kann, ist er bereits ein guter Prediger. Es fehlt natürlich auch an jeglichen Predigt-büchem, an Anleitungen, an religiösen Büchern aller Art.

Der Klerus in Mexiko bekommt nun allmählich eine ganz neue Auffassung seines Berufes. Er macht eine vollkommene geistige Wendung mit, und die Tatsache des Konzils allein schon ist dabei eine große Unterstützung. Im Jahre 1962 wurde erstmals eine allgemeine Stadtmission von MexikojCity durchgeführt. Die Priester bekamen detaillierte Aufgaben vom Ordinariat zugewiesen. Es wurde vor allem Wert auf die Erfassung der ganzen Familie gelegt. Eine enorme Arbeit, die wahren Familienverhältnisse festzustellen, da in dieser Hinsicht die unwahrscheinlichsten Verhältnisse herrschen. Das gesamte Kirchenvolk wurde Sonntag für Sonntag aufgerufen, mit1 dem Pfarrer zusammenzuarbeiten. Der gemeinsame Fami-liensakramentenempfang wurde sehr eindringlich empfohlen. Für alle Kinder wurde ein Religionsunterricht in der Pfarre organisiert.

Durch die Bevölkerungsexplosion, die heute in Mexiko stattfindet — (Mexiko hat eine höhere Zuwachsrate als China) —, ist der Klerus arbeitsmäßig stark überlastet. In einer Großstadtpfarre werden täglich 5000 Kommunionen ausgeteilt, täglich zwei bis drei Stunden für Taufen einkalkuliert. Die Gläubigen müssen sich dafür anstellen, an eine feierliche Zeremonie ist nicht zu denken. In jeder Pfarre wird einmal im Monat nachmittags gefirmt, in der Kathedrale wird dieses Sakrament wöchentlich einen ganzen Tag lang gespendet.

Der Priesterberuf hat einen guten Zustrom. Doch der enorme Bevölkerungszuwachs einerseits und die neuen Aufgaben des mexikanischen Priesters anderseits haben ein riesiges Arbeitsfeld eröffnet. Die Bevölkerung ist für alles dankbar und ist sehr aufnahmewillig.

Die Verbreitung und die Innigkeit der Verehrung „Unserer Lieben Frau von Guadalupe“ ist unbeschreiblich. Es gibt kein Dorf und keinen Betrieb, die nicht einmal im Jahr ihre Wallfahrt zu dem mexikanischen Nationalheiligtum unternehmen. Aber wie viele ziehen privat hin, wenn sie ein Anliegen haben! Einen Kilometer vor der Basilika rutschen Frauen und auch Männer auf den Knien zur Kirche. Am Guadalupetag tanzen die Indios am Platz vor der Kirche ihr zu Ehren ihre alten Tänze. Selbst die Freimaurer und Atheisten hegen eine stille Verehrung zu diesem Heiligtum. Aus keines Menschen Mund würde man je ein Spottwort oder nur eine abfällige Bemerkung hören, es wäre dies für den Mexikaner das Undenkbarste. Wenn in dem Papststück „Der Nachfolger“ der mexikanische Kardinal sagt:“,... .Lassen Sie uns unsere Marienverehrung, wie sie uns überliefert ist“, so beruht dieser Satz auf einer ernst zu nehmenden Realität. Die Marienverehrung hat in den Jahrzehnten, in denen das Glaubensleben vollkommen darniederlag, den katholischen Glauben im mexikanischen Volke bewahrt.

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