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Demokratie in China

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Die Gegenwart Chinas ist nur mit einem Blick auf die Vergangenheit zu verstehen.

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Die Gegenwart Chinas ist nur mit einem Blick auf die Vergangenheit zu verstehen.

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Zweifellos leben wir in einer Zeit der Umwälzung, die ohne Beispiel in der Geschichte ist. Insbesondere ist China durch den neu aufflammenden Bürgerkrieg davon besonders betroffen. Die vorkonfuzianische Zeit war eine Feudalzeit, die sich von der europäischen nicht unterschied. Von Konfuzius bis zur Berührung mit der westlichen Kulturwelt hatte China nahezu zweieinhalb Jahrtausende Frieden, wenn man von den wenigen fremden Einfällen und einzelnen Rechtsstreitigkeiten absieht. Und die in diesen zweieinhalb Jahrtausenden entstandene Kultur sollte für die ganze Welt nutzbar werden; ich bin überzeugt, daß richtiges Verständnis und unvoreingenommene Aufnahme dieser Kultur einen wertvollen Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens leisten könnte.

Als China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der westlichen Kultur Bekanntschaft machte und eine Niederlage, militärisch und politisch, nach der anderen erlitt, begann es an der überkommenen politischen und wirtschaftlichen Grundlage zu zweifeln; man fragte sich sogar, ob diese alte Kultur für die moderne Zeit noch tauge.

Uns Chinesen das Selbstvertrauen zurückzugeben und das Interesse der übrigen Welt für die alte Kultur wachzurufen, ist eine der dringendsten Aufgaben unserer Generation. Um Chinas gegenwärtige Entwicklung und Chinas Zukunft zu verstehen, muß man die Vergangenheit kennen. Ich will damit beginnen, von der uralten chinesischen Demokratie zu erzählen.

Der Bürger war in der Monarchie durch Treue an den Kaiser gebunden. Aber der Kaiser war lediglich ein Beauftragter. Wenn er aus irgendeinem Grunde sein Mandat verliert, tritt das Recht des Volkes auf Erhebung in Kraft, als Ausrede der Volkssouveränität. Die politische und soziale Einheit ist nicht das einzelne Individuum, sondern die Familie; sie ist ein richtiger kleiner demokratischer Staat, ein regelrechter Organismus mit Verwaltungs- und richterlichen Funktionen. Der Vater ist nur das Exekutivorgan, während alle Beschlüsse von einiger Wichtigkeit vom Familienrate gefaßt werden. Es ist also ein Irrtum zu behaupten, daß das Familiensystem der Entwicklung des einzelnen aus sich selbst heraus keinen Raum lasse.

Das innere Leben der Familie leitet die Mutter. Der Vater beschränkt sich lediglich auf die Erfüllung der Pflicht, den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen und auf die Pflege des Ahnenkultes. Es ist die Mutter, die die soziale Beziehung der Familie ordnet. So nimmt die chinesische Frau eine sehr hohe Stellung ein. Das Familiensystem hängt eng mit dem Ahnenkult zusammen. Der feste Zusammenhang zwischen den Generationen hat die Unsterblichkeit zu einer realen Wirklichkeit gemacht. Es mag hier erwähnt werden, daß in China Auszeichnungen und Titel nicht auf die Nachkommenschaft, sondern auf die Vorfahren übergingen, daher gab es in China keinen erblichen Adel, war Emporkommen ausschließlich von persönlichem Verdienste abhängig.

Die Nachfahren von Kaisern sanken auch mit einer jeden folgenden Generation im Range. Jede Familie hat schon einmal einen Mandarin, einen Vizekönig oder auch einfache Taglöhner zu den ihrigen gezählt. Was in der Vergangenheit war, kann in der Zukunft wieder sein. Dies hält sich jeder Mann in China gegenwärtig. Daher sind “hier auch die Verhältnisse viel demokratischer als irgendwo, ohne daß erst neuerlich eine Gleichheit dekretiert werden müßte, die in einigen westlichen Staaten immer etwas Demütigendes an sich hat.

Die chinesische Gleichheit ist die Quelle von Höflichkeit und Güte. Demokratie ist identisch mit Kultur und Würde. Die Familiendemokratie finden wir auch im Dorf, Stadt, Bezirk, Provinz und in den Handels- und Gewerbezünften. Bei einem solchen System der Selbstverwaltung hatte die chinesische Zentralregierung natürlich nur einen rein zeremoniellen Charakter oder den Sinn einer Aufsichtsbehörde. Die Zentralregierung war ausgerüstet mit zwei Kronräten, die die Verbindung zwischen dem Haupte des Staates und der obersten Verwaltung darstellten. Wissenschaftliche Auszeichnung allein gab ein Anrecht auf die Berufung in diese Körperschaften. Eine andere Körperschaft, die auch nur aus Han-Lin-Akademikern bestand, war der Zensurrat, der auch das Recht hatte, den Kaiser zu beurteilen und zu tadeln. In den Staatsdienst konnte man nur nach Ablegung einer wissenschaftlichen Prüfung aufgenommen werden. Diese Prüfungen hatten einen Mangel; sie würden bald einförmig, gleichbleibend, mechanisch und ließen der Originalität kein Entwicklungsfeld. Diesen Mangel zugestehen, heißt aber nicht, die Vorzüge des Systems verkennen. Diesem System der geistigen Aristokratie verdankt es China, daß es wirklich ein demokratischer Staat wurde.

Bei einer Bevölkerung von nahezu 400.000.000 Seelen besaß China vor seiner innigeren, Berührung mit dem Westen nur zirka 30.000 Mandarine und eine Armee von weniger als 100.000 Soldaten. China war eigentlich ein Land ohne Regierung, eine Anarchie, auf Vernunft und Gerechtigkeit gegründet, wo die Fähigkeit innerer Disziplin und eigener Rechtshandhabung so vollkommen entwickelt ist, daß China das Fehlen der Richter-, Priester- und Kriegerkaste ertragen kann.

Die Begegnung mit dem Westen

Dieses alte System hatte sich in China bis zur Berührung mit dem Westen bewahrt. Weil China wirklich demokratisch regiert wurde, konnten Mängel des Systems evolutionistisch ausgeglichen werden. Die erste Berührung zwischen China und Europa in der Neuzeit wirkte für beide Teile befruchtend. Die Jesuiten brachten neue Forschungsmethoden und die wissenschaftlichen Errungenschaften Europas mit und machten Europa mit den demokratischen Prinzipien Chinas bekannt, die befruchtend auf die französischen Philosophen einwirkten und die Entstehung des Liberalismus beeinflußten.

Während in China die Zelle die Familie ist, war das Ideal des europäischen Liberalismus das Individuum. Die Anerkennung der besonderen Stellung des Kaisers durch den sonst unbedingt demokratischen Konfuzianismus kann man als Kompromiß bezeichnen, der europäische Liberalismus war in dieser Hinsicht konsequent und fortschrittlicher. In dieser entwickelten Form kam der Liberalismus wieder nach China zurück, und wirkte dort zersetzend auf die geistige und moralische Basis der Chinesen.

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