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Den „21. August“ nicht vergessen!

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Wir neigen dazu, unangenehme, komplizierte und schwer durchschaubare Ereignisse zu verdrängen — und ein Jahr ist eine lange Spanne „am sausenden Webstuhl der Zeit“: Versuchen wir den „21. August“ in seinen historischen Zusammenhang zu stellen: Als Chruschtschow die Verbrechen Stalins enthüllend eine Periode der Liberalisierung andeutete nahm diese in Polen akzentuierte Formen an Während die Liberalisierung sich in Ungarn bi zur Revolution gegen die Diktatur Bakosis steigerte, blieb es in der Tschechoslowakei ruhig — dort herrschte einer der Helfershelfer Stalins, Novotny.

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Wir neigen dazu, unangenehme, komplizierte und schwer durchschaubare Ereignisse zu verdrängen — und ein Jahr ist eine lange Spanne „am sausenden Webstuhl der Zeit“: Versuchen wir den „21. August“ in seinen historischen Zusammenhang zu stellen: Als Chruschtschow die Verbrechen Stalins enthüllend eine Periode der Liberalisierung andeutete nahm diese in Polen akzentuierte Formen an Während die Liberalisierung sich in Ungarn bi zur Revolution gegen die Diktatur Bakosis steigerte, blieb es in der Tschechoslowakei ruhig — dort herrschte einer der Helfershelfer Stalins, Novotny.

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Es waren Novotny und Ulbricht, die zum raseben Eingreifen, gegen Ungarn mahnten, ja sogar zur Wiederbesetzung der ehemals sowjetisch besetzten Zone Österreichs, die erst ein Jahr vorher geräumt worden war. Die Sowjetunion entschloß sich zum militärischen Eingreifen in dem Augenblick, als Ungarn den Austritt aus dam Warschauer Pakt verkündete und sich neutral erklärte. Viele glaubten damals, die Ungarn hätten so weit nicht gehen dürfen. Wären sie maßvoller gewesen, wer weiß — so meinten sie —, ob es zur militärischen Intervention der Sowjets gekommen wäre?

Um es gleich vorwegzunehmen, die Tschechen ließen von allem Anfang keinen Zweifel an ihrer Loyalität der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt gegenüber aufkommen. Und dennoch...

Und eine Lehre, die wir, ob wir es wahrhalben wollen oder nicht, zu ziehen haben: die Vereinigten Staaten verhielten sich außerordentlich vorsichtig — damals bei der ungarischen Erhebung und im Vorjahr anläßlich der Ereignisse in der Tschechoslowakei.

*

Nach der Niederwerfung des ungarischen Volksaufstandes herrschte wieder die Stille des Stalinismus, nur die,: Salven, der Eä£eJsutionsjo|Br krachten. Die Führer des Ausstände* — wahrscheinlich' keine Beak-tionäre —, unter ihnen viele alte, und junge Kommunisten, sozialdemokratische Arbeiterräte von Csepel und anderer Industriebetriebe, Wurden hingerichtet.

Die „revolutionären und fortschrittlichen Kräfte“ — um bei der kommunistischen Sprache von heute zu bleiben — hatten gesiegt. Dennoch ließ sich nach einiger Zeit feststellen, daß in den Satellitenstaaten ein gewisses Maß an Liberalisierung erhalten blieb — nur nicht in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik ' und in der Tschechoslowakei.

Dort behaupteten die Stalinisten ihre Machtpositionen, ja sie verschärften sogar zeitweise die Unterdrückungsmethoden. In der Tschechoslowakei waren die Erinnerungen an die „zlaty casy“ der Demokratie noch sehr lebendig, sie schienen deshalb so ,golden“, weil sie verknüpft waren mit wirtschaftlicher Prosperität, von der allerdings in den Elendsgebieten des Riesengebirges und des Böhmerwaldes wenig au bemerken war.

Allmählich konnte sich Novotny der Entwicklung im Ostblock nicht entziehen, denn in der Kommunistischen Partei selber begann es zu gären, vor allem wegen der mangelnden wirtschaftlichen Effektivität des Regimes.

Im Nachvollzug, so sagte ich einmal, sollte sich das Satyrspiel ereignen, daß die Vollstrecker des brutalsten Stalinismus nun auch die Exekuto-ren der Entstälinisierung sein wollten.

Doch der Liberalisierungsprozeß ging, weil eben die Tschechoslowakei schon einmal — übrigens als einziger Ostblockstaat — eine funktionierende Demokratie besaß, weil sie eine große Schichte selbständig denkender Arbeiter und Intellektueller hatte, bald über sich hinaus und schlug in einen echten Demokratisierungsprozeß um.

Geradezu über Nacht entstanden neue Formen der Meinungsbildung, neue Modelle der Demokratie — im wahrsten Sinne des Wortes — vor den Augen und Ohren der Menschen, denn Television und Radio wie nie-

mals und nirgendlwo in der Welt erfüllten eine demokratische Kontrall-funktion.

Auch die fortschrittlicheren unter den kommunistischen Führern konnten sich dieser Entwicklung nicht entziehen, die einen, weil sie glaubten, so am ehesten den Gang der Dinge steuern zu können, die anderen, weil sie aufgehört hatten, was zehntausende schon früher getan hatten, Kommunisten au sein. *

In der Tat, so schrieben wir damals, hat die Tschechoslowakei aufgehört, eine kommunistische Diktatur zu sein. Die DDR-Organe zeterten gegen den „Sozialdemokratismus“, der sich allerorten in der Tschechoslowakei zeigte.

Da nun der eigene Diktaturapparat nicht mehr funktionierte, mußte der der Supermacht an seine Stelle treten. Um das zu können, war es notwendig, ihm die Etablierung zu ermöglichen, dazu bedurfte es, daß der Sowjetunion ergebene tschechische

der an die Macht kommen, und das wieder war nur möglich, durch die militärische Intervention der Sowjetunion. Sie erfolgte am 21. August 1968.

Beobachter im Westen meinten damals, die Sowjetunion hätte einen folgenschweren Fehler begangen. Wir widersprachen: „Innerhalb eines Jahres oder etwas länger würden alle diejenigen, die heute so furchtbar viel von der Weltreaktion auf die Ereignisse in der Tschechoslowakei halten, sehen, wie unrecht sie haben und wie wenig dadurch in Wirklichkeit die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA gelitten haben werden.“ Das sagten wir am 20. September 1967 in einem Vortrag bei der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Os'teuropakunde in Berlin. In der Tat, es brauchte weniger als ein Jahr.

Die Gromykoschen Schalmeienklänge von unlängst haben allerorts die Hoffnung auf neue Möglichkeiten der Entspannung eröffnet. Mag sein,

daß es Möglichkeiten zu Ruhigstellungen von Spannungszonen gibt, aber von dam, was sich die professionellen Illusionisten der Außenpolitik erwarten, wird leider bestenfalls die Rede sein. Eine dieser Illusionen, die im Augenblick wieder herumgeboten wird, ist die, daß die Sowjetunion unter dem Druck der sie bedrohenden „gelben Gefahr“ nun bereit sein werde, in Europa substantielle Konzessionen zu machen.

In der Deutschlandfrage? Lasen wir doch unlängst wieder in den „Dokumenten von der Internationalen Beratung der kommunistischen Parteien“, daß die DDR der „erste deutsche sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat“ wäre. Glaubt da jemand, daß die Sowjetunion ihn aufzugeben bereit wäre? Und keine Konzession wird sie bezüglich der sogenannten „Breschnjew-Doktrin“ machen: in Moskau wird entschieden, wieviel Liberalisierung es geben darf, wie weit Reformen gehen dürfen, wo der zersetzende „Sozialdemokratismus“ beginnt.

*

Und keinen Reformkommunismus wird es geben! Sosehr sich auch die italienischen Kommunisten regierungsfähig und mlnistratoel präsentieren, so unübechörbar sind ihre Drohungen und so unübersehbar ist vor allem die Tatsache, daß sie doch bei den Moskauer Beratungen weder die Sache der Tschechoslowakei zur

ihren gemacht, noch sich ernstlich, gegen die Dominanz dar sowjetischen Kommunistischen Partei gewendet halben. Sie taten brav mit. Überhaupt: die Rede Breschnjews und vor allem die „Dokumente von der Internationalen Beratung der kommunistischen Parteien“ zeigen so deutlich, daß sich nichts, gar nichts geändert hat: die alten Klischees, die verbrauchten Phrasen, die pseudowissenschaftlichen Analysen, die sonderbare Amalgamierung von Beschimpfung und Umgarnung der Sozialdemokratie, die semantischen Manöver, die dazu dienen sollen, die Diktatur in Demokratie und den Kommunismus in den Sozialismus umauschiwindeln.

Will man sich mit den Vertretern kommunistischer Staaten an den Tisch setzen, dann genügt es nicht, der abendländischen Zivilisation unerschütterlich verpflichtet oder ein Träumer vom „ganzen Europa“ zu sein. Man muß wissen, um was es geht, mit wem man es zu tun hat, welche Sprache gesprochen und welche verstanden wird. „Gesundibeten“ — man verzeihe das harte, mag sein zynische1“'WcÄ *— kann man seine kommunistischen Gesprächspartner nicht. Und deshalb soll auch zum Schluß noch ein Wort über unsere Haltung am 21. August 1968 und nachher gesagt werden. *

Wir schrieben damals in der „Arbeiter-Zeitung“: „Das ist die Sprache, in der man sprechen muß in solchen Zeiten, und das sind die Taten, die man setzen muß. Und nicht das feige und zugleich ironische ,Uber-der-Situation-Stehen' der publizistischen Laufburschen der Regierung. Und noch etwas haben wir gelernt: In solchen Tagen ist es nicht nur wichtig, daß die Partei geschlossen ist, sondern daß das ganze österreichische Volk ausaimimensteht, daß es zeigt, wie es denkt und was es denkt. Und die Aufgabe der Regierung ist es, wegweisend und richtunggebend zu wirken — einer Regierung, die auf der Höhe der Situation steht.“

Es war das eine ernste Mahnung an die Bundesregierung, die keineswegs auf dar Höhe der Situation stand. Wir wissen, daß sogar die Übersiedlung der Regierung nach dem Westen diskutiert wurde. Es waren nur wenige Mitglieder der Bundesregierung, die vor dem kläglichen Eindruck, den es machen müßte, wenn die Bevölkerung auch nur von diesen Überlegungen erfahren würde, warnten. Die Bundesregierung hörte damals auf Leute, die unrichtige und als solche erkennbare Informationen weitergaben, und es verschlug ihr die Rede. Sie fand die Sprache erst wieder, als sie von ihr ansonsten freundlich gesinnten Blättern wegen ihrer schwächlichen Haltung stark kritisiert wurde.

Der „21. August“ darf nicht vergessen werden! Er ist ein Tag der Erinnerung an die Niederringung einer demokratischen Revolution, die vor allem von den jungen Menschen im tschechischen und slowakischen Volk getragen wurde.

Aber der „21. August“ ist auch ein Tag der Mahnung an uns, daß Diktatur und Demokratie nicht nur zwei Staatsfonmen sind, sondern daß die eine die Unterdrückung und die andere die Freiheit des Menschen bedeutet.

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