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Den Fortschritt aufhalten?

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Kann Adam das eine oder andere der Danaergeschenke, die ihm der unvorsichtige Griff nach dem Apfel der Erkenntnis bescherte, zurückgeben? Dies ist ein Thema für die ganze Welt seit 50 Jahren, genau: seit der Erfindung der Atombombe. Auch vorher wurde manches erfunden, das der Menschheit nicht, oder nicht nur, zum Heil gereichte. Doch erst die Möglichkeit der Selbstausrottung gibt der Frage die volle Schärfe.

In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Vergangenheit zu befragen: Wie wurden ähnliche Situationen früher bestanden? Der amerikanische Literaturprofessor Noel Per-rin gibt in seinem Buch „Keine Feuerwaffen mehr - Japans Rückkehr zum

Schwert" eine verblüffende Antwort. Er weist nach, daß es in Japan tatsächlich gelang, auf die gewaltige technische Innovation der europäischen Feuerwaffen zu verzichten. Besonders interessant dabei ist, daß dieser Verzicht keinen noch nicht in die Kriegführung integrierten Fremdkörper betraf, sondern daß das Gegenteil der Fall war.

Japan hatte, ähnlich wie heute weltweit in der Elektronik, in Ostasien eine führende Stellung als Waffenexporteur errungen, als die Europäer mit ihren Donnerbüchsen erschienen. Japans Schwerter waren die besten. Sie konnten gehärteten Stahl glatt durchschlagen. Ein japanisches Schwert des 15. Jahrhunderts teilte kürzlich den Lauf eines Maschinengewehrs glatt in zwei Stücke. Japanisches Kupfer war bereits am Ende des 15. Jahrhunderts besser als das europäische und ab dem 17. Jahrhundert so billig, daß es sich lohnte, es nach Amsterdam zu verschiffen. Auch in manch anderer Hinsicht war Japans Zivilisation der europäischen voraus -während sich in England noch jedermann in den Ärmel schneuzte, gab es in Japan bereits Papiertaschentücher, die man nach einmaligem Gebrauch fortwarf. Und die Japaner verstanden es schon damals, Innovationen blitzschnell aufzugreifen. Was sie an den Europäern besonders erstaunte, war die Tatsache, daß viele weder lesen noch schreiben konnten.

Japanische Konstrukteure nahmen sich also sofort der primitiven portugiesischen Büchsen an, entwickelten innerhalb weniger Jahrzehnte Gewehre, die den europäischen gleichwertig waren, und während in Europa nach wie vor ein Wolkenbruch jede Arkebuse außer Gefecht setzte, erfanden die Japaner eine Abdeckung, die das Schießen im Begen ermöglichte. Größere Kaliber erhöhten die Durchschlagskraft, der Nachschub geladener Gewehre die Feuergeschwindigkeit. Der Umgang mit Feuerwaffen zählte bald zu den Fertigkeiten, die jeder Soldat beherrschen mußte. Nur bei der Herstellung wirkungsvoller Kanonen konnte Japan nicht gleichziehen.

Japan hatte die Schußwaffe weitgehend in seine Kriegführung integriert und hohe Produktionszahlen erreicht, als ihre Nachteile deutlich erkennbar wurden. Der Hauptgrund dafür, daß man sich von dieser Innovation nach und nach wieder verabschiedete, war deren allzugroße Effizienz. Als das Gewehr auftauchte, lagen Dutzende Feudalherren im Kampf um die Vorherrschaft. Die neuje Waffe ließ die Zahl der Gefallenen so ansteigen, daß man sich entweder zum Frieden oder zum Verzicht auf das Gewehr durchringen mußte. Japan tat letzteres. Die Integration der Feuerwaffe in die Kriegführung war allerdings nie eine vollständige. Sie vertrug sich schlecht mit den ritterlichen 'Traditionen, war und blieb ein plebejisches Tötungswerkzeug und der Ruch des Fremden haftete ihr doch an. All dies hat den Verzieht auf sie erleichtert. Aber der Hauptgrund war ihre Übereffizienz.

Nach dem Abwurf der Atombomben auf Japan konnte man lesen, diese Erfindung werde Kriege unmöglich machen. Bekanntlich gingen die kleinen Kriege weiter, die Großmächte kehrten aber nicht zu den konventionellen Waffen zurück wie einst die Japaner zum Schwert, sondern gingen bis heute den anderen Weg des friedlichen, wenn auch oft mühsamen Ausgleichs. Japans Umgang mit dem Gewehr aber hat jedenfalls bewiesen, daß der Verzicht auf eine effiziente, aber unverträgliche Innovation praktizierbar ist. Nachzulesen im schmalen, gut geschriebenen Buch eines hervorragenden Sachkenners.

Wir sollten uns immer dann an diese Möglichkeit erinnern, wenn die Bede vom Rad der Entwicklung ist, das angeblich nicht zurückgedreht werden kann. Offenbar geht es doch, wenn es sein muß. Die Tatsache, daß die Japaner einander noch eine ganze Weile händisch in von ihnen damals offenbar für1 erträglich befundener Zahl umbrachten, entwertet nicht diese historische Erfahrung. Dabei ist zu beachten, daß sich Japan von der unverträglichen technischen Innovation - nicht per Beschluß von heute auf morgen trennte, sondern in einem langsamen Prozeß.

Mit der Kernenergie könnte es ähnlich laufen. Auch hiebei handelt es sich um eine schwer verdauliche technische Innovation. Wir sollten unsere Überlegungen aber nicht auf technische Innovationen im engeren Sinne eingrenzen. Es lassen sich auch soziale, beispielsweise ökonomische Innovationen nennen, deren Verträglichkeit zumindest fraglich ist, wie etwa die Produktion von Arbeitslosigkeit durch forcierte Rationalisierung oder die Produktion von immer mehr Elend in immer mehr Ländern durch forcierte Globalisierung. Alles Innovationen, deren Schattenseiten sich mittlerweile recht deutlich abzeichnen. Vor-und Nachteile eines vorsichtigen Schrittes zurück sollten wenigstens diskutierbar sein. Soweit, die Schattenseiten der Feuerwaffen schon vor der Einführung zu erkennen, waren freilich auch die Japaner des 16. Jahrhunderts nicht. Weshalb es uns kaum erspart bleiben wird, die Nachteile der Rationalisie-rungs-Schnellfeuerwaffe einer gemeinsamen europäischen Währung auszuprobieren. Perrin selbst ist skeptisch, was den Abschied vom Plutonium betrifft, zweierlei habe Japan aber sehr wohl bewiesen: „Erstens, daß wirtschaftliches Nullwachstum' durchaus mit einem glücklichen und zivilisierten Leben vereinbar ist." Und zweitens, daß „Fortschritt" keine gott-, ähnliche, unerbittliche Kraft sei, die sich der Kontrolle entzieht, sondern sehr wohl „etwas, dessen Richtung wir bestimmen und das wir sogar aufhalten können".

JAPANS RUCKKEHR ZUM SCHWERT j543- 1879

Von Noel Perrin.

Verlag Klett-Cotla, Stuttgart 1996. 176 Seiten, Bilder, Ln., öS 252,-

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