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Denk' ich an China in Europa

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„Denk' ich an Deutschland in der Nacht“: An diesen Vers Heinrich Heines, des großen politischen Vordenkers einer deutsch-französischen Zusammenarbeit im 19. Jahrhundert, wird heute nicht nur von besorgten Deutschen erinnert, die über den Hintersinn von de Gaulies Chinapolitik nachsinnen.

De Gaulle spricht über China und denkt dabei mit jedem Satz, den er spricht, und mit jedem Wort, das er nicht spricht, auch an Europa. An das Europa von morgen. Wie stellt er sich dieses Europa von morgen vor? Das ist für uns alle wichtig, denn Europa steht heute und morgen nun zur Debatte. Der Papst mahnt, fordert auf, die europäische Integration energisch weiterzutreiben. Die beiden Weltmächte, die in Europa mitsprechen, haben sich zumindest auf eine gewisse Zeit gegenseitig paralysiert, gebunden und unbeweglich gemacht: Die gemeinsame Last der riesigen nuklearen Vernichtungsmittel bindet die USA und die UdSSR ebenso wie gemeinsame Aufgaben im Kosmos, wie bedeutende innere Schwierigkeiten. Präsident Johnson, der bis zur Neuwahl des Präsidenten auf jeden Fall mir Kennedys Politik weiterführen kann, weist in seiner Botschaft an den Kongreß vom 20. Jänner 1964 auf letztere hin: Die USA haben mehr als vier Millionen Arbeitslose, zu denen jedes Jahr zwei Millionen, durch Automation und Rationalisierung arbeitsfrei werdende Millionen, stoßen; für ein Fünftel der Staatsbürger gilt der Wohlstand nicht. 35 Millionen Amerikaner sind von Dürftigkeit heimgesucht. Nahezu die Hälfte der farbigen Bevölkerung und mehr als 40 Prozent der auf Farmen lebenden Familien sind arm und „leben ohne Hoffnung“.

Für Europäer mag schon die Vorstellung einer politischen Radikalisierung dieser Millionen — in Amerika kommt nur eine Rechtsradikalisierung in Betracht — berechtigte Sorgen erwecken.

Mit nicht geringer Offenheit hat mehrfach in den letzten Monaten Chruschtschow die großen inneren Schwierigkeiten in der Sowjetunion aufgedeckt. Die Sowjetregierurig hat durch ihre Bemühungen, im Westen Weizen einzukaufen, das Debakel selbst der Weltöffentlichkeit kundgemacht.

Die Bindung der beiden Weltmächte aneinander wurde in der letzten Zeit durch zwei Momente eindrucksvoll sichtbar gemacht: Da Ist einmal die begonnene Zusammenarbeit der USA und UdSSR bei Weltraumprojekten. Und dann dies: Ein schlichter militärischer Kondukt übernimmt von den Sowjets die Leichen der drei USA-Offiziere, die aus dem Wrack der von den Russen über dem Territorium der DDR abgeschossenen amerikanischen Maschine geborgen wurden. Vor wenigen Jahren hätte man da von der Gefahr eines Weltbrandes gesprochen und sich monatelang in Genf und an allen Orten, an denen man miteinander streitet, darüber gestritten. Heute ist das ein „Betriebsunfall“, durchaus vergleichbar mit einem Eisenbahnunglück. Die Bindung der USA und UdSSR aneinander kann kaum eindrucksvoller dokumentiert werden.

Die amerikanische Maschine wurde von den Russen über dem Territorium der DDR abgeschossen, über diesem für ,4ie Russen“ (wir bedienen uns hier in diesem Moment der Ausdrucksweise Charles de Gaulles, der gern von den Russen spricht, wenn er die Sowjets meint) überaus wichtigen, militärisch und politisch wichtigen Territorium, Es ist möglich, daß die Sowjet in absehbarer Zeit aus Ungarn abziehen und auch andernorts In ihrem osteuropäischer! Raum gewisse Lockerungsübungen machen. Wobei die Lockerung der westeuropäischen kommunistischen Parteien von der Herrschaft des Moskauer Primats ebenso zu denken geben muß wie die beachtlichen eigenständigen Bewegungen in Rumänien. All dies wäre natürlich nicht so schnell in Gang gekommen, wenn nicht — sichtbar und unsichtbar in ganz Europa und vor allem natürlich im Bewußtsein seiner Kommunisten — neben Moskau immer auch Peking mitpräsent erscheint. Wobei hinter Stalin und hinter Lenin riesengroß der Schatten des „roten Origenes“, des großen Denkers globaler Revolution, Trotzki, heraufsteigt.

Europa gerät in Bewegung. Der Kommunismus in Europa ist bereits in Bewegung geraten. Die Weltmächte USA und UdSSR sind aneinander fixiert. Für Europa entsteht — so scheint es — eine Bewegungsmöglichkeit wie nie zuvor seit 1938, als Hitler begann, Europa zu „bewegen“. In diesem überaus heiklen Augenblick ergreift Charles de Gaulle die Initiative: Er spricht von China und denkt hauptsächlich an Europa. Dies hat ja die Geister so sehr alarmiert! Großbritannien und kleinere europäische Staaten haben die chinesische Volksrepublik längst anerkannt. Etwas anderes ist — für Europa und die USA — die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und China in dem Moment, in dem der Regierungschef Tschu En-lai seine zweimonatige, am 14. Dezember 1963 begonnene Tour unternommen hat. Ohne Absprache mit Moskau und natürlich mit Washington bricht China aus der vor allem von den Amerikanern geschaffenen Isolierung und Einkreisung aus. Tschu En-lai hat zunächst Ägypten, Algerien, Marokko besucht, zur Jahreswende einen sinnigen Abstecher nach Albanien gemacht. Seine weitere Weltreise führte ihn nach Ghana, Mali, Guinea, Tanganjika, in den Sudan und in andere arabische Länder; zuletzt weilte er in Mogadiscio, in Somali, wo er erklärte: „Die revolutionären Ansichten in Afrika sind hervorragend!“

Neujahr 1700. Der Hof des Sonnenkönigs in Versailles begeht den Beginn des neuen Jahrhunderts, das Frankreichs Geist in die Welt ausstrahlen wird und in der Revolution von 1789 (die nicht mit der zweiten Revolution der Jakobiner zu verwechseln ist!) gipfelt, mit einem Fest „im chinesischen Stil“. Jahrzehnte zuvor haben französische Jesuiten in einem dem Sonnenkönig gewidmeten Werk über Konfuzius Frankreich und Europa die 4000jährige große chinesische Kultur und Weisheit vorgestellt. Nach dem ersten Weltkrieg sinnt der in China stationierte französische Diplomat Paul Claudel über die schwere Problematik weißer christlicher Mission in China, über ihr Debakel nach. Im zweiten Weltkrieg hält in der vom Krieg und Bürgerkrieg eingeschlossenen französischen Botschaft in Peking Pierre Teilhard de Chardin Vorträge über seine kosmischen Visionen. Am 30. Jänner 1964 erklärt de Gaulle vor 900 Presseleuten: „Möglicherweise werden die Kontakte mit China zur Milderung der Kontraste und der dramatischen Gegnerschaft zwischen den beiden Lagern führen, die die Welt zweiteilen. Möglicherweise wird es auch wenig später eine Begegnung der Geister an dem gemeinsamen Punkt geben, den Frankreich der Welt vor 175 Jahren gegeben hat, den Treffpunkt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“

„The light of Reason“: So überschrieb die „New York Times“ ihren Nachruf auf John Kennedy. Dieses Licht der Vernunft verbindet die beiden Bruderrevolutionen, die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Revolution von 1789. Die Katholiken Kennedy und de Gaulle bekennen sich zu diesem Licht, das allen Menschen leuchtet, die fähig sind, kühn, leidenschaftlich und kühl zu denken.

De Gaulle am Grab Kennedys. De Gaulle weiß sich als Nachfolger Kennedys berufen; als ein ehrlicher Makler, der seinen unbeweglichen Freunden in der Welt, in Europa, zu gesunder Bewegung helfen will. Es entspricht durchaus de Gaulies Überzeugung, was sein Wegbereiter in China, Edgar Faure, im Rückblick auf seine Chinamission in den berühmten Interview Anfang dieses Jahres Roger Massip Vom Figaro“ sagte:

„Ich. glaube ..., daß wir der amerikanischen Politik den allergrößten Dienst erweisen, wenn wir die Initiative ergreifen, deren Geist und Umfang wir dann allerdings selber genau steuern werden. Das wird nicht schwierig sein. Die Initiative zu ergreifen, ist überhaupt für uns leichter, als es für die amerikanische Regierung wäre. ,Und sie bewegt sich doch!' sagte einst Galilei und meinte damit die Erde. ,Und sie existiert doch!' sagen wir und meinen damit die Volksrepublik China. Durch tief eingewurzelte Irrtümer, die nicht der gegenwärtigen Regierung zur Last gelegt werden dürfen, ist die Asienpolitik der USA heute in eine Sackgasse geraten. Ein Neubeginn von unserer Seite her könnte möglicherweise das Problem für Amerika auflockern.“

Das Problem für Amerika auflockern — vielleicht auch in Europa?

In seiner Neujahrsansprache hatte de Gaulle erklärt: „Wir sehen dem Tag entgegen, an dem vielleicht in Warschau, Prag, Pankow, Budapest, Bukarest, Sofia, Belgrad, Tirana, Moskau das totalitäre kommunistische Regime . . . sich Schritt um Schritt einer Entwicklung nähert, die mit unserer eigenen Wandlung vereinbar wäre.“

Paris dementiert, daß mit dieser Erwähnung Pankows eine Aufwertung der DDR beabsichtigt wäre. Sehen wir jedoch ohne Scheuklappen den Tatsachen ins Gesicht! Beschwörend spricht de Gaulle davon, sich nicht „dem Gewicht der Tatsachen“ zu verschließen.

Wir erinnern uns: De Gaulle hat lange, bittere Jahre durch viele Reden seinen sich im Bürgerkrieg zerfleischenden Franzosen verschwiegen, daß er Algeriep aus dem Verband des Gesamtstaates entlassen werde. De Gaulle hat seit Jahren nicht verschwiegen, daß er die Oder-Neiße-Grenze zur Kenntnis nehme. De Gaulle dementiert die Zweichinatheorie, nach der es ein Rotchina und ein Tschiangkai-schek-China gebe, und sprach sich in einem Atemzug für Pekings Anerkennung bei Nichtbilligung von Pekings politischer Ideologie und * würdigend für Marschall Tschiang-kaischek aus. De Gaulle wird auch nicht die Zweideutschlandtheorie anerkennen. De Gaulle wird wahrscheinlich nicht die DDR „anerkennen“, das heißt diplomatische und staatliche Vollbeziehungen mit diesem von den Russen geschaffenen Staat aufnehmen. Wohl aber steht etwas anderes heute schon in der Tür; etwas, wozu die Westdeutschen selbst sich bereits herbeigelassen haben: die Zürkenntriis-nahme der Existenz des politischen Gebildes Deutsche Demokratische Republik. Mit ihren Vertretern verhandelt man hinter verschlossenen Türen über den Ausbau des Passierscheinsystems. Von staatlichen Dienststellen der DDR nahm ' man die Akten zur Kenntnis, die den Bundesvertriebenenminister Krüger so schwer belasteten, daß er schriftlich um Entlassung bat und sie von Erhard erhielt. •

Um es klar und offen zu sagen: De Gaulle hält es sehr wahrscheinlich für eine Sache der Diplomaten, für die Aufgabe von Spezialisten, für Kleinarbeit, mit dieser „chose“ fertig zu werden: Die DDR ist nicht voll aufzunehmen — wie China in die UNO — in den Kreis der Gleichberechtigten im europäischen Konzert; da sollen die Russen weiterhin für die DDR sprechen, so wie sie jetzt für die DDR geschossen haben, ein Schießrecht, das ihnen auf deutschem Boden weder die USA noch Paris streitigmachen können noch wollen. Denn das wissen heute schon — auch vor Neuwahlen in England, die vielleicht Wilson zur Regierung bringen — London, Washington, Paris und Rom (das weltliche Rom): Gerade wenn durch das gesteigerte Eigengewicht Europa in Bewegung gerät — im Osten durch die Bewegung in den kommunistischen Parteien und der Oststaaten — und wenn Westeuropa sich zu einer politischen Union verdichtet (wie es de Gaulle eben forderte, und Rom, das geistliche Rom, unterstrich), kann man den „Russen“ (immer in de Gaulles Sprache) nicht den Sieg des zweiten Weltkriegs, ihre feste politische, militärische und wirtschaftliche Position im deutschen Raum, in der DDR, aus der Hand schlagen wollen. Man wird mit ihnen eines Tages über eine Ablösung Ulbrichts reden. Dieses Gespräch hätte aber erst Sinn nach dem Abschluß eines Nichtangriffspaktes zwischen NATO und Ostblock. Ob für „Zwischeneuropa“ eine gewisse militärisch verdünnte oder gar neutralisierte Zone, wie sie de Gaulle jetzt für ganz Südostasien vorschlug, zur Debatte gestellt werden soll — vom Westen her —, will de Gaulle wahrscheinlich der Zukunft überlassen, von der er überzeugt ist, daß sie für ihn arbeitet.

Das sind einige Perspektiven für Europa von morgen. Die interessante Frage: „Wie sieht de Gaulle das Europa von morgen?“, sei hier abschließend durch zwei knappe Hinweise beleuchtet. Italienische, englische, westeuropäische Industrielle wünschen sowohl eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Osteuropa wie auch gewisse Absprachen bezüglich des Eiasatzes auf den afrikanischen und asiatischen Wirtschaftsmärkten von morgen.

Inzwischen trifft sich eine christliche Welt in Europa: Vom 11. bis 14. Februar 1964 tagt der Exekutivausschuß des Weltkirchenrates, in dem über 200 protestantische und orthodoxe Kirchen aus mehr als 80 Ländern zusammengeschlossen sind und in dem amerikanische Kirchen das Hauptgewicht besitzen, in Odessa. „In Rußland“, würde Charles de Gaulle sagen.

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