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Kierkegaard hat dem postmodernen individualistischen und pluralistischen Selbstverständnis den Weg bereitet.

Kierkegaard hat unserem postmodernen individualistischen und pluralistischen Selbstverständnis den Weg bereitet. Seine Kritik der traditionellen Wesensmetaphysik zielte darauf ab, den Einzelnen zu rehabilitieren, dessen individuelle Besonderheit und Einzigartigkeit für die Definition des Menschen schlechthin belanglos war. Kierkegaard ergänzte die Frage nach dem Wesen (essentia) um die nach dem Sein (existentia) des Menschen, das er als eine Tätigkeit auffasste, als geschichtlichen Freiheitsvollzug.

Nicht wie eine Kartoffel

... das Existieren als einzelner Mensch ... ist nämlich nicht Sein in demselben Sinne, wie eine Kartoffel ist, aber auch nicht in demselben Sinne, wie die Idee ist. (un ii, 33)

Mit der Kartoffel teilt der Mensch das Gewordensein in der Zeit, mit der Idee den Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit. Was ihn als Mensch von beiden unterscheidet, ist das Existieren: Der Mensch ist nicht einfach vorhanden (wie die Kartoffel), er west auch nicht in ewiger Präsenz (wie die Idee), sondern bezieht Geschichtliches und Ewiges, Faktisches und Normatives aufeinander, indem er sich dazu verhält, leidenschaftlich und engagiert.

Entsprechend lautet die Eingangspassage in "Die Krankheit zum Tode": Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. (kt, 8)

Ein Individuum stiftet seine persönliche, von der aller anderen Individuen verschiedene Identität, indem es es selbst wird; und es wird es selbst, indem es nicht einfach passiv da ist, sondern sich intellektuell, emotional und affektiv so zu sich selbst verhält, dass es in dieses Selbstverhältnis zugleich alles einbezieht, was im Horizont seiner Lebenswelt Bedeutung hat: die Natur, die Mitmenschen, Gott.

In Gegensätzen leben

Das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten wird erschwert durch die antinomische (widersprüchliche) Grundstruktur, die das menschliche Sein durchzieht. Existieren heißt: in Gegensätzen leben, die sich logisch nicht vermitteln lassen, sondern vom existenziellen Denker, der sich als Vermittler denkend, fühlend, wollend und handelnd zwischen ihnen ausspannt, subjektiv aufeinander bezogen werden müssen.

Wenn er sich als "Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält", zwischen das Ewige und das Zeitliche, das Unendliche und das Endliche, das Notwendige und das Zeitliche schiebt - wenn er also "konkret" wird in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: mit den beiden Polen des Gegensatzes zusammenwächst und diesen aushält, ohne ihn aufzuheben -, bringt er eine bewegliche Einheit hervor, die in jedem Augenblick neu konstituiert werden muss.

Menschliches Sein ist, wie Kierkegaard auch sagt, Zwischensein - inter-esse:

Der Existierende ist unendlich interessiert am Existieren. (un ii, 2).

Dieses angespannte Zwischensein in der ununterbrochenen Tätigkeit des Sichverhaltens stellt sich dar als ein ständiges Auf-dem-Sprung-Sein.

Das Risiko des Sprunges

Um die gegensätzlichen Pole des Seins zusammenhalten zu können, muss der Existierende das Risiko des Sprunges eingehen: Der Sprung [ist] die Kategorie der Entscheidung. (un i, 91; vgl. pb 41)

Der Vorgang des Existierens ist demnach kein Automatismus, der wie ein Naturprozess ohne eigenes Zutun abläuft, vielmehr präsentiert er sich als eine Aneinanderreihung von Freiheitsakten in der Zeit. Die Metapher des Sprunges signalisiert, dass die menschliche Existenz kein statisches Sein ist, sondern dass sich das Individuum als es selbst hervorbringen soll, indem es sein Leben kreativ gestaltet.

Der subjektive Denker ist nicht Wissenschaftler, sondern Künstler. Existieren ist eine Kunst. (un ii, 55)

Existieren erweist sich so als Lebenskunst im Sinne einer produktiven Tätigkeit, eines fortgesetzten Strebens danach, sein Leben gleichsam künstlerisch zu gestalten, und zwar nach Maßgabe einer Idealvorstellung von sich selbst, die primär sinnlich (ästhetisch), moralisch (ethisch) oder religiös (christlich) fundiert sein kann.

Was Kierkegaard nach wie vor aktuell macht und auch diejenigen fasziniert, die seine religiöse Überzeugung nicht teilen, sind seine psychologischen Analysen von Angst und Verzweiflung, die Schilderung von Krisen und Lebenskonflikten aus der Perspektive pseudonymer Figuren, deren Streben nach Glück an ihnen selber scheitert, entweder weil ihr Begehren maßlos ist, oder weil sie nicht sie selbst bzw. ein anderer als sie selbst sein wollen.

Kierkegaard versteht es hinreißend, "das Existenzverhältnis ... in existierender Individualität" (un i, 243) exemplarisch vorzuführen und seine Leserschaft zu einem Urteil über die eigene Lebensform zu provozieren, was ihm gelingt, sobald man sich im Prototyp des Spießers, des Bornierten, des Verführers, des Mystikers, des Ritters der unendlichen Resignation, des Moralisten oder des idealistischen Träumers wiedererkennt.

Polemik gegen Hegel

Was die Lektüre von Kierkegaards Schriften überdies zu einem Genuss macht, ist die Bildhaftigkeit und literarische Qualität seiner Sprache. Besonders wenn Kierkegaard polemisch wird, sind seine Analogien unschlagbar.

Für das Hegel'sche Systemdenken bietet er gleich mehrere absurde Vergleiche an:

1.) Da baut einer ein prächtiges Schloss, wohnt aber selber in der Hundehütte, weil das Schloss ein Luftschloss ist.

2.) Man möchte seine Wäsche in einem Laden waschen lassen, in dessen Schaufenster sich ein Schild befindet, auf dem Waschsalon steht, muss aber unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil nur das Schild zum Verkauf steht.

3.) Das spekulative Denken erinnert an eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, um von hinten in ihr eigenes Auge zu schauen.

4.) Wer sich auf Hegel einlässt, dem ergeht es wie der Hexe, die ihren eigenen Magen aufisst.

Die ironischen Bilder machen noch einmal anschaulich, worum es Kierkegaard als Denker der Existenz geht. In einem bloßen Gedankenkonstrukt - und sei es auch ein alles in Begriffe fassendes System - kann man nicht existieren. Der Verstand als der Konstrukteur des Systems lässt kein anderes Apriori gelten als dasjenige, was einen rationalen und damit denkimmanenten Anfang hat.

Existieren ist nicht irrational

Was hingegen ohne ihn angefangen hat, in der Zeit, aufgrund eines Freiheitsaktes, interessiert ihn nicht, weil er nur das (Denk-) Mögliche zu reflektieren vermag, unter Abstraktion vom logisch Unableitbaren, Konkret-Geschichtlichen.

Eben weil das abstrakte Denken "sub specie aeterni" (vom Standpunkt des Ewigen) her reflektiert, sieht es ab von dem Konkreten, von der Zeitlichkeit, vom Werden der Existenz, von der Not des Existierenden: dass dieser nämlich aus dem Ewigen und dem Zeitlichen, hineingestellt in die Existenz, zusammengesetzt ist. (un ii, 1)

Kierkegaard macht sich lustig über einen Mann, der als existierendes Subjekt denkend davon abstrahieren will, dass es existierend ist (un i, 73); selbst ein Logiker, der sein Leben lang nichts als Logik betrieben habe, existiere doch in anderen Kategorien. (un i, 85) Andererseits ist Kierkegaard kein Agnostiker, der das Existieren als einen irrationalen Prozess begreift. Auch wer existiert, bedient sich seines Verstandes, aber ihm geht es nicht um objektive Resultate, sondern um ihn selbst als existierendes Subjekt.

Die Aufgabe des subjektiven Denkers besteht darin, sich selbst in Existenz zu verstehen." (un ii, 55)

Anregungen zur Lebenskunst

Auch 150 Jahre nach seinem Tod findet man in Kierkegaards Werk Anregungen zur Lebenskunst, die das Streben nach Selbstverwirklichung und persönlichem Glück mit einer Kritik der theoretischen Vernunft verbindet, einer sich selbst aufklärenden Vernunft, der es um die Feststellung ihrer Grenzen geht, jenseits welcher sich ein Raum für die Freiheit eröffnet und damit für individuelle Selbstentwürfe, deren Sinnhaftigkeit ihrer existenziellen Bewährung harrt.

Die Autorin ist emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Basel.

Die Zitate stammen aus:

Soeren Kierkegaard:

Gesammelte Werke

36 Abteilungen in 26 Bänden und

1 Registerband, hg. u. übersetzt v. E. Hirsch, H. Gerdes u, H. M. Junghans, Düsseldorf/Köln 1951-1969

(Reprint Gütersloher Taschenbücher, Gütersloh 1979-1986)

KT = Die Krankheit zum Tode

PB = Philosophische Brocken

UN = Unwissenschaftliche

Nachschrift I/II

Buchtipp:

Soeren Kierkegaard.

Von Annemarie Pieper

C.H. Beck Verlag

(Beck'sche Reihe: Denker)

München 2000.

156 Seiten m. Abb., TB, e 12,90

Soeren Aabye Kierkegaard wurde am 15. Mai 1813 in Kopenhagen als Sohn eines wohlhabenden, streng religiösen Wolltuchmachers geboren. 1830-40 studierte er in der dänischen Hauptstadt Philosophie und lutherische Theologie. Lebenskrise nach Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen (1841). 1841/42 Berlin-Aufenthalt, hier hörte er u.a. Vorlesungen von Schelling gegen Hegel. Dann als Schriftsteller wieder in Kopenhagen, wo er als scharfer Polemiker gegen das zeitgenössische Christentum auftrat (vor allem gegen die lutherische Staatskirche und deren Bischöfe J. P. Mynster und H. L. Martensen). Im Oktober 1855 erlitt er einen Schlaganfall, dem er am 11. November erlag.

Kierkegaards zahlreiche Schriften erschienen meist unter Pseudonym, darunter: Entweder - Oder (1843, von Victor Emerentia), Furcht und Beben (1843, von Johannes de Silentio), Philosophische Brocken (1844, von Johannes Climacus), Der Begriff der Angst (1844, von Vigilius Haufniensis), Achtzehn erbauliche Reden (1845), Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846), Erbauliche Reden in verschiedenem Geist (1847), Die Krankheit zum Tode (1849, von Anti-Climacus), Einübung in Christentum (1850, von Anti-Climacus),War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge? (1854, Polemik gegen den verstorbenen Kirchenführer). ofri

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