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Vor kurzem wurde in New York anläßlich des alljährlichen amerikanischen Historikerkongresses eine Initiative ergriffen, die in Oesterreich nicht unbeachtet bleiben sollte. Rund hundert amerikanische Historiker haben sich zu einer „Conference Group for Central European History“ zusammengeschlossen. Seit geraumer Zeit gibt es in Amerika festorganisierte und sehr aktive Arbeitsgemeinschaften oder Gruppen im Rahmen der Amerikanischen Historischen Gesellschaft für lateinamerikanische, fernöstliche, britische, französische, osteuropäische, sogar italienische Geschichte. Die Aschenbrödelrolle, welche die Geschichte Deutschlands, aber vor allem der von der früheren Monarchie umfaßten Länder des Donauraumes in Amerika bisher gespielt hat, wurde durch den Mangel einer eigenen Studiengruppe illustriert.

Wie einer der Initiatoren der neuen Historikergruppe und ihr erster Vorsitzender, Professor Hans Kohn (City College, New York), Absolvent der Prager Universität und einer der bekanntesten Erforscher der Geschichte des Nationalismus, hervorhob, ging der Anstoß zu der neuen Gruppe von zwei Faktoren aus: der Tatsache, daß die an Mitteleuropa interessierten Historiker fast die letzten sind, die sich noch nicht im Rahmen der Amerikanischen Historischen Gesellschaft zusammengeschlossen hatten, und dem Besuch des Wiener Ordinarius für Neuere Geschichte, Professor Hugo H a n t s c h und seines Assistenten Dr. Fritz F e 11 n e r in Amerika im Oktober und November des vergangenen Jahres.

Dieser Besuch, unter den Auspizien der Rocke-feller-Stiftung, hatte in erster Linie den Zweck, persönlichen Kontakt zwischen Vertretern der österreichischen Geschichtswissenschaft und denjenigen amerikanischen Historikern zu ermöglichen, deren wissenschaftliche Arbeit auf die österreichische Geschichte Bezug genommen hat. Diese Kontaktnahme erfolgte zur Vorbereitung eines größeren Projekts, das erstmalig eine Anzahl von österreichischen und ausländischen Historikern in einer großangelegten Erforschung der Grundlagen des Vielvölkerstaates vereinen soll. Unter der generellen Leitung prominenter älterer Historiker würden Vertreter der jüngeren Historikergeneration aus einer ganzen Reihe von Ländern an die monographische Darstellung von Einzelproblemen des Vielvölkerreiches gehen. Ein derartiges Projekt würde einem dreifachen Ziel dienen:

In erster Linie gibt es eine ganze Reihe von Themen, die uns wichtige neue Erkenntnisse über das Wesen der Monarchie, über das eigentliche Zusammenleben der Völker im Habsburgerreich erschließen können. Obwohl es uns manchmal scheint, daß die Geschichte der letzten 100 Jahre der Monarchie bereits ein gut durch-pflügtes Feld darstellt, hat sich doch die Großzahl aller Arbeiten auf einige Teilgebiete beschränkt: Auswärtige Politik, Verfassungsgeschichte, Parteipolitik. Aber die Geschichte der Verwaltung, des Schulwesens, der Sozialgeschichte harren nach wie vor gründlicher Bearbeitung.

In zweiter Linie mag ein internationales Projekt eine Revision des Geschichtsbildes über die Monarchie einleiten, wie sie in manchen Ländern fällig ist. Wir sollten uns davor hüten, den Einfluß gewisser vielgenannter Namen, wie Wickham Steed, Seton-Watsons oder A. J. P. Taylors, zu überschätzen. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß in mancher Hinsicht die historischen Schulen in ihrer Bewertung der österreichischen Geschichte die Frontstellungen des ersten Weltkrieges, politisch längst überholt, wissenschaftlich beibehalten haben. Auch haben die vielbewegten letzten Jahrzehnte unserer eigenen Entwicklung allzuviel Polemik in die Bewertung unserer Vergangenheit gemengt. Hüben und drüben ist es Zeit zu einem neuen Beginnen, und allerorts mehren sich die Zeichen einer günstigen Atmosphäre für ein solches Werk.

Zum dritten mag eine breit angelegte Durcharbeitung der Probleme des Zusammenlebens der Völker in Oesterreich manche Einsicht in die Bedingungen und Schwierigkeiten der europäischen Integration geben, die gerade jetzt in ein, neues und bedeutsames Stadium tritt. Es handelt sich in keiner Weise darum, das alte Oesterreich als „Modell“ darzustellen, obwohl ein echtes soziologisches und historisches Problem dahinter steht. Aber das Studium von einander ähnlichen Konfigurationen hat zu allen Zeiten Staatsmännern und Architekten neuer politischer Gebilde als Rohmaterial gedient. Geschichtsbetrachtung von solcher Warte aus ist legitim.

Die in New York neugebildete Historikergruppe hat es als eine ihrer ersten Aufgaben erklärt, dem von Professor Hantsch vorgetragenen Forschungsprojekt ihre volle Unterstützung an-gedeihen zu lassen. Es ist zu erwarten, daß führende amerikanische Historiker in weitaus größerem Maße als bisher die Aufmerksamkeit der jüngeren Generation auf das weitoffene Arbeitsfeld der österreichischen Geschichte lenken. Wenn die gegenwärtigen Pläne zu einem positiven Abschluß gelangen, kann man einem Projekt internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit großen Erwartungen entgegensehen. Die Geschichtswissenschaft und Oesterreich können nur gewinnen.

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