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Der 12. November und die Revolutionäre

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Wer kurz gefaßt von dem redet, was im Herbst 1918 in Wien und in Österreich geschehen ist, sprach bisher vom Umsturz. Jetzt, 50 Jahre nachher, taucht nochmals die Frage auf: War es wirklich nur ein Umsturz oder war das Entstehen der Republik Österreich ein revolutionärer Akt? Die Politologen und die Historiker weisen zumeist darauf hin, es sei keine Revolution gewesen; die Parteigänger der nationalen und sozialen Revolution, die in Europa seit 1848 im Gang ist, reklamieren einen revolutionären Akt; die Staatsrechtler sprechen von einer Diskontinuität der Rechtsordnung, von einem Bruch, mit dem der Boden der Staatsgrundigesetze von 1867 verlassen und der Auftrag des kaiserlichen Manifestes vom 18. Oktober 1918 überschritten worden ist. Tatsächlich hat die provisorische Nationalversammlung, die am 21. Oktober 1918 im niederösterreichischen Landhaus zu ihrer ersten Sitzung zusammengetreten ist, die oberste Gewalt über ein in Bildung begriffenes Staatsgebiet aus sich heraus in Anspruch genommen und zur Ausübung dieser Herrschaftsgewalt am 80. Oktober 1918 eine Staatsregierung bestellt. Der so — also durch einen revolutionären Akt — berufenen Staatsregierung Deutsch-Österreichs hat am 31. Oktober 1918 der letzte k. k. Ministerpräsident eine Staatsgewalt übertragen; auf Grund einer Legitimation, die fragwürdig ist. Die Polemik, Revolution oder Umsturz, wird wohl noch eine Zeitlang hin und her gehen. Die heilsame Wirkung dieser Polemik ist zu bejahen. In der Gründungsgeschichte der Republik Österreich gilbt es zu viele Fragen, in denen sich das Ja und das Nein der Streitteile noch nicht bis zur letzten selbstgewissen Klarheit durchgerungen hat. Diese Klärung ist aber eine wichtige Voraussetzung für unsere heutige Selbstinterpretation Österreichs. für das Geschic tsbewußtsein ebenso wie das Staatsbewußtsein.

Hier soll nicht von der vermuteten Revolution, sondern von den Revolutionären die Rede sein. Wie stark ist die revolutionäre Treibladung gewesen, die vor 50 Jahren aus Staatsbürgern einer Monarchie Republikaner gemacht hat? Sind die Deutsch-Österreicher im Herbst 1918 auf eine Existenz in einer Republik vorbereitet gewesen? Die Antwort darauf fällt graduell verschieden aus, je nachdem, welches der drei Elemente der parteipolitischen Trias der österreichischen Innenpolitik angesprochen ist.

Die Deutschnationalen hatten in den letzten Jahren der Monarchie, schon mit Rücksicht auf das Kriegsbündnis des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn, so etwas wie einen Burgfrieden mit dem herrschenden System in Österreich geschlossen. Da sie, wie sie ehedem nicht „hinausschielen“ brauchten, sondern frank und frei hinausgeschaut haben, konnten sie im Grunde keine Republikaner sein. Erst nach dem Tod Kaiser Franz Josephs, auf dessen Bündnistreue sie reflektierten, und nach dem Bekanntwerden der Friedensbemühungen Kaiser Karis, die den Monarchen mit der Obersten Heeresleitung des Deutschen Reiches in Konflikt brachten, vor allem aber angesichts der Gefahr, die von einem Sieg der slawischen Interessen zu drohen schien, orientierten sich die deutschnationalen Kreise Österreichs mehr und mehr nach dem, was für sie die Schicksalverbundenheit mit den Deutschen im Reich gewesen ist. Das völkische Prinzip siegte über die Anhänglichkeit an die monarchische Staatsform. Mag seins, daß die Deutschnationalen der Habsburger Monarchie mit der Faust in der Tasche dienten; in dieser Faust hielten sie aber kein Programm für eine Republik. Sie wurden Republikaner Modell 1918.

Für die Haltung der deutschen Sozialdemokraten in der Spätkrise der Monarchie -ist die Feststellung kennzeichnend, die der sozialistische Publizist Jacques Hannak ein halbes Jahrhundert später in seiner Biographie „Kari Renner und seine Zeit“ getroffen hat. Es heißt dort wörtlich, die Sozialdemokraten hätten 1918 die dem Tod zugaloppierende Schwindsucht der moralischen und physischen Kräfte der’ Monarchie nur diagnostizieren kön-’ nen, nicht aber aufhalten. Man entschuldigt sich quasi dafür, daß man das Ende der Monarchie nicht verhindern konnte; aber man rühmt sich nicht mehr, sie zerstört zu haben. Noch im Frühjahr 1918 hat sich Renner, bis zuletzt ein Anhänger der österreichischen Ökumene, in einem glänzend geschriebenen Buch über das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch einmal zur Lösung des Nationalitätenproblems auf den Boden der Monarchie bekannt. Wenn Jacques Hannak im Jahre 1963 weiters feststellt, die Führung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei hätte im Frühjahr 1918 noch recht wenig Kontakt mit dem wirklichen historischen Geschehen gehabt, dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als daß auch die österreichische Sozialdemokratie erst in den wenigen Monaten zwischen Frühjahr und Herbst 1918 endgültig den Boden der Monarchie verlassen hat, um den Weg auf die Republik einzuschlagen. Während die sozialdemokratische Führung im letzten Jahr des Krieges den sich versteifenden Widerstand ihrer Parteigänger gegen das herrschende Regime vielleicht unterschätzt, waren sich die Christlichsozialen über die kaisertreue Gesinnung in großen Teilen der katholischen Volksbewegung sichtlich im unklaren.

Der Kern der alten Lueger-Bewegung waren Menschen, die weniger durch materielle Interessen als vielmehr durch eine bestimmte Vorstellung von den Beziehungen zwischen Kirche und Monarchie an die Monarchie gebunden waren. Für diese Menschen handelt es sich dabei nicht einfach um eine zeitweilige und daher vorübergehende geschichtliche Gegebenheit, sondern um so etwas wie eine prinzipielle Notwendigkeit. Natürlich haben auch diese Menschen gespürt, daß die Monarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestandes unter schwersten Angriffen der sozialen und nationalen Revolution gestanden hat. Es wäre ihnen aber nicht in den Sinn gekommen, mit diesen Angreifern zu paktieren, oder zu zweifeln, dieser Angreifer Herr zu werden. So ist es sicher keine nachträgliche Übertreibung zu behaupten, daß die deutschsprachigen Katholiken in der Monarchie nicht etwa deswegen den geordneten Zugang zur Republik versäumt haben, weil sie nicht genug Verstand besessen haben, um für diese rechtzeitig ein Programm zu verfassen, sondern weil sie in der überwiegenden Zahl und bis zuletzt nicht willens gewesen sind, mit den in- und ausländischen Zerstörern der Monarchie gemeinsame Sache zu machen. Mag sein, daß die Bewegung in dieser Zeitwende nicht gerade ihre größten Führer gehabt hat; grundsatzlos oder richtungslos ist sie nicht gewesen.

Im Reichsrat in Wien war damals vor 50 Jahren der oberösterreichische Prälat Johann Hauser langjähriger Fraktionsführer der Christlichsozialen. In der konstituierenden Sitzung der „provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreich“ (21. Oktober 1918) hatte der Sprecher dieser Fraktion auftragsgemäß noch einmal eine Erklärung zugunsten der monarchischen Staatsform abgegeben. Zwischen diesem Tag und der Verzichtserklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918 kam unter den Christlichsozialen die Meinungsänderung auf, und zwar nicht so sehr aus Kreisen der Partei in Wien, als vielmehr vom flachen Land her, wie dies Prälat Hauser Ende Oktober klagend vermerkt hat. Bis zuletzt hat der Monarch mit der Anhänglichkeit der katholischen Bevölkerungskreise gerechnet. Nachdem die Nationalräte und -Versammlungen in Prag, Agram und Wien die Herrschaftsgewalt übernommen hatten und der Monarch am 3. November 1918 auch das Oberkommando über die Armee abgegeben hatte, wollte Kaiser Karl wenigstens dieses Halles nicht verlustig gehen. Bis zuletzt glaubte der Erzbischof von Wien, Friedrich Gustav Kardinal Piffl, der Zusicherung des Prälaten Hauser trauen zu können, die Christlichsozialen würden von ihrer positiven Einstellung zur monarchischen Staatsform nicht abgehen. Dem entsprachen auch die von dem damaligen k. k. Minister Ignaz Seipel unternommenen Versuche, auf die sozialdemokratischer! Führer Renner und Seitz einzuwirken. Für dieses Transitorium hat Friedrich Funder die Formel geprägt: Ja zur Staatlichkeit Deutschösterreich, aber kein ausdrückliches Nein zur Monarchie. In der Sitzung des deutsch-österreichischen Staatsrates vom 11. November 1918, in der Hauser präsidierte, sprach sich der niederösterreichische Abgeordnete Wilhelm Miklas dafür aus, daß die endgültige Entscheidung über eine Änderung der Staats- und Regierungsform einer Volksabstimmung Vorbehalten sein sollte. Tatsache ist, daß auch Renner erst in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1918, also nach der Veraichtserklärung des Kaisers vom 11. November 1918, in aller Eile und handschriftlich den Entwurf eines Beschlusses der provisorischen Nationalversammlung Deutsch-Österreichs betreffend die republikanische Staats- und Regie- rungsfoim verfaßt hat. Als die provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 den Entwurf Renners zum Beschluß erhob, lag bereits eine Stellungnahme aus dem österreichischen Episkopat vor, in der die Gläubigen auf die Rechtmäßigkeit des neuen Regimes verwiesen und ihnen aufgetragen wurde, diesem Staatdie Treue zu haltert So habfefi’ die Priester Piffl, Hauser und Seipel die .-ChrtStliicheCÄiälen ten Hürden geleitet, hinter denen dann der Weg in die Republik frei gewesen ist.

Mag man vom rein verstandes- und wissensmäßigen Standpunkt aus zu einer kritischen Einschätzung des Verhaltens der katholischen Volksbewegung von damals und insbesondere ihrer Führer gelangen; mag es so gewesen sein, daß die Sorge der Frauen um ihre Männer im Feld, die Angst der Mütter vor der enormen Kindersterblichkeit, die Todesgefahr der Spanischen Grippe und der bevorstehende Winter ohne Gnade ein zielführendes politisches Handeln fast unmöglich gemacht hat; und mag zutreffen, daß man das Neue, das in diesem Fall ja mit der Aussicht auf ein Ende des Krieges verbunden zu sein schien, verstand, schließlich auch erhoffte, und da und dort schon begrüßte, so gab es doch eine tiefe Bedrückung bei denen, die wußten, daß mit den Formen und Ideen, die zugrunde gingen, auch Menschen gestorben waren, die daran geglaubt, jedenfalls aber unvorstellbare Opfer auf sich genommen hatten. Nicht nur Schwarzgelbe, sondern Sozialdemokraten, Liberale und unzählige Österreicher, die es damals noch nicht gewohnt waren, sich mit einem Parteibuch auszuweisen. Wer diese Mentalität nicht nachfühlen kann und im Rückblick auf die Ereignisse vom Herbst 1918 nur die letzten Tage der Menschheit vor Augen hat, wie sie Karl Kraus beschreibt (oder die ersten Ausbrüche des Boulevardismus der neuen Zeit), wird sich jetzt 50 Jahre nachher umsonst die Frage stellen, wieso es gekommen ist, daß die österreichischen Katholiken damals kein Programm für eine Republik in der Tasche gehabt haben. Mit der später gebrauchten Formel, wonach in der Ersten Republik die guten Demokraten keine guten Patrioten und die guten Patrioten keine guten republikanischen Demokraten gewesen sein sollen, läßt es sich nicht erklären, daß die österreichischen Katholiken damals nicht ihre Gesinnung vergessen haben wie unsereins manchmal den Haustor- schlüsseL

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