6701485-1963_32_03.jpg
Digital In Arbeit

Der 20. Juli 1944 in Wien

Werbung
Werbung
Werbung

IV. Stichwort „ Walküre“ wird ausgelöst

Der 20. Juli war ein heißer Sommertag. Der Wehrmachtsbericht hatte über die schweren Kämpfe im Raum von Caen gemeldet. An der Südfront fanden in Livomo verlustreiche Kämpfe statt, und unheildrohend berichtete das OKW von harten Abwehrkämpfen östlich von Lemberg. Die Luftlage verzeichnete „nordamerikanische“ Bomberverbände über West-, Südwest- und Süddeutschland. Im Gebäude des Wehrkreiskommandos befanden sich um 18 Uhr noch zahlreiche Offiziere, darunter der Chef des Generalstabes Oberst Kodre, der Ordonnanzoffizier Hauptmann Fritz B o 11 h a m-m e r und Hauptmann S z o k o 11. Um 16 Uhr 45 wurde das erste Fernschreiben aus der Bendlerstraße an die Wehrkreiskommandos abgesetzt. Das für Wien bestimmte Fernschreiben langte nach der Erinnerung von Kodre und der Niederschrift von Bollhammer um ungefähr 18 Uhr ein und um 18 Uhr 20 lag der entschlüsselte Text Kodre vor:

..Fernschreiben 1 -FRR-HOKW 02150 20. 7. 44 16.45 FRR an W.Kdo.XVll gKdos Innere Unruhen.

Fixe geu'isseii/ose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen. 11.

In dieser Stunde höchster Gefahr hat die Reichsregierung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung den militärischen Ausnahmezustand verhängt und mir zugleich mit dem Oberbefehl über die Wehrmacht die Vollziehende Gewalt übertragen. III.

Hierzu befehle ich:

1. Ich übertrage die Vollziehende Gewalt — mit dem Recht der Delegation auf die territorialen Befehlshaber — in dem Heimatkriegsgebiet auf den Befehlshaber des Ersatzheeres unter gleichzeitiger Ernennung- zum Ober-befehhliaber im Heimatkriegsgebiet.

Kodres Verantwortung

Die Reaktion Kodres, dem somit plötzlich eine ungeheure Verantwortung aufgelastet wurde, bestand in dem Befehl, sofort den mit den Verhältnissen in Wien völlig vertrauten General der Panzertruppen Freiherrn von E s e-b e c f, der sich im Heereskasino (ehemalige deutsche Botschaft) befand, anzurufen, da — wie Bollhammer berichtete — „etwas Großes geschehen sei“. Der Oberst machte sich schon beim ersten Fernschreiben seine Gedanken über die Unterschrift, denn Generalfeldmarschall Witzleben, der als Oberbefehlshaber unterzeichnete, war längst verabschiedet worden. Anderseits wies der bestimmte Ton des Fernschreibens über „eine Clique frontfremder Parteiführer“ in Richtung auf ähnliche Vorgänge der jüngsten Vergangenheit. Gespenster des Röhm-Putsches, der '0. Juni 1934, dessen Hintergründe dem Österreicher Kodre nicht unbekannt waren, tauchten auf. Der Gedanke eines Wehrmachtsputsches lag ferne und deshalb veranlaßte er die Herbeirufung des kommandierenden Generals und gewisse Sicherheitsmaßnahmen für das Wehrmachtskom-mandp — nämlich die Abordnung eines Zuges und eines sMg-Zuges der Wiener Wachtruppe. Hauptmann Szokoll war vom Einlaufen des ersten Fernschreibens verständigt worden, und zwar durch Bollhammer.

Der Inhalt des zweiten Fernschreibens ließ Kodre „den Ernst der Lage erkennen“, und er gab an Bollhammer den Befehl, eine Reihe von Offizieren zu einer Besprechung um 19 Uhr in das Wehrkreiskommando zu bitten. Mittlerweile — und zwar knapp bevor der völlig ahnungslose General Esebeck im Wehrkreiskommando eintraf— hatte Kodre aus eigener Verantwortung das Stichwort „Walküre“ ausgelöst, und Hauptmann Szokoll begann, die einzelnen Standorte entsprechend den vorgeplanten Maßnahmen zu informieren. Die wichtigsten Offiziere, die für die

Besprechung um 19 Uhr verständig wurden, waren Generalleutnant S i n z i n g e r, Stadtkommandant von Wien, Generalmajor Müller-Derichsweiler, 177. Division, Generalleutnant Mikulicz, 417. Division z. b. r V., Generalmajor K o e 1 i t z, Kom- “ mandeur der Panzertruppen im Wehrkreis XVII, sowie Oberst von D o b e r-n e c k, Kommandeur der Nachrichtentruppen im Wehrkreis XVII, und die wesentlichsten Stabsoffiziere des Wehrkreiskommandos.

Die Rundfunkmeldung

Wegen der Eile führte Kodre die Verständigung zum Teil gemeinsam mit Bollhammer und einem Obergefreiten durch. Von den wichtigsten Offizieren konnten Müller-Derichsweiler, Koelitz und Mikulicz wegen dienstlicher Abwesenheit nicht erreicht werden und waren durch Offiziere ihrer Stäbe vertreten. Bevor noch die Verständigung vollendet war, erfolgte ein Anruf von Oberstleutnant Wackerhagen

(Abwehroffizier) an Bollhammer bezüglich der Rundfunknachricht über das mißlungene Attentat auf Hitler. Diese um 18 Uhr 45 herausgegebene erste Meldung des Rundfunks war dem Ordonnanzoffizier nicht bekannt gewesen. Kodre jedoch glaubt sich zu erinnern, daß knapp vor Eintreffen des ersten Fernschreibens die Rühdfunknach-i -cht von ihm gehört worden sei. Inmitten des hektischen Betriebes der Verständigung der Offiziere und der Überlegungen, die Kodre anstellte, was er nun nach dem zweiten Fernschreiben zu tun hätte, traf der kommandierende General ein und billigte alle getroffenen Maßnahmen, ordnete aber an, daß eine Rückfrage in Berlin beim Befehlshaber des Ersatzheeres erfolgen sollte. In kürzester Zeit hatte Oberst Kodre, den Dienstweg einhaltend, den Chef des Generalstabes, nämlich Oberst Graf Stauffenberg, am Apparat, der nicht nur die Richtigkeit der beiden Fernschreiben bestätigte, sondern die Beschleunigung der Maßnahmen verlangte.

Somit war der schwierigste Teil der Befehle durchzuführen, die Festnahme der Spitzen der Partei und vor allem der SS und Gestapo. Gedeckt durch Esebecks Zustimmung begann nun, während sich um ungefähr 19 Uhr 20 die verschiedenen Offiziere versammelten, die Verständigungen der politischen und polizeilichen Funktionäre zu einer dringenden Besprechung um 20 Uhr. Als Versammlungsort war das Zimmer des Befehlshabers angegeben. Hauptmann Szokoll, der inzwischen beschleunigt auf die verschiedenen Außenkommandos im Sinn der Alarmierung eingewirkt hatte, gab der Wache, die bereits mit scharfer Munition ausgerüstet war, Weisung, „alle Personen, die nicht Wehrmachtsuniform tragen, am Verlassen des Gebäudes zu hindern, im Weigerungsfall festzunehmen. Bei Widerstand ist von der Waffe Gebrauch zu machen.“

Die wichtigsten Funktionäre fehlen

Der Personenkreis war wie folgt festgelegt: der Gauleiter von Wien, Reichsleiter von S c h i r a c h, der Gauleiter von Niederdonau, Dr. J u r y, der höhere SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Q u e r n e r, der Oberbefehlshaber der Ordnungspolizei, Generalleutnant Schumann, und der Standortkommandant der Waffen-SS, Generalmajor G o e d e c k e (so die anscheinend unvollständigen Angaben Bollhammers). Außerdem müssen noch der Inspekteur des SD und der Sicherheitspolizei, H u b e r, sowie Sturmbannführer Dr. Ebner von der Gestapo und Standartenführer Dr. M i 1 d n e r eingeladen worden sein, da eine diesbezügliche Aussage im Kaltenbrunner-Bericht vorliegt und das Auftreten der beiden Gestapofunktionäre in der Endphase in Wien im entscheidenden Moment erfolgte. Zwei der wichtigsten politischen Funktionäre waren nicht anwesend: Schirach, der sich zum Begräbnis seiner Mutter außerhalb von Wien befand, und Jury, der dienstlich von Wien abwesend war. Der in seiner Vertretung erschienene Adjutant, SS-Obersturmführer Köhler, entfernte sich später wieder, um den Regierungspräsidenten, Dr. Gr über, zu holen, ein Vorwand, aber auch ein Beweis, daß die von Szokoll angeordneten Sperrmaßnahmen des Hauses nicht vollständig funktionierten. Der höchste anwesende politische Funktionär, der gemeinsam mit Querner, Schumann, dem Stellvertreter Gödekes, SS-Brigadefüh-rer Ludwig zunächst erschien, war der Stellvertretende Gauleiter S c h a r i-z e r. Scharizer, der aus der alten Garde der österreichischen NSDAP kam und Schirach meist die unangenehmen parteiinternen Arbeiten abzunehmen hatte, war ebenso uninformiert wie alle anderen mit Ausnahme eines einzigen, nämlich des Gaupropagandaleiters F r a u e n f e 1 d, der nach Angaben Bollhammers durch die Adjutantur verständigt worden sein soll. Frauenfeld, ein Bruder des ehemaligen Wiener Gauleiters, sollte im weiteren Verlauf der Freienisse noch eine besondere Rolle spielen.

Die Parteiführer werden verhaftet

Nach den vorliegenden Quellen verhielten sich die einzelnen Versammelten, die man zunächst durch den kommandierenden General empfangen ließ, ruhig, nachdem Kodre ihnen den Inhalt des Fernschreibens bekanntgab. Querner bemerkte nach Einblick in die Fernschreiben zu Kodre: „Wenn Sie mir das sagen, glaube ich Ihnen doch.“ Allerdings muß dieser höchste SS-Führer im Wehrkreis noch im Vorzimmer des Ordonnanzoffiziers einen Funken von Mißtrauen verspürt haben, denn er erkundigte sich bei Hauptmann Bollhammer nach der Person des Generals von Esebeck und fragte sehr betont, ob dies neu sei, daß der Befehlshaber (nämlich der abwesende General Schubert) durch einen vom OKH entsandten General vertreten werde und ob General von Esebeck eigens zu diesem Zweck hierher kam. „Weiters sprach er“ — so die Niederschrift Bollhammers —, „daß scheinbar die vollziehende Gewalt auf den Befehlshaber, also auf das Heer übergegangen sei.“ Man fügte sich resignierend dem Ablauf der Ereignisse. Die Befehle gingen weiter hinaus, die Verhafteten wurden nach ihrem Einlangen in den verschiedenen Zimmern festgesetzt, allerdings unter Beistellung von Speisen und Getränken.

Die beiden Fronten Wehrmacht-Partei hatten sich noch nicht geklärt. Noch schien das Übergewicht bei der bewaffneten Macht zu liegen. Niemand wußte von den Ereignissen in Berlin, niemand ahnte etwas ven Remers eigenmächtiger Aktion und den schwerwiegenden Fehlern, die Fellgiebel durch die Unterlassung des Sprengens der Nachrichtenzentrale in Rastenburg begangen hatte. Über den raucherfüllten Räumen im Wiener Kriegsministerium, wo die Fernschreiber und Telephone in Tätigkeit waren, Ordonnanzoffiziere und Generalstabsoffiziere ihre Pflicht erfüllten, lag die bange Frage, was die nächsten Minuten oder Stunden bringen würden.

(Wird fortgesetzt)

Das zweite Fernschreiben

Jedoch schon kurze Zeit darauf lief das zweite Fernschreiben ein, welches von Oberst Graf Stauffenberg und Generaloberst Fromm (der sich allerdings bereits in der Haft der Berliner Gruppe befand) unterzeichnet war ...

„b) Verhaftungen: Ohne Verzug ihres Amtes zu entheben und in besonders gesicherte Einzelhaft zu nehmen sind: sämtliche Gauleiter, Reichsstatthalter, Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten, höhere SS-uud Polizeiführer, Gestapoleiter und Leiter der SS-Dienststellen, Leiter der Propagandaämter und Kreisleiter. Ausnahmen befehle ich. c) Konzentrationslager: Die Konzentrationslager sind beschleunigt zu besetzen, die Lagerkommandanten zu verhaften, die Wachmannschaften zu entwaffnen und zu kasernieren. Den politischen Häftlingen ist zu eröffnen, daß sie sich bis zu ihrer Entlassung aller Kundgebungen umd Einzelaktionen zu enthalten haben. d) Waffen-SS: Bestehen Zweifel am Gehorsam von Führern der Verbände der Waffen-SS oder der Standortältesten der Waffen-SS oder erscheinen sie ungeeignet, sind sie in Schutzhaft zu nehmen und durch Offiziere des Heeres zu ersetzen.

Verbände der Waffen-SS, deren uneingeschränkte Unterordnung zweifelhaft ist, Sind rücksichtslos zu entwaffnen. Dabei energisches Zugreifen mit überlegenen Kräften, damit stärkeres Blutvergießen vermieden wird. e) Polizei: Die Dienststellen der Gestapo und des SD sind zu besetzen. Im übrigen ist die Ordnungspolizei zur Entlastung der Wehrmacht weitgehend einzusetzen.

Befehl ergeht durch den Chef der Deutschen Polizei auf dem polizeilichen Kommandoweg. f) Kriegsmarine und Luftwaffe: Mit den Befehlshabern der Kriegsmarine und Luftwaffe ist Verbindung aufzunehmen. Gemeinsames Handeln ist sicherzustellen .. .

III.

Fär die Bearbeitung aller politischen Fragen, die sich aus dem militärischen Ausnahmezustand ergeben, bestelle ich bei jedem Wehrkreisbefehlshaber einen Politischen Beauftragten. Dieser übernimmt bis auf weiteres die Aufgaben des Verwaltungschefs. Er berät den Wehrkreisbefehlshaber in allen politischen Fragen.

IV.

Bearbeitende Stelle des Oberbefehlshabers im Heimatkriegsgebiet in allen Angelegenheiten der Vollziehenden Gewalt ist der Heimatführungsstab. Er entsendet zu den Wehrkreisbefehlshabern zur wechselseitigen Unterrichtung über Lage und Absichten einen Verbindungsoffizier (VO OKH). V.

Bei Ausübung der Vollziehenden Gewalt dürfen keine Willkür- und Racheakte geduldet werden. Die Bevölkerung muß sich des Abstandes zu den willkürlichen Methoden der bisherigen Machthaber bewußt werden.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung