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Der 29. April und das österreichische Parlament

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Manchmal scheint es, als ob ein bestimmter Tag in der Geschichte einer Person oder einer Institution besondere Bedeutung habe. Mag es sich dabei vielleicht um Zufälligkeiten handeln, die erst durch die Rückschau des Historikers einen auffallenden Zusammenhang erhalten, so ist es doch jedenfalls reizvoll, diese wiederkehrenden Tage, die häufig zugleich Wendepunkte einer geschichtlichen Entwicklung sind, in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Ein solcher Tag ist der 29. April in der Geschichte des österreichischen Parlaments.

Am 29. April 1861 wurde das provisorische Abgeordnetenhaus vor dem Schottentor in Wien eröffnet, für das die Gegner der Februarverfassung später den Spottnamen „Schmerling-Theater“ geprägt haben. Bekanntlich wurde erst im Februar 1861 nach dem kurzen Zwischenspiel des Konstituierenden Reichstages 1848/49 der parlamentarischen Demokratie auch in Oesterreich ein — zunächst noch sehr bescheidenes — Dasein gegönnt. Ein Abgeordnetenhaus und ein Herrenhaus bildeten den sogenannten Reichsrat. Bereits am 22. April 1861 erfolgte die Konstituierung des Herrenhauses durch die Berufung von 57 Vertretern der hohen Adelsgeschlechter; der hohe Klerus war durch die Erzbischöfe und jene Bischöfe vertreten, welche fürstlichen Rang hatten. Dazu kamen 39 lebenslängliche Mitglieder; Männer, die sich um den Staat oder die Kirche, um Wissenschaft oder Kunst verdient gemacht hatten. In das Abgeordnetenhaus sollten durch die Landtage 343 Mitglieder gewählt werden. Die Vertreter der Königreiche und Länder ohne Ungarn wurden als engerer Reichsrat bezeichnet und verfügten über 203 Mandate. Die 8 5 Vertreter Ungarns, 26 Vertreter Siebenbürgens, 20 Vertreter Lom-bardo-Venetiens und die 9 Vertreter Kroatiens blieben den Sitzungen des Abgeordnetenhauses größtenteils ferne.

Wahrscheinlich zweifelte man, daß den parlamentarischen Einrichtungen eine längere Lebensdauer beschieden sein werde; denn obwohl von Februar bis April 1861 bei Tag und Nacht in größter Eile gearbeitet wurde, errichtete man doch nur einen Notbau aus Riegelwänden, der in seiner ursprünglichen Form nicht einmal den Ausschüssen und Klubs Unterkunft schaffte, sondern lediglich den Plenarsitzungen des Abgeordnetenhauses genügend Raum bot. Das Herrenhaus mußte sich bei den niederösterreichischen Landständen im Landhaus einmieten, während die Ausschüsse des Abgeordnetenhauses im Waffensaal des bürgerlichen Zeughauses Am Hof tagten.

Am 29. April 1861 — einem kalten, regnerischen Tag — wurde zunächst ein feierlicher Gottesdienst im Stephansdom zelebriert. Um 1 Uhr mittag erfolgte die Vorstellung der Präsidenten beider Häuser durch die Regierung und die Angelobung der Mitglieder. Doch bot die Eröffnungssitzung wegen des Ausbleibens vieler Abgeordneter keinen glänzenden Anblick. Bereits--am 2. Mai schrieb ,,Das Vaterland“: „Das neue Parlamentsgebäude vor dem Schottentor ist, wenigstens in seinem Inneren, noch für einige hunderttausende der Bewohner Wiens ein bisher vergebens ersehntes Objekt ihrer Schaulust und schon ist eine Bestimmung erfolgt, welche darauf hinweist, daß es die Repräsentanten der österreichischen Völker nicht sonderlich beherbergen dürfte. Nachdem nämlich die Kommune Wiens es abgelehnt hat, für die Errichtung des neuen Stadthauses den anfangs dafür bestimmten Bauplatz auf dem Glacis zwischen der Augartenbrücke und dem Zeughausdamme in Anspruch zu nehmen, wurde von dem Ministerium des Inneren verfügt, daß dieser Bauplatz nicht an Private verkauft, sondern zur Erbauung eines bleibenden, beide Abgeordnetenhäuser umschließenden Parlamentsgebäudes reserviert bleiben solle.“

Freilich dauerte es ein Viertel Jahrhundert, bis schließlich beide Häuser des Reichsrates in dem von Theophil Hansen erbauten griechischen Prachtbau an der Wiener Ringstraße vereinigt werden konnten. Die Macht des Staates und die Bedeutung politischer Freiheit wurden gleichermaßen in dem neuen Parlamentsgebäude symbolisiert, dessen vornehme Architektur auch den parteiischen Leidenschaften mäßigende Fesseln auferlegen sollte. Diesem Prachtbau — einem Wahrzeichen österreichischer Demokratie — hatte der vergangene Krieg schwere Wunden geschlagen. Bombenvolltreffer im Februar 1945, Artillerieeinwirkung und Brand während der Kampfhandlungen beim Einmarsch der Roten Armee, schließlich die Verschleppung wertvoller Einrichtungsgegenstände machten es wiederum zu einem Symbol, nämlich dem unserer damaligen Notzeit im Jahre 1945.

Da war es wieder ein 29. April, der für die Geschichte der österreichischen Demokratie einen neuen Anfang bedeutete. Darüber schrieb das „Neue Oesterreich“:

„Der 29. April 1945 wird als ein Datum von größter historischer Tragweite in Oesterreichs Geschichte eingehen; an diesem Tage wurde die echte Demokratie, als Ausdruck des spontanen Volkswillens, in Oesterreich neu geboren. Dieses Ereignis fand in einem feierlichen Staatsakt, der sich zwischen dem Volk und den Mitgliedern der provisorischen Regierung buchstäblich auf der Straße bekundete, seine unvergeßliche Krönung.

Während die Regierungsmitglieder, an der Spitze Staatskanzler Dr. Renner, unter dem freudigen Jubel der auf dem Ring versammelten Zehntausenden langsam vom Rathaus zum Parlamentsgebäude schritten, wölbte sich über den Vertretern aller antifaschistischen Parteien und dem Volke als das einigende Band die Masse der in der Frühlingssonne leuchtenden rotweißroten Farben.

Auf der Parlamentsrampe begrüßte der russische Stadtkommandant Generalleutnant Blagodatow die Regierung mit folgenden Worten: .Herr Staatskan-ler! An dem historischen Tage der Wiederherstellung der alten österreichischen Republik begrüße ich Sie und die Mitglieder der provisorischen österreichischen Regierung vor diesem denkwürdigen Gebäude. Ich gebe dabei der Hoffnung Ausdruck, daß die neue österreichische Regierung mit voller Unterstützung der Roten Armee den Aufbau des demokratischen Oesterreich vollbringen werde.

Ich bin überzeugt davon, daß die neue österreichische Staatsregierung so wie sie die Ruinen dieses Hauses, die die Deutschen hinterlassen haben, wieder beseitigen, auch die demokratische österreichische Republik mit Erfolg aufbauen wird.'“

Heute, nach zehn Jahren, können wir mit Befriedigung feststellen, daß wir unsere Vorsätze vom 29. April 1945 erfüllt haben: Das Parlamentsgebäude ist wieder in gebrauchsfähigem Zustand und unser Staatswesen hat eine festgefügte demokratische Grundlage erhalten. Der historische Sitzungssal des ehemaligen Abgeordnetenhauses beherbergt wieder eine demokratische Volksvertretung, nämlich den Nationalrat unserer Republik.

Dennoch bedarf es noch vieler Arbeit und Mühe, um unsere demokratischen Einrichtungen weiter auszugestalten. Und auch im Parlamentsgebäude sind noch große Wiederaufbauarbeiten am Herrenhaustrakt durchzuführen. Die Obmännerkonferenz des Nationalrates hat den Wunsch geäußert, daß die Herstellungsarbeiten im Herrenhaussitzungssaal im Laufe des Jahres 1956 vollendet werden. Schon in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg — nämlich von 1918 bis 1934 — fanden die Sitzungen der Volksvertretung nicht in dem weiträumigen Sitzungssaal des ehemaligen Abgeordnetenhauses, sondern in dem etwas kleineren Sitzungssaal des Herrenhauses statt. Dieser war allerdings im Jahre 1945 total zerstört und wird nunmehr für die Bedürfnisse des Nationalrates vollkommen umgestaltet. Im neuen Sitzungssaal sollen auch verschiedene moderne Einrichtungen eingebaut werden, um den Volksvertretern eine zweckmäßige Arbeitsstätte zu bieten. Zwar wird die grundsätzliche amphitheatralische Anordnung beibehalten werden, aber ansonsten wird der neue Sitzungssaal keine Aehnlichkeit mit seinem Vorgänger, dem prunkvollen Herrenhaussaal, aufweisen. Weniger zeremoniell, nüchterner, man könnte vielleicht sogar sagen bürokratisch, wie jede alltägliche Arbeit der Parlamentarier geworden ist, so wird sich auch ihre neue Arbeitsstätte den Journalisten und Besuchern der öffentlichen Sitzungen zeigen. Ein neuer Stil der parlamentarischen Arbeit hat sich in unserer Republik seit 1945 herausgebildet; ein neues Stilelement wird auch nach der Wiedereröffnung des ehemaligen Herren-haussitzungssaales im Wiener Parlamentsgebäude zu finden sein. Wäre es nicht schön, wenn das Präsidium des Nationalrates den neu errichteten Sitzungssaal am 29. April 1956 vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau übernehmen könnte?

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