Vor fünfundzwanzig Jahren, am 30. Jänner 1933, wurde Adolf Hitler Reichskanzler.
Das Problem des 30. Jänner heute heißt nicht: Adolf Hitler, betrifft nicht so sehr die Person dieses am 20. April 1889 in Braunau am Inn geborenen Mannes, der als Meldegänger und Gefreiter in einem bayrischen Regiment den ersten Weltkrieg mitmachte, dann in der politischen Abteilung 4er 7. Armee arbeitete, in deren Auftrag 1919 in Fühlung mit der „Deutschen Arbeiterpartei“ trat, 1920 deren Führung übernahm, den zweiten Weltkrieg begann und sich am 30. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei in Berlin eine Kugel in den Mund schoß. Das Leben eines Mannes, von April zu April, von einem Weltgewitter zum anderen, in einer Zwischenzeit.
Das Problem des 30. Jänner heißt heute nicht: der Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war nach 1945 zunächst eine Angelegenheit der Gerichte, die sich, wenig dazu berufen, mit minderem Geschick mit etlichen seiner unseligen Anhänger befaßten, war dann Gegenstand einer wenig glücklichen Gesetzgebung, die sich mit den Massen seiner unglücklichen Anhänger befaßte, wurde dann Gegenstand der Geschichtsschreibung, die sich bis heute ebenfalls noch nicht sehr erfolgreich mit diesem schwieligen Problem auseinandersetzt, und ist heute für kleine Gruppen Objekt einer tabuierten Verehrung, für breitere Schichten Gegenstand einer Erinnerung, in der Schmerz und Stolz, Erhebung und Erniedrigung, Aufstieg und Niedergang verschmelzen und immer mehr vergleiten in den Wogen des Lebens, wie es hier und heute uns alle forttreibt, neuen Ufern zu ...
Das Problem des 30. Jänner heute, nach einem Vierteljahrhundert, ist ein gesellschaftliches Problem und ein weltpolitisches Problem. Beide gehen uns alle an und sind ungelöst.
Das weltpolitische Problem wird uns vielleicht am schnellsten sichtbar, wenn wir dem 30. Jänner 1933 den 30. Jänner 1948 gegenüberstellen: vor zehn Jahren wurde Gandhi das Opfer eines Attentats. Täter war ein fanatisierter religiös-politischer Mohammedaner. Gandhi selbst war tief vom Islam beeinflußt und hatte eben zuvor ein Fasten der Lösung des schweren Problems der Koexistenz zwischen Hindus und Mohammedanern im indischen Raum gewidmet.
Adolf Hitler und Mahatma Gandhi! Gibt es einen schärferen Kontrast als eben diesen? Da steht der Rufer des Krieges, ein Sohn des Krieges und Vater des Krieges; und da steht der Prediger des Friedens, der Gewaltlosigkeit.
Viele Asiaten und Afrikaner sehen den Gegensatz zwischen Hitler und Gandhi nicht ganz- ein. Nicht wenige der jungen Volksführer der erwachenden Völker suchen zwischen Gandhi und Hitler ihren Weg. Und niemand vermag heute bereits zu sagen, ob sie, in Südamerika, Afrika und Asien, als Führer oder Verführer ihrer Völker in die Geschichte eingehen werden. Werden sie der Versuchung einer schrecklichen Vereinfachung widerstehen? Dieser Versuchung, die für Adolf Hitler 1933 und für sie heute eben darin besteht, sehr schwere, vielfältige Probleme „einfach“ zu lösen: durch eine Partei, eine Fahne, eine Totalmacht, ein Alphabet von Schlagworten; durch die Abwälzung aller Schwierigkeiten auf zwei Sündenböcke — einen im Innern (die „bösen“ Schwarzen, Roten, Juden), einen im Außen (die bösen Bolschewiken, Franzosen, Amerikaner, Weißen, Christen)?
Wer die Machtübernahmen in Südamerika, Afrika — da gerade in sehr „demokratischen“
Formen, etwa in Ghana —, Indonesien, China und anderen Staaten in diesen letzten 10 Jahren seit dem 30. Jänner 1948, dem tödlichen Anschlag auf Gandhi, beobachtet, wird das bedrückende Gefühl nicht los: die Ekstasen, die Massenmeetings, die Aufmärsche, die einstimmigen Wahlen, der heisere Heilsschrei dieser erwachenden Völker erinnert nicht nur brennscharf an das „Deutschland erwache“, sondern mahnt uns alle, daß hjer ein universales, gesellschaftliches Problem vorliegt, das — täuschen wir uns nicht — in keinem Kontinent dieser Erde wirklich befriedigend, und das heißt friedenschaffend gelöst ist.
Dieses Problem besteht in einigen seiner wesentlichen Elemente in folgendem: Wie können die Massen, die beute uberall auf dieser Erde weithin ungebildet, unerzogen, zugleich dem Sog der Verführung durch die Anbietungen einer Industrie ausgesetzt sind, die ununterbrochen alle Organe des einzelnen bearbeitet und zu., gesteigertem Konsum, Genuß, Vergiftung verführt, wie können diese Massen dem Druck der Lebensgier und Todesangst standhalten?
Als politisches und gesellschaftliches Problem heißt das: da innerlich ungeformt, „unerzogen“, weich, allen Versuchungen und Verlockungen ausgesetzt, schweben und schwanken unsere Massen hin und her zwischen Lebensgier und Todesangst. Jeder will „seinen“ Anteil am Sozialprodukt, möchte möglichst schnell mehr verdienen, zu seinem Auto, seinem Haus kommen; und sieht sich da umgeben von Millionen von Konkurrenten, von potentiellen Feinden, die ihm den bereits ersehnten fetten Bissen vor dem Munde wegnehmen. Damit aber stehen wir heute noch — oder besser: morgen wieder — in einer fundamental ähnlichen Situation, wie das deutsche Volk am Vorabend des 30. Jänner 1933. Wer diese bittere Wahrheit nicht zu sehen wagt, verschließt sich die Aussicht in eine bessere Zukunft und bindet sich die Hände, die für harte, nüchterne Arbeit nötig sind, um die Engpässe zu überwinden.
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Adolf Hitler ist auf legalem Wege zur Macht gekommen. Nach dem mißglückten Putsch, den er im Verein mit Ludendorff am 8./9. November 1923 in München unternommen hatte, entschied er sich für die Eroberung der Macht mit den Mitteln der Demokratie. Der Reichswehrprozeß in Ulm 1930, in dem er den Legalitätseid leistete, brachte ihm die reichsgerichtliche Bestätigung der Legalität seiner Bewegung. Im selben Jahr verband er sich in der „Harzburger Front“ mit. den Deutschnationalen und anderen rechtsgerichteten Verbänden und gewann diese als Mitläufer für seinen Kampf gegen den „Bolschewismus“. Die Verbindung mit der deutsch-nationalen Großindustrie öffnete ihm die wichtigste Verbindung (über Kirdorf und Thyssen und andere prominente Wirtschaftsführer). Kein geringerer als Alfred Krupp von Bohlen-Halbach hat in seinem Prozeß 1946 in schöner Offenheit dies einbekannt: Wir entschieden uns für Hitler, weil er uns Arbeit, Aufbau, Gewinn versprach und verschaffte.
Adolf Hitler ist nicht als Autor des in mangelhaftem Deutsch geschriebenen Buches „Mein Kampf“, das viel verkauft, sehr wenig gelesen wurde, zur Macht gekommen. Adolf Hitler ist nicht als Heilsführer der tausend einander bekämpfenden Sekten und Bünde der prophetischen „deutschen Bewegung“ zur Macht gekommen, die ihr Selbstzeugnis im „Mythus des 20. Jahrhunderts“ Rosenbergs fand, einem Werk,
das Hitler — wie er gern gestand — selbst nie gelesen hat. Adolf Hitler ist nicht als Wortführer des Antisemitismus zur Macht gekommen. Dieser. „Fall“ ist besonders interessant- sehr sorgfältige, von jüdischen Forschern mit hoher Objektivität mitgetragene Untersuchungen der letzten Jahre haben ergeben: das deutsche Volk war am Vorabend der Machtübernahme nicht mehr und nicht minder „antisemitisch“ als viele andere Massengesellschaften der Gegenwart, wo es im Staudruck der Industrialisierung und Kapitalisierung zu Spannungen mit dem jüdischen Element kommt. Weiteste Schichten des deutschen Volkes nahmen dem Juden gegenüber lange noch nach der Machtübernahme eine zumindest neutrale Haltung ein, wenn nicht gar eine wohlwollende, was die Tage nach der „Kristallnacht“ 1938 zeigten. Adolf Hitler hat den europäischen Antisemitismus nicht erfunden, sondern erst später, in steigender Verklemmung, politisch als furchtbare Waffe ausgebaut und eingesetzt. Adolf Hitler ist nicht allein als hochbegabter Agitator zur Macht gekommen, der mit seinem Instinkt für den Untergrund der Triebe und Leidenschaften von unten her das Kanalsystem der Nerven und das Seelenklavier der Massen ansprach und füT sich gewann.
Die Massen strömten Adolf Hitler erst 1929 zu, in direktem Zusammenhang mit der Welt-
wirtschaftskrise. Millionenheere deutscher Arbeitsloser und Millionen deutscher Kleinbürger, in Angst um das tägliche Brot, in der Hoffnung, „Arbeit und Brot“ zu gewinnen, wie es die Devise des „Völkischen Beobachters“ täglich versprach. Angst um das tägliche Brot und Angst vor dem bösen Feind da draußen vor der Tür, verbanden die Massen, und dann auch, wie das führende katholische Lexikon von heute, 1957, vermerkt, seine geschickte Ausnutzung der allgemeinen Furcht vor dem Bolschewismus und der Kriegsangst. 1933 und 1958 verbindet diese Angst ein gemeinsamer Grundton: gesteigerte innere Unsicherheit (woher? wohin? Ausdruck einer fehlenden Orientierung des einzelnen und der Massen in Welt, Kosmos, Gesellschaft der Menschheit und Natur) und gesteigerte Lebensgier.
Damals, in der Nacht der Lebensgier und Wirtschaftsangst nach 1929, atmeten die Wirtschaftsführer auf, als sich der energische, hartgewordene Mann aus dem Oesterreichischen im „Mercedes“ von ihnen empfahl, in Dreesens Hotel in Godesberg am Rhein; sie würden Arbeit bekommen für die Heere ihrer Arbeiter. Viel Arbeit, gut bezahlt.
Heute warten, in der Nacht des Karneval 195 8, die „Mercedes“ auf ihre Herren, die da drinnen, im erleuchteten Saal für einige
Stunden ihre brennenden Sorgen vergessen. Die Sorge, ob nämlich nicht die lang vorhergesagte Wirtschaftskrise doch kommt. Die USA haben an die 4 Millionen Arbeitslose (1929: 12 Millionen). Nun, das neue Rüstungsprogramm wird Arbeit schaffen, viel Arbeit, in Amerika und Westeuropa.
Was aber dann? — Auf diese Frage der Zukunft hat noch niemand im Westen eine Antwort gegeben, die befriedigt, da sie offene Wege zur Freiheit und zum Frieden anzeigt. Hitlers Antwort auf dieselben Grundfragen ist scheinbar bekannt, wird aber heute zuwenig bedacht. Sie ist von erregender Gegenwartsbedeutung. Hitler entzog sich einer Antwort, indem er Tatsachen schuf. Ueberwältigende Tatsachen, vor denen das bessere Wissen und Gewissen kleiner Gruppen von Intellektuellen und Gebildeten verstummte, zum Schweigen gebracht wurde: Arbeit und Brot für die Massen wie nie zuvor. Einen Lebensstandard für breiteste Schichten, der sich in aller Welt sehen lassen konnte und im deutschen Volke bis dahin nicht bestanden hatte.
Im Glänze dieser überwältigenden Tatsachen, die alle, fast alle überblendeten (warum wollen wir es immer noch nicht zugeben? Wie manche, auch gut katholische Gebildete sprachen wir damals, zwischen Berlin und Wien, die voll der
ehrlichen Bewunderung für dieses Werk waren), nahm er. still, leise, fast unbemerkt, einige „Kleinigkeiten“, auf die die Massen damals wie heute wenig Wert legten: die Grundrechte und Grundlagen des Rechtsstaates.
Und stieg so, vom Führer der stärksten Partei im Reichstag vom 30. Jänner 1933 zum „Führer und Reichskanzler“, zum unmittelbaren Befehlshaber der Wehrmacht (kurz vor der Machtübernahme in der „Ostmark“) zum obersten Kriegsherrn 1939—1945 auf.
Das uns heute Erregende an diesem Aufstieg zu ungeheuerlicher Macht ist nicht dieses Faktum von damals an sich, sondern seine „Grundlage“, die heute noch gegeben ist: Wer den Massen „Arbeit und Brot“, höheren Lebensstandard, wenn möglich noch Vernichtung eines „Feindes“, verspricht, kann zunächst einmal fast alles von ihnen haben. Auf jeden Fall jene „Kleinigkeiten“, die Grundrechte des Rechtsstaates, das Recht auf Mitverantwortung und Mitsprache in innen- und außenpolitischen Fragen.
Präsident Truman, Adlai Stevenson, englische und französische Publizisten haben diesen alarmierenden Vorgang oftmals geschildert: den Verzicht der Massen auf ihre Mitsprache und Mitbestimmung des politischen Weges der freien Nationen in die Zukunft. Freiwillig haben
die Massen Hitler die Bahn freigegeben für seine Einbahnstraße. Freiwillig, betäubt von Lebensgier und Todesangst, übergeben heute die Massen einigen wenigen Männern, die sie meist überhaupt nicht kennen, die Macht über das Atom.
Die Frage des 30. Jänner 1933 ist heute, nach einem Vierteljahrhundert, noch so ungelöst wie damals. Sie kann gelöst werden: aber nur dann, legitim und mit legitimen Mitteln, wenn sich die freie Welt zu einer umfassenden inneren Aufrüstung bekennt. Deren Kernstück ist die „Education permanente“, die ständige innere Erziehung aller Menschen. Kernstück dieser Erziehung ist die Selbstverpflichtung, nirgends und niemals und niemandem, er sei auch wer er sei, Blankovollmachten für die „Lösung“ der großen innen- und außenpolitischen Probleme auszustellen. Die Ausstellung dieses Blankoschecks verführt nicht zuletzt die „Führer“. Adolf Hitler, der Mann aus Braunau am Inn, hatte dafür einen sicheren Instinkt: gehoben von einem maßlosen Vertrauen der Massen, vermaß er sich in seinen Worten, Plänen und Taten... Wann werden wir bereit sein, im Aufbau innerer Demokratie in unseren weltanschaulichen Lagern, Parteien, Interessenverbänden, aus der bitteren Wahrheit vom 30. Jänner 1933 zu lernen?