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Der Auslieferung folgte der Tod

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In Lienz übergaben die Briten im Mai 1945 60.000 Kosaken an die Sowjets - in Liechtenstein verhinderten Fürst, Regierung und Bevölkerung die Auslieferung.

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In Lienz übergaben die Briten im Mai 1945 60.000 Kosaken an die Sowjets - in Liechtenstein verhinderten Fürst, Regierung und Bevölkerung die Auslieferung.

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Die Tragödie an der Drau ist bekannt. Im Mai 1945 lagerten rund 50.000 Menschen bei Lienz, weitere 60.000 im weiteren Kärnten, Kosaken, die an der Seite der Deutschen gegen die Bolschewiken gekämpft hatten - Emigranten des Bürgerkriegs unter ihnen, die seit den zwanziger Jahren die Heimat nicht mehr gesehen hatten -, ferner kroatische Ustaschi, slowenische Dom-obranzen, serbische Tschetnici. Sie alle wußten, daß ihnen bei einer Auslieferung an die sowjetischen oder ti-toistischen Sieger der Tod sicher war. Viele von ihnen hatten Frau und Kinder dabei.

In Jalta hatten die Führer der drei Großmächte vereinbart, alle „displa-ced persons” in die Länder zurückzuschicken, aus denen sie stammten -auch gegen ihren Willen. In Osttirol wurde nun der britische General Toby Low der Exekutor dieser Vereinbarung.

44 Jahre später wurden die Ereignisse vom Mai 1945 im Londoner Hochgericht wieder aufgerollt. Low, inzwischen als Lord Aldrington geadelt, hatte den Chronisten der Tragödie, Nikolai Tolstoi, geklagt, weil dieser behauptet hatte, Low „sei nicht besser als ein gemeiner Kriegsverbrecher und Massenmörder”.

Am 19. Mai hatte die „Bepatri-ierung” der Jugoslawen begonnen, einige Tage später die Auslieferung der Russen. Tolstoi ließ 60 Zeugen aufmarschieren, Augenzeugen darunter, die schilderten, wie britische Soldaten die Menschen in die Viehwaggons trieben, an der Grenze den Zug übergaben und Titosoldaten gleich begannen, ihre Opfer zu erschießen. Und wie dann die Briten mit Gewehrkolben und Warnschüssen die Russen in die Züge stießen. Etliche begingen Selbstmord, andere wurden auf der Flucht erschossen.

Lord Aldrington rechtfertigte sich im Kreuzverhör, „als Mensch und guter Christ” nach bestem Gewissen und Vermögen seine Befehle ausgeführt zu haben - und mußte sich sagen lassen, daß diese Entschuldigung auch in Nürnberg im Kriegsverbrecherprozeß nicht akzeptiert worden war. „Hätten wir damals gewußt, was passieren wird - ich bin sicher wir hätten eine andere Regelung unserer Probleme gefunden”, gab Aldrington nun zu. An den historischen Tatsachen konnte Aldrington nicht rütteln. Für den Vorwurf „Kriegsverbrecher und Massenmörder” aber verurteilte der Richter den Beklagten mit einer Geldstrafe, die diesen auf Dauer ruinierte.

Nun - auch andere sind inzwischen klüger geworden, als sie damals waren. Selbst in der Schweiz entschuldigte sich nun, 50 Jahre später, Bundespräsident Caspar Villiger dafür, da sein Land während des Kriegs jüdische Flüchtlinge nach Deutschland zurückgeschickt hatte - auch in der Schweiz wußte man, was dort mit ihnen passieren würde.

Aber nicht überall handelten die

und sein Vorgesetzter Mac Millan (der spätere Premierminister). In Liechtenstein etwa - und diese Szene aus den letzten Kriegstagen blieb unbekannt, bis sie der liechtensteinische Publizist Henning von Vogelsang 40 Jahre später der Vergessenheit entriß. Dort entschied man nicht, das Boot sei voll, als plötzlich 500 Mann an die Tür pochten.

Das kleine Liechtenstein, seit dem Anschluß Österreichs unmittelbarer Nachbar des Großdeutschen Reichs und in den letzten Kriegstagen in Sichtweite der letzten Kämpfe in Vorarlberg, hatte die Grenze durch einen fünf Meter breiten Stacheldrahtzaun „gesichert”. 52 Mann des verstärkten Korps der Hilfspolizei und elf Mann reguläre Polizei sorgten für die Grenzüberwachung. Aus der Schweiz kamen hundert Rekruten der Grenzwachschule Liestal als Verstärkung -reguläre Schweizer Truppen durften im souveränen und neutralen Liechtenstein nicht eingreifen.

Am 1. Mai 1945 rückte eine geschlossene Einheit in deutscher Uniform in Nofels bei Feldkirch dicht an die liechtensteinische Grenze - die „Erste Russische Nationalarmee” unter General Holmston, „ein bunt zusammengewürfelter Haufen ... trotz der Einheitlichkeit der Uniformen und trotz des Korpsgeistes, der unter diesen Menschen allein schon auf Grund ihrer Isoliertheit gegenüber dem deutschen Heer herrscht”, schildert Henning von Vogelsang. Mit Angehörigen fast sämtlicher Völkerschaften der damaligen Sowjetunion.

Ihr Führer war Graf Boris Smyslo-wski, der während des Kriegs im Dienst der Abwehr den Namen Arthur Holmston angenommen hatte. Im Ersten Weltkrieg zaristischer Garde-Offizier aus adliger Offiziersfamilie, nach der Niederlage der Weißen im Bürgerkrieg nach Berlin geflohen, fand er schon während der zwanziger Jahre zur Abwehr der damaligen Reichswehr mit dem fanatischen Ziel, Rußland vom Bolschewismus zu

befreien. Seit Beginn des Ostfeldzugs sammelte er russische Emigranten und sowjetische Deserteure in eigenen Einheiten, die im Herbst 1941 bis zwölf Kilometer vor Moskau vorstießen. Im Herbst 1942 kämpften mehr als eine Million Russen auf deutscher Seite. Sie sahen darin die einzige Chance, ihr Volk zu retten.

Die letzte dieser von Holmston geführten Einheiten ist die Erste Russische Nationalarmee. Holmston, inzwischen Generalmajor, weiß, was

einst 6.000, blüht, wenn sie von den Amerikanern oder Franzosen überrannt werden, und versucht, nach Liechtenstein zu entkommen. Am Abend des 2. Mai marschieren sie die steile Straße nach Schellenberg hinauf, wo die Grenze am schwächsten bewacht wird. Sie räumen im dichten Schneetreiben die Drahtverhaue auf der deutschen, dann auf der liechtensteinischen Seite weg und übergeben dem Kommandanten der Schweizerischen Grenzwache ihre Waffen mit

der Bitte um Asyl. Fürst Franz Joseph II. genehmigt die Aufnahme der Truppe auf neutralem Boden.

Fürstin Gina hatte gerade erst das Liechtensteinische Rote Kreuz gegründet und den Vorsitz übernommen. Nun stand es, gemeinsam mit der unmittelbar betroffenen Bevölkerung, vor der Aufgabe, 500 Menschen in einem Land mit (damals) 12.000 Einwohnern aufzunehmen und zu versorgen.

„Bereits um 10 Uhr an jenem 3. Mai (dem Morgen nach dem Grenzübertritt) hatten wir für die gesamte Mannschaft die erste Mahlzeit zubereitet”, berichtet Adolf Peter Goop, damals einer der Führer der liechtensteinischen Pfadfinder, „... ein Eintopfgericht aus rasch zusammengebettelten Kartoffeln.” Am russischen Osterfest überbrachten die Pfadfinder den Russen 500 gefärbte Eier mit dem Oster-Gruß „Christos voskress”, Christ ist erstanden.

Zunächst waren die Liechtensteiner der Meinung, die plötzlichen Gäste würden nur kurz bleiben, und quartierten sie in Schulen, Gasthäusern und Privatquartieren ein, verstreut auf die Dörfer des Fürstentums. Später, als man sah, daß es doch nicht so schnell ging, wurden feste Barackenlager in Ruggell und Gamprin, schließlich in Schaan angelegt. Die Internierten arbeiteten bei Bauprojekten und in der Landwirtschaft.

Und dann kamen die Sowjets, die „Bepatriierungskommission”. Am 28. August 1945 standen die Männer Holmstons in Vaduz angetreten vor der Kommission, die von der fürstlichen Regierung die „Rückführung” ihrer Landsleute forderte, notfalls, wenn diese nicht wollten, mit Zwang. Einer der Lagerinsassen erkannte einen Major als NKWD-Mann. Versprechungen wechselten mit Drohungen. Die Regierung steckte zwar einige, die laut gegen die Kommission protestierten, ins Gefängnis - aber dort waren sie sicherer als möglicherweise heraußen.

über Monate. Die Bevölkerung, die inzwischen ein gutes Verhältnis zu den Zwangsgästen gewonnen hatte, stand hinter ihnen. In Demonstrationen mit Sensen und Heugabeln protestierten die Liechtensteiner gegen Gerüchte, die Russen sollten an die Schweiz und über sie an die Sowjets ausgeliefert werden. Der Bischof von Chur - zu dessen Diözese Liechtenstein gehört - forderte die Pfarrer des Fürstentums auf, von der Kanzel herab zu protestieren, falls die Auslieferung geplant sei.

Schließlich erklärten sich etwa 50 Mann, von Heimweh geplagt und von den Versprechungen der Delegation benebelt, bereit, in die Sowjetunion zurückzukehren. Mit Transparenten und Stalinbildern wurde am Bahnhof Buchs ein letztes Foto aufgenommen. In Feldkirch schlössen sie sich einem Transport anderer „Heimkehrer” an - über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt geworden.

Die Kommission verlangte inzwischen kategorisch die Auslieferung des Generals und seiner 59 Offiziere als „Kriegsverbrecher”, ohne daß sie Beweise für ihre Behauptungen vorlegen konnte. Im Weigerungsfall würden außenpolitische Repressalien ergriffen. Doch nun waren sich Vaduz und Bern einig - eine Auslieferung kam nicht in Frage. Weder das liechtensteinische noch das schweizerische Becht kennt den Begriff „Kriegsverbrecher”.

Am 2. Dezember 1945 befahl General Holmston der Truppe, die Bangabzeichen abzulegen, womit die Uniformen zu Zivilkleidern und ihre Träger zu Zivil-Internierten wurden. Mehr und mehr Insassen der Lager reisten in andere Länder aus. Andere hatten bereits liechtensteinische Frauen gefunden und ein eigenes Familienleben aufgenommen. Endlich erklärte sich Argentinien bereit, 24.000 russische Emigranten aufzunehmen, unter ihnen die aus Liechtenstein. Am 22. September 1947 fand die offizielle Abschiedsfeier statt. Am 2. März 1948 meldete das Fürstliche Sicherheitskorps der Regierung in Vaduz: Alle Internierten haben das Land verlassen.

Smyslowski-Holmston konnte sich in Argentinien als Bauunternehmer eine neue Existenz aufbauen. Später kehrte er nach Vaduz zurück, um dort seinen Lebensabend zu verbringen.

In Schellenberg aber, dort wo die erschöpfte Truppe erstmals das Fürstentum betrat und erste Versorgung fand, kündet heute ein einfaches Mahnmal von den Ereignissen vor 50 Jahren. Der heutige Fürst, Hans-Adam, damals noch Erbprinz, enthüllte es zum 35. Jahrestag 1980. Auch dazu gab es Stimmen, man könnte die Sowjets verärgern und das könnte dem Weltfrieden nicht dienlich sein ...

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