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Digital In Arbeit

Der Computer, den's nicht gab, gab Gas

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Der Befund der Flugunfallkommission war eindeutig, der Absturz des Airbus 320* der französischen Fluggesellschaft Air Inter an einem Berghang bei Straß -bürg am 20. Jänner 1992 war auf menschliches Versagen zurückzuführen. Und menschliches Versagen der Retter vergrößerte die Zahl der Opfer. Aber warum kamen die Piloten so steil herunter, daß sie in den Berg prallten?

Sie wurden, so Tim van Beveren, Autor des Buches „Runter kommen sie immer” (Campus Verlag), Opfer eines Cockpit-Designs, welches im krassen Gegensatz zu grundlegenden Forderungen der Ergonomie stand. Sie konnten dem Autopiloten den Sinkwinkel oder die Sinkgeschwindigkeit vorgeben. Der Schalter zur Umstellung war leicht zu verwechseln, der |Ünterschied zwischen 3,3 Grad Sinkwinkel oder 3.300 Fuß pro Minute drückte sich zum Beispiel in der digitalen Anzeige durch einen ebenfalls verwechslungsträchtigen Kommapunkt aus: „-3.3” statt „-33”. Was einen Höhenunterschied von gut 800 Metern pro Minute ergibt. (Einige andere Verwechslungen müssen noch dazukommen.)

Bekanntlich nimmt der Airbus dem Piloten mehr Arbeit ab als jedes andere Flugzeug zuvor. Sind hier mehr Funktionen computerisiert als je zuvor. Sind mehr Sicherungen eingebaut als bei jedem anderen Flugzeug.

Etwas zuviele Sicherungen, wie sich am 14. September 1993 in Warschau erwies. Um zu verhindern, daß Spoiler oder Schubumkehr während des Fluges betätigt werden, ist dies erst dann möglich, wenn ein Schalter meldet, daß das Fahrwerk belastet wird und die Maschine somit gelandet ist. Die Spoiler sind Klappen, die den Auftrieb der Tragflächen vernichten, so daß das Flugzeug satt auf den Boden gedrückt wird, über die Schubumkehr braucht man seit dem Unglück der Lauda-Air in Thailand niemandem mehr viel zu sagen (Tim van Beveren übt an der Wartung der Maschinen und der Qualifikation der Piloten bei Lauda massive Kritik).

Vollbremsung verboten

Die Piloten des Lufthansa-Airbus „Kulmbach” landeten, weil auf der Hauptfahrbahn die Landung eines Flugzeuges mit den sterblichen Überresten des 1943 in Gibraltar abgestürzten polnischen Generals und Hitler- wie Stalingegners Sikorski gefilmt werden sollte, auf einer um 900 Meter kürzeren Piste, wegen einer Warnung vor Scherwinden etwas schneller und steiler als sonst und setzten erst gut 700 Meter hinter der Schwelle der Rollbahn auf. Volle neun Sekunden lang konnten weder Gegenschub noch Spoiler noch Fußbremsen betätigt werden.

Das auf der schlechten Rollbahn stehende Wasser von einem WoL_ kenbruch, wovon man den Piloten nichts gesagt hatte, schwächte den Bodenkontakt, der Schalter reagierte nicht, die Spoiler drückten die Maschine nicht auf den Boden und als die Schubumkehr endlich einsetzte, standen nur 71 Prozent der vollen Turbinenleistung zur Verfügung, weil die Airbus-Programmierer dies für genügend hielten und mutwilligen Bremsmanövern, welche die Triebwerke stark abnützen, vorbeugen wollten. Durchstarten kam auch nicht in Frage, da die Gefahr bestand, daß bei einem Triebwerk die Schubumkehr aktiv blieb.

Da es außerdem zum gefürchteten Steamplaning kam (statt einer Wasser- bildet sich eine Gasschicht zwischen Rädern und Fahrbahn), raste der Airbus mit 100 km/h über einen Erdwall, wobei der Kopilot und ein Passagier starben.

Airbus-Piloten wurde immer wieder erklärt, sie sollten sich in die automatischen Abläufe nicht einmischen, die Maschine mache alles al-ein. Die Instruktoren waren, so van Beveren, zum Teil Leute, die den Airbus selbst gar nicht geflogen hatten, sondern auch nur aus dem Simulator kannten. Hunderte Passagiere wurden Opfer einer mangelhaften Ausbildung der für ihr Leben verantwortlichen Besatzungen.

Ein Air-India-Pilot verließ sich am 14. Februar 1990 bei der Landung in Bangalore so auf die Airbus-Computer, daß der eine nicht registrierte, daß der andere den Autopiloten ausgeschaltet hatte und beide nicht auf Höhe und Sinkgeschwindigkeit achteten. 90 Menschen starben in den Flammen, während die Flughafenfeuerwehr wenige Meter davon entfernt nicht in der Lage war, ein versperrtes Flughafentor zu öffnen.

Fünf Minuten geübt

Tim van Beveren registriert eine Reihe von Faktoren, die, allein oder im Kombination, immer wieder zu Unfällen führen. Einer davon ist eine Ausbildung, die sich einerseits zu sehr auf die Bedienungsabläufe beschränkt und den Piloten zuwenig Hintergrundwissen über die Systeme und deren Zusammenspiel vermittelt, und die andererseits die klassischen fliegerischen Fähigkeiten vernachlässigt. So fielen bei einem Airbus-Anflug, zum Glück bei Schönwetter, alle Bildschirme total aus - die Techniker hatten Software mit verschiedenen Gültigkeitsdaten geladen. Die Crew erinnerte sich nachher mit Schaudern, daß sie das Fliegen mit den Notinstrumenten nur einmal etwa fünf Minuten lang geübt hatte.

Ein anderer Faktor: Die Undurchschaubarkeit der Systeme wird ma-ximiert, indem immer öfter Zusatzeinrichtungen eingebaut werden, von denen die Besatzungen nichts wissen. Zeitungsleser erinnern sich an das „Wunder von Stockholm”: Am 27. Dezember 1991 konnte ein SAS-Pilot seine Douglas MD 81 nach Ausfall beider Triebwerke unmittelbar nach dem Start auf einem Acker landen - sie zerbrach in drei Teile, doch niemand kam ums Leben.

Ursache war unsichtbares, klares Eis, das sich über Nacht durch den restlichen kalten Treibstoffvorrat

von einem Flug vom Vortag auf den tiefgekühlten Tragflächen gebildet hatte, nach dem Start losgebrochen und in die Ansaugöffnungen der Triebwerke geflogen war.

Was die Zeitungsleser nicht erfuhren: Das rechte Triebwerk war schwer, das linke leichter beschädigt. Der Flugkapitän nahm rechts die Leistung zurück, um die Turbine zu schonen, doch wie von Geisterhand betätigt fuhr sie immer wieder auf hohe Leistung hoch - bis zur totalen Zerstörung. Möglicherweise hätte mit dem linken Triebwerk die Bückkehr zum Flughafen gelingen können. Doch hier begann nun dasselbe Spiel. Der Schubhebel bewegte sich wie von Geisterhand betätigt nach vorne und die Turbine zerstörte sich selbst.

Das Herstellerwerk hatte nämlich ein von SAS nicht bestelltes ATR eingebaut, von dem weder SAS noch die Piloten wußten und in den Handbüchern keine Rede war. Auch der bei einem bestellten ATR vorhandene Hebel zum Ausschalten fehlte. Das ATR (Auto Thrust Restauration System) soll der Gefahr entgegenwirken, die dadurch entsteht, daß die Flugzeuge heute zwecks Lärm Vermeidung mit geringerer Leistung starten. Es erhöht bei einem Abfall der Leistung unverzüglich selbsttätig die Drehzahl des Motors. Einer beschädigten Turbine macht man aber auf diese Weise den Garaus. Da die Piloten nichts vom ATR wußten und es auch nicht ausgeschaltet werden konnte, war die Maschine plötzlich ohne Antrieb.

Gestohlen und gefälscht

Eine Unfallursache, gegen die, wie van Beveren meint, viel zu wenig unternommen werde, sind „Bogus Parts” - gefälschte oder gestohlene und schwarz verkaufte Ersatzteile. Auch große Airlines greifen auf gebrauchte Teile zurück, etwa wenn bei einer Zwischenlandung ein benötigter Originalteil nicht verfügbar ist oder wenn es ihn gerade

überhaupt nicht gibt. In den USA fliegen, fünf Jahre nach dem Auslaufen der Produktion, auch heute noch viele Boeing 727. Auch viel ältere Flugzeuge sind unterwegs. Die Wege der Ersatzteile sind, wenn sie nicht direkt vom Hersteller stammen, oft kaum nachvollziehbar. Es ist daher nicht besonders schwierig, gefälschte Ersatzteile, vor allem „unbedeutende”, in Umlauf zu bringen.

Aus abgestellten Flugzeugen wurden schon ganze Bordcomputer samt

Redundanzsystem gestohlen - weit über eine Million Schilling teure Kästchen von der Größe eines Autoradios. Vor dem Weiterverkauf werden die Nummernschilder und die Papiere gefälscht und meist auf jünger getrimmt. So daß das Gerät länger ohne Überprüfung im Einsatz bleibt als erlaubt.

Viele Bolzen, Schrauben und ähnliche „Kleinigkeiten” sind überlebenswichtig und müssen strengen Material- und Festigkeitsnormen entsprechen. Bei einer norwegischen Convair 580, die am 8. September 1989 vor der dänischen Küste mit 55 Menschen ins Meer stürzte, hatte ein Hilfsstromaggregat im Heck durch eine „Aufhängung unbekannter Herstellung” ungedämpft zu schwingen begonnen und einen gefälschten und zu schwachen Bolzen, mit dem das Seitenruder befestigt war, aus seiner Verankerung gerissen. Es dauerte Jahre, diesen Hergang zu rekonstruieren, die Herkunft des Bolzens - der Originalteil kostet mit Hülse immerhin 280 Dollar - konnte nicht mehr eindeutig geklärt werden.

Bei Boeing begannen Schrauben, die in einem primitiven, aber wirkungsvollen Testverfahren mit Salzwasser besprüht wurden, zu rosten -was sie keinesfalls dürften. Drauf flog ein Bestechungsskandal auf: Der

für die Beschaffung von Schrauben und Nieten zuständige Manager hatte für 68.000 Dollar eine Firma bevorzugt, von der sich dann herausstellte, daß sie seit 15 Jahren Testergebnisse gefälscht hatte.

Ein Teilsystem funktioniert, wider Erwarten, trotz zunehmender Belastung noch immer sehr gut: Die Besatzungen. Wo früher sieben Mann im Cockpit am Werk waren (und einander für ein kleines Nickerchen entlasten konten), sitzen heute nur noch zwei. Langstreckenflüge bedeuten Dienstzeiten, an deren Ende kaum mehr die volle Konzentration zu erwarten ist - aber gerade im Steig- und im Landeanflug ist diese unbedingt notwendig.

Unsicher dank Deregulierung

Doch in Krisensituationen und bei Überbeanspruchung meistert der Mensch Schwierigkeiten, denen kein Computer gewachsen ist. Doch auf die Schnittstellen zwischen Mensch und Computer müßte beim Cockpitdesign mehr Rücksicht genommen werden. Mehr und mehr digitale Anzeigen zum Beispiel erfordern auch immer mehr Aufmerksamkeit. Analog-Instrumente (mit Zeigern) lassen sich hingegen mit einem Blick erfassen. Beim Air-India-Un-fall war vielleicht auch der Umstand beteiligt, daß der eingegebene und gewünschte Gleitpfad besser angezeigt wurde als der, den die Maschine tatsächlich flog.

„Runter kommen sie immer” ist ein intelligentes Buch. Vor allem, wenn man die beschriebenen Fehlprogrammierungen im engeren wie weiteren Sinn nicht nur auf den Luftverkehr bezieht. Tim van Beveren, ein aufwendig und sorgfältig recherchierender deutscher Journalist mit juristischer Ausbildung und Autor etlicher Filme zum Thema, knüpft in gewissem Sinne an das seit über zehn Jahren im selben Verlag vorliegende Buch „Normale Katastrophen” von Charles Perrow an.

Liest man Perrow, kann man der Meinung sein, daß Kernkraftwerke immerhin sicherer sein könnten, als sie sind, hätten ihre Verantwortlichen den im Luftverkehr üblichen Sicherheitsstandard verinnerlicht. Beveren desillusioniert: Es geht im Luftverkehr auch nicht mehr so sorgfältig zu. Doch wer gern lebt, kann sich trotzdem noch ruhig in ein Flugzeug setzen. Bloß lieber in keinem GÜS-Staat. Deren Manko an Sicherheit sowie das einiger Drittweltländer ist selbst gegenüber den schlechtest plazierten westlichen Airlines erschütternd. Doch die Tendenz ist, vor allem unter dem Druck der wirtschaftlichen Probleme nach der Deregulierung des Luftverkehrs, auch hier sinkend.

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