7104446-1995_24_21.jpg
Digital In Arbeit

Der Delphi-Report ist fast so gut wie das antike Orakel

Werbung
Werbung
Werbung

Mit der kommenden Jahrtausendwende läßt sich eine wahre Epidemie, nicht nur von apokalyptischen Propheten, sondern auch von wissenschaftlichen Vorhersagen über Entwicklungen auf allen Gebieten für das nächste Jahrtausend beobachten. In der Vergangenheit hatten nur wenige Glück mit Prophezeiungen, auch Wissenschaftler nicht. Der Hauptgrund dafür liegt wohl darin, daß der Mensch dazu neigt, zu betrachten, was er um sich sieht, und das Gesehene linear zu verlängern. Im Offensichtlichen vor ihm bereits dessen Gegenteil auszumachen, das darin keimt, widerspricht zutiefst dem menschlichen Sicherheitsbedürfnis. Dementsprechend beliebt ist bei den Wissenschaftlern die Methode der Trendfortschreibung.

Mit Hilfe auch von Wiener Emigranten hat man in den USA schon während des Krieges, etwa durch Methoden wie Brainstorming, versucht, über das Problem der Sichtbegrenzung des einzelnen hinwegzukommen. Die Methode brachte häufig gute Ergebnisse, doch funktioniert sie nur bis zu einer Höchstzahl von einem Dutzend Teilnehmern. Ein Think-tank der BAND-Corporation in Kalifornien entwickelte schließlich eine neue Art des Brainstormings, „Delphi-Orakel” genannt, bei der die Zahl der Teilnehmer einerseits massiv erweitert wurde, andererseits jeder Teilnehmer für sich blieb.

Die Verbindung wurde durch Fragebogen hergestellt, wie Hariolf Grupp das in seinem Buch „Der Del-phi-Beport, Innovationen für unsere Zukunft” erklärt. Den teilnehmenden Fachleuten aus den verschiedensten Disziplinen wird der gleiche Fragebogen in einer zweiten Bunde noch einmal vorgelegt, wenn notwendig in einer dritten und vierten Bunde. „Der Unterschied zum ersten Ausfüllen ist, daß die zusammengefaßten Ergebnisse aus der ersten Bunde bereits mitgeliefert werden. So kann der Experte seine eigene Meinung unter dem Einfluß der zusammengefaßten und somit anonymen Ansichten anderer Fachkenner ein zweites Mal bilden. Er kann sie dabei ändern - oder auch nicht. Ein Vorteil der Methode ist, daß es den beteiligten Personen leichter fällt, ihre Ansicht zu ändern, ohne das Gesicht zu verlieren, wenn die Meinungsänderung am Schreibtisch passiert.”

Die Ergebnisse des allerersten Del-phi-Beports stehen als geheime Verteidigungssache unter Verschluß. Die Methode allerdings nicht, und in den sechziger Jahren gab es so etwas wie eine Delphi-Euphorie, die bald wieder einschlief. Erst die Japaner haben diese Idee in größerem Maßstab aufgegriffen, nicht zuletzt, weil sie, in ihrer Sicht, althergebrachten japanischen Verfahrensweisen verwandt ist. 1971 fand ein erstes derartiges Projekt in Japan statt, mit 1.780 Teilnehmern. Das zweite Projekt hatte dann schon 2.929 teilnehmende Spezialisten aller Gebiete, das dritte 2.428 Experten. Das MITI (Ministerium für Internationalen Handel und Industrie) gibt auf Grundlage der Methode periodisch seine „Visions” heraus. „Dabei geht es tatsächlich um Visionen, wie die Zukunft aussehen könnte und was zu tun ist, um sie so zu gestalten, wie der Staat und die Bürger Japans sie gern hätten.” Nicht wenige der japanischen Erfolge der letzten beiden Jahrzehnte scheinen auf das Konto dieser interdisziplinären Befragungen zu gehen.

Fast 25 Jahre nach der ersten Studie hat das japanische NISTEP (Nationales Institut für Wissenschaftsund Technologiepolitik), das mit der fünften Delphi-Studie beauftragt war, das Fazit gezogen. Ein Drittel der 1971 erwarteten Innovationen sind bis 1990 vollständig verwirklicht worden, ein Drittel erwies sich als falsch, bei einem Drittel haben sich die Bahmenbedin-gungen verschoben, meist, weil die Verwirklichung sich als schwieriger herausgestellt hat* als erwartet, aber auch, weil sich die Vorbedingungen oder der Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz änderten, sie waren also gewissermaßen halbfalsch. Als Beispiel wird die Energieversorgung erwähnt, bei der die Experten 1971 hunderte von Kernkraftwerken und ein vielfaches des heutigen Energieverbrauches vorhersagten.

Doch es ging für Japan nicht nur um einfache Voraussagen dessen, was wahrscheinlich, sondern um das, was nötig sei. Seit seiner Öffnung hat Japan daran gearbeitet, zum Westen in Wissenschaft und Technik aufzuholen. In der Praxis hieß das meist, daß Patente weltweit eingekauft und in der praktischen Anwendung weiterentwickelt wurden. Das ging sehr gut, doch wurde jetzt ein Stand der Dinge erreicht, wo Japan ernsthaft überlegen muß, wie es weitergehen soll. „Deshalb versucht man heute, mehr und mehr in die Grundlagenforschung zu investieren, eine Philosophie zu ihrer Unterstützung zu entwickeln und vieles herauszufinden, bevor man in blinden Aktionismus verfällt. Das Delphi-Projekt ist ein Teil dieser langfristigen und immer stärker grundlagenorientierten Ansätze.” Die Schwierigkeiten liegen nicht zuletzt im System der wissenschaftlichen Ausbildung, sie ist extrem teuer und japanische Absolventen finden in der Grundlagenforschung nur schlecht bezahlte Stellen.

Das NISTEP wurde mit Hilfe auch des deutschen ISI, Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung, gegründet. Nicht ganz unlogisch waren es schließlich die Experten des ISI, welche das zuständige Bundesministerium davon überzeugten, daß das japanische Delphi-Projekt, entsprechend angepaßt, vom ISI auch in Deutschland durchgeführt werden sollte.

Nach einer ersten Befragung mit zwei Durchgängen in Deutschland ist es noch nicht möglich, das Verhältnis zwischen den Vorstellungen der Techniker und dem festzustellen, was sich verwirklicht oder verwirklicht werden kann, so wie die periodischen Projekte dies in Japan ermöglichten. Doch das Ergebnis gab immerhin ein Verständnis für die in Deutschland vorherrschenden Tendenzen.

Im Vergleich zu Japan ist Deutschland um vieles stärker in der Grundlagenforschung engagiert, während es mit der Umsetzung in die praktische Innovation oft hapert. Ebenso verschieden sind die Bahmenbedingungen in bezug auf gesellschaftliche Akzeptanz. Einige Beispiele von als wirkungsvoll eingestuften Innovationsprojekten werden erwähnt: Sich selbst regenerierende Polymere nach Tierhautmodellen, weiters biokompatible Materialien, die in der Medizin für Komponenten künstlicher Organe gebraucht werden. Ein wirkungsvolles Thema aus dem Werkstoffbereich sei die Einrichtung von Datenbanken über Metallkorrosionseffekte, an sich nicht schwierig, aber arbeitsaufwendig und mit wenig Prestige für die ausführende Instanz behaftet. Ein „Schlager unter den wirkungsvollen Projekten ist die Gründung eines globalen geowissenschaft-lich-technischen Instituts, das international Wissenschaftler ausbildet, die zur Bewahrung der Umwelt sowie zur Unterhaltung und Entwicklung der Erdressourcen beitragen.” Zwar kommt dieser Vorschlag nicht aus Deutschland, sondern aus Japan, doch muß gesagt werden, daß die Tendenz zur internationalen Kooperation von Wissenschaftlern in Deutschland größer ist als in Japan.

Für viele an sich machbare Projekte werden gesellschaftliche Hindernisse festgestellt. Die Anwendung von Mikroelektronik bei der Herstellung von Magnetkarten, die als Personalausweise sämtliche Daten über die Person beinhalten, stoßen an die Grenzen des Datenschutzgesetzes, auf soziale Unverträglichkeit ebenso „die Aufklärung der Willensentscheidungsmechanismen des Menschen an Hand von chemischen und physikalischen Studien am Gehirn”. Andere Projekte, wie die höchst notwendige Neuordnung unseres medizinischen Systems dagegen, können mit gesellschaftlicher Akzeptanz rechnen, doch „unsere Gesellschaft funktioniert im wesentlichen nach Eigeninteressen. Jeder sucht seinen Vorteil in seiner Umgebung. Der Forscher jagt einer Karriere nach, für die er spektakuläre Forschungsergebnisse benötigt.” Interdisziplinäre Kleinarbeit, „die für seine Karriere ganz unwichtig ist, gehört nicht zu seinen bevorzugten Tätigkeiten, auch wenn der gesellschaftliche Nutzen noch so groß wäre.”

Insgesamt ergibt der Delphi-Be-port zwar kein futuristisches Bild vom nächsten Jahrtausend, dafür aber ein willkommenes Hilfsmittel für Öffentlichkeit, Begierungen und politische Parteien zur Ausarbeitung realitätsnaher Strategien, zumindest für das nächste Jahrzehnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung