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Der EW G-Brathühner-Krieg

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In der ökonomischen Ideologie aller Österreicher spielte der „größere Wirtschaftsraum” seit jeher eine bedeutsame Rolle. Nachdem sich im Jahr 1918 jedermann auf den Kleinstaat hatte umstellen müssen, sympathisierte die Erste Republik mit den Projekten einer wirtschaftlichen Donauföderation und später mit der Romantik des von Schober und Curtius Unterzeichneten deusch-österreichischen Zollprotokolls, bis zuletzt der Übergang zu den römischen Protokollen gelang, die eine zollpolitische Annäherung zwischen Österreich, Italien und Ungarn brachten. Eine tragische Entwicklung führte zur Annexion Österreichs durch das Dritte Reich, das die Pause zwischen dem Feldzug im Westen und dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion zur Propaganda für eine kontinentale Wirtschaftsunion unter Führüng der Achsenmächte benützt hatte. Die Zweite Republik stand nach dem Staatsvertrag und dem glücklich gelungenen Übergang zur Neutralitätspolitik schließlich abermals vor den Problemen der größeren Märkte, diesmal symbolisiert durch die EFTA, die ĘWG und das GATT. Die schwierige Taktik, die Wien heute gegenüber dem Versuch einer wirtschaftlichen Integration des freien Europa verfolgen muß, ergibt sich aus der Tatsache, daß ein vollwertiges Mitglied der EFTA im Alleingang nach Brüssel ein Arrangement mit der EWG sucht. Die bei diesem Anlaß auftauchenden Stockungen und Hindernisse wurden aber gar nicht durch die Prinzipien der Neutralität und die überaus komplexen Probleme einer Assoziierung verursacht, sondern einfach durch eine innere Krise der EWG, die unter dem Druck Frankreichs und der Vereinigten Staaten wenigstens für einige Zeit in eine Sackgasse geraten ist.

Bedeutsame Erklärungen

Die Aussichten der wirtschaftlichen Integration des freien Europa wurden kürzlich durch eine Reihe wichtiger Erklärungen beleuchtet.

Zunächst vertrat Macmillan in Helsinki und Stockholm die Ansicht, die EFTA solle zwar ihre Zusammenarbeit intensiver gestalten, aber trotzdem keine Schritte unternehmen, die den künftigen Brückenschlag zur EWG erschweren. In einem ähnlichen Sinn äußerte sich das Mitglied des dänischen Folkethipg Per Federspiel anläßlich eines Vortrages in St. Gallen: Dänemark, das von seinen Exporten nach Großbritannien und Westdeutschland abhängig bleibe, empfehle einen Ausbau der EFTA, wobei jedoch jede Vertiefung der schädlichen Zweiteilung Europas vermieden werden sollte, denn die wirtschaftliche Integration befinde sich gegenwärtig in einer „Übergangsperiode von unbestimmter Dauer”.

Auf der Gegenseite meinte wiederum die Ligue Europėenne de Cooperation Economique, die in der Nähe von Brüssel ihre fünfte Jahrestagung abhielt, die Bemühungen der beiden Wirtschaftsgruppen EWG und EFTA müßten sich in nächster Zeit auf eine Besserung der Kontakte beschränken. Dieser Empfehlung entsprachen auch die jüngsten Ausführungen des niederländischen Außenministers, Joseph L u n s, der politische Aufbau Europas sei durch die Zurückweisung Großbritanniens durch die EWG aufgehalten, aber auch eine „Erweiterung des Gemeinsamen Marktes” auf spätere Zeiten verschoben, obwohl im wirtschaftlichen Bereich immerhin einige Spezialabkommen denkbar seien. Nachdem in den vergangenen fünf Jahren hinreichend Erfahrungen zum leidvollen Problem der Integration gesammelt werden konnten, forderte zuletzt Harold W i 1- s o n, der Führer der Labour Party, für Großbritannien einen regeren Warenaustausch mit dem Commonwealth, das durchaus keine „lahme Ente” sei und außerdem einen langfristigen Entwicklungsplan benötige. Alle Urteile lassen sich somit auf eine einheitliche Formel bringen: Abwarten in Europa, aber Expansion nach Übersee.

Zwei Konferenzen in Sicht ln dieser Richtung bewegen sich auch zwei bevorstehende internationale Wirtschaftskonferenzen, die für Österreich von größter Wichtigkeit sind, weil sie den Warenverkehr mit den anderen Kontinenten fördern sollen. Zunächst ist eine Handelskonferenz im Rahmen der Vereinten Nationen in Sicht, angeregt von der Generalversammlung am 19. Dezember 1961 und endgültig beschlossen vom Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) im Sommer des Vorjahres. Diese Welthandelskonferenz beginnt im März 1964 und dürfte zwei bis drei Monate dauern. Sie wird besonders von allen Entwicklungsländern gewünscht, die eine Intensivierung ihres Güteraustausches mit Europa erhoffen. Der vorbereitende Ausschuß, in dem 32 Staaten vertreten sind, hat bereits eine provisorische Traktandenliste über die notwendigen Erleichterungen des Welthandels unter besonderer Berücksichtigung der Grundstoffe ausgearbeitet.

Dann steht man vor der Kennedy- Runde des GATT, mit deren Hilfe die Vorteile der neuen amerikanischen Trade Expansion Act verwertet werden sollen, die eine Annäherung im atlantischen Raum bezweckt. Schon Ende Juni tagte in Genf ein Komitee des allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, um die kommenden Verhandlungen über Zollermäßigungen einzuleiten, wobei drei Unterausschüsse für Agrarfragen, nichttarifarische Handelshindernisse und die Durchführung von linearen Zollsenkungen eingesetzt wurden. Der Exekutivkommissär des GATT, Eric Wyndham White, übernahm sogar persönlich den Vorsitz dieses wichtigen Subkomitees, in dem neben den Vereinigten Staaten, Kanada, Israel und Japan nahezu alle Staaten der EWG und EFTA vertreten sind, einschließlich Österreichs. Das erste Problem, das in der Diskussion auftauchte, war natürlich die Disparität zwischen den Zöllen der EWG und der Vereinigten Staaten. Man debattierte üfjpr die „Schalk”, spmit jbg£fl die Grenze, bei defen Überschreitung eine Zojldifferenz als erheblich bezeich- , net werden könne. Eine einfache Stellung bezogen Skandinavien und die Schweiz, die keine nennenswerten Sonderinteressen verteidigen müssen, sondern sich bereits auf eine Fortsetzung der Liberalisierung festgelegt haben, die dem Sieben-Punkte-Programm des Handelsministers Dr. Fritz Bock durchaus entspricht.

Zollerhöhung und Repressalien

Dagegen stieß die projektierte lineare Zollsenkung um fünfzig Prozent sofort auf den Protektionismus der EWG, gieren Mitglieder noch immer keine Einigung über ihren künftigen agrarpolitischen Kurs erzielen konnten. Diese Differenzen wurden durch den Zollkonflikt zwischen Brüssel und Washington dramatisiert, den eine massive Zollerhöhung der EWG gegen gefrorene amerikanische Brathühner entfacht hatte. Die Vereinigten Staaten erlitten durch diese Maßnahme nach amerikanischen Angaben einen jährlichen Verlust von 46 Millionen Dollar, eine Kalkulation, deren Richtigkeit von Brüssel bestritten wurde, weil zum Vergleich natürlich die verschiedensten Jahre herangezogen werden können. Die peinliche Affäre ist der Öffentlichkeit unter den Namen „Brathühnerkrieg” oder „Hühnerzollkrieg” geläufig. Obwohl die EWG den Vorfall beschönigt, herrscht in amerikanischen Kreisen eine gereizte Stimmung, so daß der Sonderbeauftragte des Präsidenten Kennedy für Handelsfragen, der ehemalige Staatssekretär Christian H e r t e r, in Washington bereits detaillierte Vorschläge für Repressalien unterbreiten mußte, die etwa zwanzig Zollpositionen umfassen und Mitte Oktober in Kraft treten sollen.

Unter den Importgütern, die empfindliche Zollerhöhungen erfahren, figurieren unter anderem: Branntwein, Filmrollen, Roquefortkäse, Omnibusse, Lastkraftwagen, elektrische Rasierapparate und verschiedene Chemikalien. Ein Nachgeben Brüssels erscheint infolge der starren Haltung Frankreichs und des drohenden Vetos der deutschen

Agrarier ebenso unmöglich wie ein Zurückweichen der Amerikaner, die von einer Prestigefrage sprechen. Als Ausweg bleibt daher nur ein Kompromiß oder die Suche nach einem Zeitgewinn.

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