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Der Fall Helander in Schweden

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Seit dem Koreakrieg hat kein Ereignis Schweden so in den Bann gezogen wie der Prozeß gegen den Bischof Dick Hclin- d e r, der von Anfang November bis Mitte Dezember 1953 im Rathaus von Upsala stattfand. Fast tägliche Riesenlettern der Zeitungen und ihrer Laufzettel erinnerten daran. Begegnete man Bekannten, saß man um einen Tisch, diskutierten Studenten, Arbeiter, Beamte, Künstler, Intellektuelle, Priester, so war man fast unmittelbar bei dem brennenden Thema. Alle Schichten waren davon ergriffen.

Eigentlich ließ das offenbare Mißverhältnis von wirklich Geschehenem und seiner Wirkung erstaunen. Es war ja kein Verbrechen, worum es hier ging. Den gleichen Eindruck machte die äußere Form des Prozesses. Betrat man den kleinen Sessionssaal, so war es schwer begreiflich, daß von hier aus ein solcher Starkstrom von Erregung ausgehen sollte, der Hunderttausende erfaßte. Die Atmosphäre unterschied sich kaum von einer der üblichen Doktorsdisputationen der Universität, wo der Bewerber um den akademischen Titel seine Arbeit gegen gelehrte Opponenten öffentlich zu verteidigen hat. Rede und Gegenrede fielen in ruhigem Ton und manchmal holten Richter, Beisitzer, Anklä-

ger, Verteidiger ihre Folianten hervor: den Anklageakt. Von diesem von Sachlichkeit erfüllten Gerichtsraum, auf den die alten Porträts der drei Könige Gustav Wasa, Gustav Adolf II. und Karl XII. verwundert oder verärgert niederzusehen schienen, sollten solche Riesenwellen der Erregung ausgehen?

Ein schwedischer Bischof stand vor Gericht, aber es war nicht so, wie wir es von den Ostländern gewohnt sind. Es ging nicht um eine Verteidigung des Christentums. Um es in Kürze zu sagen: der frühere Professor der Theologie an der Universität Upsala, Dick Helander, wurde im Dezember 1952 zum Bischof von Strängnäs gewählt und am 22. März 1953 in der Kathedrale von Upsala feierlich in sein Amt eingesetzt. Man muß wissen, daß die schwedische Bischofswahl durch das Domkapitel und die Priester des Stiftes, also auf wahlrechtliche Weise, geschieht. Kommt es dann zur engeren Wahl zwischen drei Kandidaten, so entscheidet der König — die Regierung — darüber, welcher designiert wird. Dabei gilt die weitere Bestimmung, daß der bei früheren Wahlen als Kandidat Beteiligte den Vorrang gegenüber denen hat, die noch nicht im Kampf gestanden sind. Das war auch der Fall, als Professor Helander zum Bischof von Strängnäs bestimmt wurde.

So wäre alles in Ordnung gewesen, wenn nicht plötzlich ein Umstand die vollzogene Wahl wieder fraglich gemacht hätte. Es waren nämlich schon vor der Wahl Helanders anonyme Briefe aufgetaucht, die zugunsten Helanders sprachen, den Wert der Gegenkandidaten und anderer Theologen aber herabsetzten. Man beachtete zunächst diese Propaganda und die Diskriminierungen, die sie enthielt, wenig, aber allmählich erhöhte sich die Anzahl der Pamphlete, die um die Stimmen der Priester warben, auf nicht weniger als 500. Da es freilich bei Ernennungen und überhaupt Erlangung akademischer Stellen nicht ungewöhnlich ist, zu diesem Mittel zu greifen, schien noch immer kein Anlaß gegeben, ihnen in diesem Fall besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Da geschah etwas Unerwartetes. Es stellte siela nämlich heraus, daß Schreibmaschinen des theologischen Institutes, die Helander als Professor benützt hatte, entweder fehlten oder durch andere ersetzt, ja mit ausgetauschten Typen zurückgestellt waren. Die Polizei trat auf Veranlassung eines angegriffenen Pastors in Funktion, und dabei ergab sich, daß die Spuren der anonymen Briefe nach Upsala und schließlich zu Bischof Helander hinführten. Verschiedene Maschinengeschäfte und Reparaturwerkstätten, wo er vor oder nach der Wahl aufgetreten war, meldeten sich. Audi andere Momente deuteten darauf hin, daß hier jemand beschäftigt gewesen war, die Spuren der Pamphlete zu verwischen — und es war schwer, sich eine andere Person als Urheber vorzustellen als die offenbar belastete. Bischof Helander erklärte freilich, daß er weder mit der Abfassung noch mit der Verbreitung der Briefe das geringste zu tun hätte. Obzwar man nun vermutete, daß das Ganze auf dem Stadium des Skandals verharren würde, der ungelöst bleibt, wurde man im Sommer 1953 von der Nachricht überrascht, daß die öffentliche Anklage gegen Helander wegen ehrenrühriger Beschuldigungen im November erhoben würde. Wenn sich seine Schuld nachweisen ließe, wäre er zu Gefängnis und Absetzung vom Bischofsamt zu verurteilen.

Der Prozeß dauerte fast einundeinhalb Monate. Es war doch dem Ankläger trotz einem Ricsenaufmarsch von Zeugen und Sachverständigen nicht möglich, über eine Kette von Indizien hinauszukommen. Aber auch dem Verteidiger, einem der berühmtesten Anwälte Schwedens, gelang es nicht, das Mißtrauen gegen Bischof Helander zu zerstreuen. Man stand also vor der Frage, wie es möglich sein könnte, daß eine solche Fülle von Indizien Zufallsmomente darstellen sollten. Anderseits war die Möglichkeit kaum erträglich, daß ein kirchlicher Würdenträger, Vater von vier Söhnen, bei wirklicher Unschuld so durch die Oeffentlichkeit geschleift werden dürfte.

Dies war die Spannung, die während vieler Wochen Schweden in Atem hielt, ja manchmal wie mit Fieberschauern ergriff. Man stand vor einem Rätsel, und alle scharfsinnigen, fanatischen, wohlmeinenden, originellen Meinungen halfen nichts. Wer im Verhandlungssaal oder durch die unzähligen Photos, womit Pressephotographen die Blätter versorgten, Helanders Gesicht betrachtete, hatte jedesmal das gleiche Empfinden der — eigenen Ratlosigkeit. Ein ernstes Dunkel, fast unbeweglich, fast Maske war dieses Gesicht: mit der schmalen hohen Stirn, der rechten ; etwas höher gezogenen Braue, den durch dicke Brillen fast undurchdringlichen Augen, Tdcm oft verbissenen, dann wieder überlegen schweigenden oder lächelnden Mund, der doch unverkennbar das Siegel der Verquäk- heit trug. Rätselhaft, weil zu nichts sichtbar entschieden: weder zur Empörung über seine Beschuldigung, die ihn vernichtete, noch zum offenen Bekenntnis, wenn es sich wirklich um Schuld handeln sollte, noch zur Bereitschaft, dem Kreuz, dem er dient, alles Persönliche zu opfern. Der Angeklagte war nur basaltene Defensive, die alle Stiche der Indizien abzuwehren suchte.

Die Frage bleibt weiter ungelöst, obwohl -das Gericht am 22. Dezember 1953 über Bischof Helander sein „schuldig“ ausgesprochen und seine Absetzung vom Bischofsamt gefordert hat. Was wird weiter geschehen? Der formal juridische Weg setzt sich fort. Der Verteidiger hat für seinen Klienten bei der nächst höheren Instanz des „Hofrechtes“ schon Berufung eingelegt. Aber was geschieht dann? Kann Bischof Helander trotz eines möglichen Freispruches — man darf ihn jetzt auf den Geisteszustand hin 'untersuchen — das Vertrauen wieder gewinnen? Und wenn dies geschehen sollte, wird es seiner Kirche dienen? Und wozu eigentlich dann das Ganze, das an das innerste Gewissen Schwedens rührt? Fieberschauer gehen ja weder am einzelnen noch an staatlichen Organismen ohne Wirkung vorüber: sie haben die Bedeutung einer Krankheit zum Tode oder zur Genesung.

Diese Fragen drängen sich um so stärker auf, als die Oeffentlichkeit auch nach dem Urteil nicht zur Ruhe kommt. Die Presse erörtert neue Argumente. Man ist beunruhigt über die Justiz dieses Prozesses, die ein liberales Blatt sogar eine „Annäherung an die Volksgerichte“ nennt. Das gleiche Organ hat doch mit triumphierenden Riesenlettern nicht gerade gespart.

Wieder also steht man vor der Frage, wie die Dimensionen dieser Angelegenheit entstehen konnten, die selbst bei bewiesener Urheberschaft Helanders nicht gerechtfertigt wären. Der Schreiber dieser Zeilen kann keine andere Erklärung als die „kulturelle Geladenheit“ Schwedens dafür finden.

Man erlebt es oft, daß ein einziges kleines "Wort sofort fast sämtliche Zuhörer in einen wilden Streit geraten läßt: eine Bagatelle jführt zur Explosion. Aehnliche Vorbedin- igungen einer latenten Geladenheit scheinen ,hier zu bestehen. Gewiß kann man den 'anonymen Brief nicht als Bagatelle be- jzeichnen. Er ist ein fragwürdiges Mittel im

.Kampf um die Existenz, da er die Heimlichkeit eines vorbereitenden Spionierens und einer der Verantwortung sich entziehenden Handlung voraussetzt. Aber er ist, als Wahl propaganda betrachtet, nicht gerade ein Verbrechen. Man kann ihn als Ausdruck nicht- beherrschten Ehrgeizes verstehen. Um so weniger reicht er als Motiv für eine so tiefe greifende Beunruhigung des ganzen Lande aus.

Die Ursachen müssen also tiefer liegen. Man geht, scheint es, nicht fehl, sie in dem Potential der geistigen Zerklüftung zu suchen, das Schweden mit Spannungen erfüllt, wie sie noch nicht dagewesen sind. Die Angelegenheit des Bischofs Helander erhielt ja von der bis ins Persönliche gehenden Verstimmung ihren ersten Auftrieb, die zwischen den Kreisen der „H o c h- kirche“ und der „Tiefkirch e“, besonders in Upsala, herrscht. Die erste sucht analog der anglikanischen durch Belebung von Sakrament und Liturgie die Staatskirche zu erneuern. Damit nähert sie sich der katholischen, von der sie doch wieder durch die Ablehnung des Papsttums (vor allem des Dogmas von der Unfehlbarkeit) Abstand nimmt. Die „Tiefkirche“ setzt sich aus den Gruppen zusammen, die im lutherischen Sinn die Verkündigung des Bibelwortes als das Entscheidende ansehen. Bischof Helander gehört ihr an, während eine Vielzahl der Theologen Upsalas der „Hochkirche“ zuneigt. Vertreter beider Lager waren auch Anwärter auf das Bischofsamt in Strängnäs, und die Propaganda der anonymen Briefe nahm nicht bloß einen alten Zwist wieder auf, sondern hatte es auch auf die Besetzung eines wichtigen Postens abgesehen. Hier also war die erste Spannung, eine intern-religiöse, gegeben.

Dazu gesellt sich die zweite, die man als „extern“ bezeichnen könnte, die aber die Brisanz des Sprenggemisches erheblich er höht. Die intellektuellen Gruppen, die sich teilweise „Kulturliberale“ nennen, aber auch sozialdemokratische Kreise, die die Trennung der Kirche vom Staat fordern, mußten den Fall des Bischofs Helander als eine sehr willkommene Bestätigung ihrer das Christentum diskriminierenden Ansichten begrüßen. Es mußte ihnen daran liegen, den so oft beschuldigten Priester diesmal gewissermaßen in flagranti zu ertappen. Deswegen hat man während vieler Monate nicht versäumt, das auf die endliche Entscheidung wartende Publikum mit letzten Neuheiten, wenn sic auch nur mit Fragezeichen versehen waren, in den Bann zu ziehen. Man hatte, wie auch immer man zu Bischof Helander stehen mag, den Eindruck, daß hier ein Mann wie mit Hunden durch die Oeffentlichkeit gehetzt wurde.

Da der Angeklagte nach Empfang des Urteils wieder beteuert hat, daß er unschuldig sei, setzt sich dieser grausame Rechtsfall weiter fort.

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