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Der feste Turm

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Die Verfassung ist das feierlich verbriefte Grundgesetz der organischen und sittlichen Ordnung des Staates. Sie ist der feste Turm der Freiheit und des Rechtes, der Schutz der Schwachen gegen die Stärkeren, gegen jede unrechtmäßige Gewalt. Viele Nationen umgeben die Verpflichtung auf die Verfassung mit religiösen Riten; die apostolischen Könige Ungarns leisteten den Verfassungseid vor dem Primas des Reiches mit der Hand auf dem Evangelienbuch. Der alte Kaiser Franz Joseph trug durch ein halbes Jahrhundert die Last einer unglücklichen dualistischen Verfassung, weil er sie beschworen hatte. Ein Schimmer von Heiligkeit umgibt das staatsrechtliche Fundament des Gemeinwesens. Wo sein Bestand mangelt oder auch nur zweifelhaft wäre, sind selbst die einlachen Menschenrechte in Gefahr, ist nur mehr ein Schritt zu illegitimer Parteiherrschaft, zur Willkür und zu den Konzentrationslagern der Diktatur. Für die Verteidigung der Verfassung sind Menschen auf die Barrikaden gestiegen und haben für sie ihr Leben hingegeben.

Dieses kostbare Gut muß mit aller Sorgsamkeit und Strenge bewahrt werden.

Unser Österreich ist ein wehrloses Gemeinwesen geworden. Das Volk einer afrikanischen Kolonie hat nur eine Macht über sich. Unser Land ist im sechsten Jahr nach Kriegsende von dem Willen vier fremder Mächte abhängig. Außer unter der Hitlerherrschaft war Osterreich niemals solcher Unfreiheit unterworfen wie heute. Um den versprochenen Staatsvertrag, der uns nach vielen Opfern wenigstens noch eine bescheidene Existenz übriglassen soll, schwebt dauernde Ungewißheit. So sind wir selbst von den Ratskörpern der Vereinten Nationen ausgeschlossen, völkerrechtlich minder berechtigt als eine halbbarbarische Nation. Nur eine einzige Bastei ist uns geblieben, von der aus wir unser Lebensrecht zu erkämpfen vermögen, nur auf ihr besitzen wir Waffenlosen noch eine nach allen Richtungen hin gültige Waffe — die österreichische Verfassung. Sie macht unseren höchsten Besitz aus und die Ehre unserer Demokratie.

Nun, da die Neuwahl eines Bundespräsidenten erforderlich ist, gibt die Verfassung die unzweideutige Vorschrift, daß sie .vom Bundesvolk in unmittelbarer und geheimer Wahl“ zu vollziehen ist; „stimmberechtigt ist jeder zum Nationalrat Wahlberechtigte“. Ein einziges Mal in seinen 152 Paragraphen ruft das Bundesverfassungsgesetz ausdrücklich das ganze Staatsvolk zur Stimmenabgabe auf und verlangt die Durchführung ohne Ausweichen: „sofort“.

Und um die besondere Wichtigkeit des Wahlaktes unter Teilnahme des gesamten Bundesvolkes noch bestimmter zu unterstreichen, ordnet die Bundesverfassung für diesen Wahlakt die Wahlpflicht an. Nur für diesen und sonst für keinen anderen. Denn kein anderer ist so wichtig und hoheitsvoll wie dieser. Die Verfassung kennt Vorkehrungen für alle Fälle zeitweiliger oder dauernder Verhinderung des Bundespräsidenten oder dauernder Erledigung seiner Stelle, aber sie deutet nicht mit einem Wort die Möglichkeit an, nach ihrem Sinn und ihrer Absicht irgendeinen anderen Wahlmodus an die Stelle der Volkswahl zu setzen. Zwei tatsächlich gegensätzliche Handlungen, der Vollzug der Wahl des Bundespräsidenten Miklas am 9. Oktober 1931 und jene des Bundespräsidenten Renner am 4. Dezember 1945 durch die Nationalversammlung, geschahen auf Grund jeweiliger verfassungsrechtlicher Ausnahmegesetze; das eine Mal begründet durch die herrschenden innerpolitischen Unruhen, das vehemente Auftreten der nationalsozialistischen Bewegung — vier Wochen vor der Wahl, am 13. September, hatte der Pfriemer-Putsch stattgefunden — und das andere Mal im Herbst 1945 unter der verständlichen Begründung, daß Hunderttausende noch in Gefangenschaft befindliche Österreicher und unterschiedslos alle irgendwie als Nationalsozialisten Registrierte an der Volkswahl nicht teilnehmen können und also der Wille der Bundesverfassung, das ganze Bundesvolk zu dieser Wahl zu“ versammeln, nicht Erfüllbar sei.

Wie gefährlich Ausnahmen von den Grundsätzen der Verfassung sind, wenn auch nur für einen bestimmten Einzelfall vorgesehen, erweist sich jetzt, da keine der 1931 oder 1945 gegebenen Ursachen für das Unterbleiben der Volksabstimmung und ihren Ersatz durch einen Wahlakt der Nationalversammlung gegeben ist und dennoch mit dem Hinweis auf das durch diese zwei Präsidentschaftswahlen gegebene Präjudiz der Plan vertreten wird, auch die nunmehrige Berufung des Bundespräsidenten wieder ohne Bundesvolk, nur in dessen indirekter Vertretung durch die Nationalversammlung, vollziehen zu lassen. Als Begründung wird angeführt, daß sonst durch die notwendigen Formalitäten und die erforderliche Ergänzung der Wählerlisten eine nicht wünschenswerte Verzögerung einträte. Diese Motivierung besitzt jedoch nur schwachen Halt. Denn, wird zur Umgehung der Verfassungsbestimmung neuerlich eine Ausnahme geschaffen, die abermals die Formen eines Verfassungsgesetzes annehmen muß, so hat dieses den Alliierten Rat zu passieren und aus dessen Mitte nicht nur möglicherweise, sondern fast sicher einen leider nur zu berechtigten Einspruch zu erwarten. Die sich ergebende Prozedur bedeutet eine ernsthafte und durch ihre Terminstellung nicht verkürzbare Verzögerung der Wahl des Staatsoberhauptes.

Aber sehen wir von diesem standfesten Einwand ab. Auch aus ganz anderen Gründen muß vor der Umgehung einer Kardinalbestimmung unserer Verfassung eindringlich gewarnt werden: einer der größtenWerte politischer Stabilität, das Vertrauen auf die Sicherheit der demokratischen Einrichtungen, steht auf dem Spiel. Das Vordringen eines Parteienstaates, der alle Lebensfunktionen des Gemeinwesens der parteipolitischen Rayonierung zu unterwerfen sucht, erweckt nicht erst seit heute Unruhe und Kritik der Bevölkerung, verbittert und abschreckt namentlich die junge Generation und hält wertvolle neue Kräfte vom öffentlichen Leben fern. Unerfreuliche Akteure kommen auf der politischen Tribüne auf, weil sie sich von der weithin im Volke vernehmlichen Kritik emporgetragen sehen. Niemand kann diese Erscheinungen mehr leicht nehmen, Am allerwenigsten in dieser Lage darf auch nur dem Scheine nach der Eindruck erweckt werden, man könne das Recht nach Belieben wenden, eines der vornehmsten Volksrechte werde ohne zwingenden Grund seiner Geltung entkleidet, die Wahl des höchsten Würdenträgers des Staates entspräche nicht völlig dem Willen der Verfassung. Nicht ein Schatten darf auf die Berufung des Mannes fallen, der künftig Rechte haben wird wie kein Österreicher, so das Recht, Notverordnungen zu erlassen, Ländtage aufzulösen, von den Gerichten rechtskräftig Verurteilte zu begnadigen, das Verfahren gegen strafgerichtlich wegen Verbrechen Verfolgte niederzuschlagen. Wenn alle diese; Gründe für nichts gelten, dann wird überhaupt nichts mehr das höchsteRecht desBundesvolkes vor dem völligen Erlösche n' bewahren.

Zahlreich sind die Fälle, daß Verfassungen deswegen verletzt und gestürzt wurden, weil dem Volk mehr Rechte erkämpft werden sollten. Wir aber stehen jetzt in Österreich — formulieren wir es klar — vor dem seltenen Fall, daß eine Nationalversammlung ein Gesetz beschließen soll, das dem Bundesvolk sein nobelstes Recht zu nehmen bestimmt ist.

Bedrückt und nur mit tiefer Besorgnis kann man diese Möglichkeit ins Auge fassen. Man überlege 66 zehnmal, bevor man ernst macht, den Turm des Rechtes zu verlassen. Dr. Friedrich F u n d e r

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