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Der Flirt mit dem Staat hat Tradition

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Im Vertrag von Maastricht wurde die „Industriepolitik" ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gestellt.

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Im Vertrag von Maastricht wurde die „Industriepolitik" ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gestellt.

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Die Aufnahme eines eigenen Artikels im Vertag von Maastricht, nämlich des Artikels 130, hat Kritik und grundsätzliche Diskussionen über die Notwendigkeit und Wünschbar-keit einer „Industriepolitik" ausgelöst. Liberale Vertreter der reinen Marktlehre witterten ordnungspolitischen Verrat und sahen ein Zeitalter der staatlichen Eingriffe und Bevormundung des industriellen Geschehens, der Planifi-cation, des Interventionismus und Protektionismus über der EU heraufdämmern.

Diese Kritik kommt aber mindestens 40 Jahre zu spät, und wenn man die Marktregelungen im Bereich des EU-Agrarmarktes betrachtet, erscheinen solche Einwände als geradezu von einer anderen Welt. Denn auch im industriellen Bereich hat die EU eine sehr lange industriepolitische Tradition - ja, ging eigentlich sogar daraus hervor: Schon 1949 schlössen sich die Stahlerzeuger Deutschland, Frankreich und Belgien zusammen und versuchten angesichts von Uberkapazitäten, den Markt unter sich aufzuteilen, um Preise und Wettbewerb kontrollieren zu können. Zusammen mit ähnlichen Bestrebungen im Kohlebereich ging daraus 1953 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKS) her\’or, die ja bekanntlich die Vorläuferorganisation der folgenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war. Im EWG-Vertrag von 1958 kommt der Begriff der Industriepolitik zwar nicht vor; 1970 legte der zuständige Kommissar jedoch ein sehr ambitioniertes Memorandum vor, das massive Schritte zur Schaffung einer einheitlichen industriellen Basis in Europa vorschlug.

Die Bestrebungen verliefen aber vorläufig im Sand, obwohl - oder weil? - mit der Stahl-, Textil- und Werftindustrie neue Krisenbranchen auftauchten, die behandelt werden mußten.

Der Davignon-Plan für den Stahlbereich von Ende der siebziger Jahre stellte einen Eckpunkt der EG-Industrie-lolitik dar, indem er feste -"reise und freiwillige Selbstbeschränkungen für einzelne Produzenten vorschrieb und auch die Möglichkeit von Sanktionen bei Nichteinhaltung dieser Regelungen vorsah; diese Entwicklung führte schheßlich dazu, daß die EG-Kommission ab Mitte der achtziger Jahre die alleinige Kontrolle über die gesamte europäische Stahlindustrie innehatte. 1990 kam dann die Vorlage des sogenannten Bangemann-Berichts, dessen Grundsätze im wesentlichen in dem erwähnten Artikel 130 des Maastrichter Vertrags mündeten.

Was besagt dieser Artikel? Zunächst ist von der Notwendigkeit der Stärkung der wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der europäischen Industrie und ihrer Wettbewerbsfähigkeit die Rede. Diese ist in einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte durch solche Maßnahmen zu gewährleisten, die auf die „ … Anpassung an die strukturellen Veränderungen, Förderung der Initiative und Weiterentwicklung der Unternehmen, Förderung der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen sowie Nutzung der Innovation, Forschung und technologischen Entwicklung" abzielen.

Gemäß dem zweiten Absatz dieses Artikels gilt für die Industriepolitik das Subsi-diaritätsprinzip. Das heißt, die Mitgliedsstaaten bleiben Träger derselben, sollen jedoch mit Hilfe der Kommission ihre diesbezüglichen Aktivitäten koordinieren. Die Kommission kann (!) alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind.

Der nächste Absatz beschreibt das Spektrum möglicher Maßnahmen, nämlich solche zur Beseitigung von bestehenden Handelshemmnissen, zur Stärkung des Wettbewerbs (Fusionskontrolle), zur Intensivierung von Forschung und Entwicklung, zur Verbesserung der Berufsausbildung, zur Stärkung der Kommunikationsnetze und andere. Darüber hinaus wird das Prinzip der Einstimmigkeit bei Entscheidungen über eventuell zu treffende gemeinschaftliche Aufgaben im Bereich der Industriepolitik festgeschrieben. Angesichts der bereits jetzt offenkundigen Differenzen zwischen streng marktwirtschaftlich und eher „interventionistisch" orientierten Ländern ist abzusehen, daß solche Einstimmigkeit nur schwer herbeizuführen sein wird.

Was bedeutet das für Österreich? Hierzulande hatte die Industriepolitik immer einen relativ hohen Stellenwert, auch wenn sie nicht unter diesem Namen geführt wurde. Alle Maßnahmen der steuerlichen und nichtsteuerlichen Investitionsförderung, Kreditsubventionen und -ga-rantien, die Forschungsförderung und bis zu einem gewissen Grad auch die Regional-förderung sowie auch die spezifische Rolle der verstaatlichten Industrie können hier ange-JI.,. führt werden. Im allgemeinen wurden diese „Wohltaten" aber ohne besonderen Lenkungscharakter, sondern vielmehr nach *dem bekannten Gießkannenprinzip verteilt.

Wesentlich konkreter sind wie gezeigt, die industriepoh-tischen Ambitionen der EU vorläufig aber auch nicht. Ängste vor einer Bevormundung durch Brüssel nach einem EU-Beitritt sind zumindest hier unbegründet: Zunächst stellt der Maastricht-Vertrag bis zu seinem Inkrafttreten 1997 oder 1999 (selbst das ist nicht sicher) eine bloße Absichtserklärung dar. Danach ist abzuwarten, in welchem Ausmaß dieser sehr allgemeine Artikel 130 mit Leben erfüllt wird.

Die postulierte F^instim-migkeit wird jedoch an die Substanz gehende Entscheidungen verhindern, und Österreich wird ja dann auch selbst Sitz und Stimme haben.

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