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Der Fremde - dein Bruder

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Vom 1. bis 4. August findet in Mariazell der internationale Pax-Christi-Kongreß 1957 statt. Unter dem Vorsitz von Kardinal F e 11 i n, dem Präsidenten der internationalen Pax-Christi- Bewegung, befassen sich mehr als 400 Vertreter der Bewegung aus insgesamt neun Ländern mit dem Thema „Der Aufstieg der farbigen Völker“. Größere Delegationen kommen aus Frankreich, der Deutschen Bundesrepublik, Luxemburg, Holland und der Schweiz, außerdem nehmen kleinere Delegationen aus Belgien, Italien und Schweden an der Tagung teil. Neben Kardinal Feltin und Bischof Rusch von Innsbruck, dem Vizepräsidenten der internationalen Pax-Christi-Bewegung, kommen als hohe Vertreter der Kirche noch Erzbischof Alfrink von Utrecht sowie die Bischöfe Schroffer (Eichstätt), Lommel (Luxemburg) und Weihbischof Suenens (Mecheln).

Am 14. Juli 1944, als der Krieg auf dem Zenit seiner Schrecken stand, sahen die gefangenen französischen Widerstandskämpfer des Lagers Compiėgne den Bischof des Bistums Montauban (Frankreich), Pierre Marie Theas, zum erstenmal als ihren Mitgefangenen. Sie waren froh, daß ein Bischof ihr Leid mit ihnen teilte. Als dieser aber über die Schriftstelle predigte „Tut Gutes denen, die euch hassen, betet für jene, die euch verfolgen“, murrten sie. Den Deutschen verzeihen, die Tag für Tag unsere Brüder zur Hinrichtung schleppen, die unser Land verheeren, die ganze Orte wie Oradour mit- all ihren Bewohnern ausgerottet haben? Nein, das Evangelium ist furchtbar und unannehmbar. Aber der Bischof predigt. Am nächsten Tag feierte er die erste, ihm von den Deutschen erlaubte heilige Messe für Deutschland und die Deutschen. Er wagt das Unerhörte und er findet Gleichgesinnte, die den Haß durch Liebe besiegen wollen.

Drei Jahre später lud Monsignore Theas, der jetzt Bischof von Lourdes war, zum erstenmal Deutsche nach Lourdes ein. Achtzehn Deutsche kamen. Hindernisse gab es genug zu überwinden. Aber die französischen Glaubensbrüder um ihren Bischof empfingen sie feierlich. Aus dieser Zusammenkunft erwuchs die Internationale Pax- Christi-Bewegung. Lourdes war das geistige Zentrum.

1948 fand in Lourdes der erste Internationale Pax-Christi-Kongreß statt. Priester aus vierzehn Nationen feierten zur Mitternacht in der Basilika die heilige Messe. Gemeinsam gingen die Gläubigen aus vielen Ländern zum Tisch des Herrn. Es war die Speisung der nach Frieden Hungernden. Allen war die Erkenntnis gemeinsam: Der Friede in der Welt kommt nur aus dem Frieden mit Gott. Die Pax-Christi-Bewegung lebt aus dem alle Enge und alle Grenzen überwindenden Geheimnis des mystischen Leibes des Herrn.

1949 waren bereits Vertreter der Bewegung aus 37 Nationen'zusammengekommen. Es gab nicht mehr Franzosen, Italiener, Deutsche, Engländer, Spanier — es gab nur noch Katholiken, Beter und Opfernde. Kardinal Gerlier rief damals aus: „Ich sehe vor mir die Kirche!“

Wallfahrten und Treffen verbinden und versöhnen. Viel Jugend ist zur Bewegung gestoßen. Sie kommen nach Altötting, Assisi, Altenberg, Einsiedeln, Nymwegen. Im Vorjahr fand der IV. Pax-Christi-Kongreß in Valladolid, Spanien, statt.

Und in diesen Tagen kommen sie zum fünften Kongreß nach Mariazell. Geladen sind alle, denen der wahre Friede ein Herzensanliegen ist. Der Frieden, die Frucht der Liebe, wird gerettet, indem wir etwas für ihn tun. Das erste Tun des Christen ist: Gebet, Buße und Opfer. Begriffe, die den weltlichen „Friedensmachern" abhanden gekommen sind. Das Leitthema des Kongresses ist: „Der Fremde — dein Bruder!“ Was reden wir vom Fremden, bevor wir nicht wirklich dem Nächsten dienen? Gibt es überhaupt den Fremden für einen Christen? Wir sind alle Brüder. Darum wehren wir uns, solange es geht, wider die Waffen der radikalen Atomisierung.

Was will Pax Christi in dieser Stunde dämonischer Ausbrüche kalter Macht? „Durch die Pax-Christi-Bewegung" — formuliert Bischof Schroffer - „soll das gesamte Kräftepotential des Friedens, das uns im Christentum und in der Kirche zur Verfügung steht, nutzbar gemacht und zur Auswirkung gebracht werden. Die Schaffung einer Atmosphäre des Friedens soll erfolgen durch tätigen Einsatz, durch praktische Verwirklichung der Forderungen der Gerechtigkeit, gegenseitiger Achtung, durch Wahrhaftigkeit und Vertrauen." Selbst der Außenstehende Ernst Jünger hat es erkannt, wenn er in seinem Buch „Der Friede“ feststellt: „Die wahre Besiegung des Nihilismus und damit der Friede wird nur mit Hilfe der Kirchen möglich sein... Der Mensch mußte erfahren, daß ihm inmitten der Katastrophe keines der ausgeklügelten Systeme und keine seiner Lehren und Schriften Rat gewährte, es sei denn zum Schlimmeren. Sie führten alle auf Tötung zu und auf

Verehrung der Gewalt. Dagegen trat in den Wirbeln des Unterganges deutlicher als jemals die Wirklichkeit der großen Bilder der Heiligen Schrift und ihrer Gebote, Verheißungen und Offenbarungen hervor ..."

Nur ein Sechstel der Erdbevölkerung, rund 400 Millionen Menschen in 20 Ländern, erfreut sich einer ausreichenden Ernährung. Von drei Menschen auf unserer Erde aber hungern zwei. Von 60 Millionen Sterbefällen im Jahr sind 30 bis 40 Millionen durch Unterernährung verursacht. Hunger ist der Motor des Krieges. Pax Christi schließt sich den weltweiten Organisationen an, um dem Hunger abzuhelfen, um Kranke in unterentwickelten Ländern gesund zu pflegen. Namhafte Beträge wurden jüngst für die Leprakranken in Indien aufgebracht. Die Baugesellen des Speckpaters, die Aktionen des Abbe Pierre aus Paris, alle’ diese modernen Werke der Nächstenliebe stehen in engem Zusammenhang mit der Verständigungsarbeit der. Pax-Christi-Bewegung. Deutsche Frauen gaben 1954 ihren Schmuck her, damit aus ihm ein Sühnekelch für Oradour hergestellt werden konnte, und Deutsche waren es, die die Glocke für die neue Kirche in Hiroshima spendeten.

Am 17. März 1957 vollzog sich eines der jüngsten Beispiele tätigen Einsatzes der Bewegung. Was hier geschah, ist vielleicht von nachhaltigerer Wirkung für den Weltfrieden als manche Abrüstungskonferenz am grünen Tisch und mancher Atomversuch, der die „Politik der Stärke“ für den Frieden anrufen möchte. Denn vor allem steht der Mensch. Ist er friedensbewegt, ist sein Gewissen geschärft, so wird er die Atomkraft für den, Frieden und nicht für den Krieg nützen. Damit eine H-Bombe über eiftdf Stadt ausgöiöst Wird, braucht es den einzelnen Menschen. Von ihm, nicht von der Bombe hängt es ab, ob sich die Welt vernichtet oder ob sie lebt.

Am 17. März 1957 ist die Kirche in Ascq bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Frau hat die von den Deutschen hierhergebrachte Sühnekerze im Gewicht von 20 Kilogramm vor dem Altar entzündet. Sie ist eine der Hinterbliebenen des Massakers vom 1. April 1944. Damals war im französischen Ascq ein Zug mit Einheiten der Panzerdivision „SS-Hitler-Jugend“ entgleist. Es gab keine Opfer, aber die verhetzten jungen Deutschen holten 86 Männer, zumeist Eisenbahner, aber auch zwei Priester aus den Betten zum „Gleisrichten" und erschossen sie als Geiseln. Ob es sich um Sabotage gehandelt hatte oder um einen Unglücksfall, war nicht untersucht worden. Pater Manfred Hörhammer aus

München sprach am Fuße des Altars in Ascq: „Die Botschaft der Symbole soll den französischen Brüdern sagen, daß die Deutschen nicht vergessen haben, was am 1. April 1944 geschehen ist, wenn auch wahr ist, daß die Mehrzahl des deutschen Volkes nichts von diesem Verbrechen erfahren hat. Die Kerze soll eine einzig brennende Bitte um Vergebung und Versöhnung sein, sie soll die Brüder daran erinnern, daß eine neue Generation die Schuld und die Trauer teilt.“ Der französische Kardinal Lienart erwiderte: „Die Deutschen sind gekommen, um uns zu zeigen, daß sie unseren Schmerz mit uns teilen. Das ist es, was sie zu unseren Brüdern macht. Unsere Antwort auf die uns entgegenkommende Gnade soll sein, daß wir uns gegenseitig verzeihen. Was uns so großes Leid bereitet hat, ist zum einigenden Band zwischen uns geworden.“ In der anschließenden großen Kundgebung in der Aula der katholischen Universität von Lille sagte der Kardinal von Lille: „Nicht nur verzeihen müssen wir, wir müssen uns gegenseitig helfen und gemeinsam darüber nachdenken, wie wir unsere Probleme lösen können. Das ist die Aufgabe des Christen von heute. “

Der christliche Friedensstifter ist ein moderner barmherziger Samaritan. Er wird beweisen müssen, daß der Geist des Samaritans auch in den natürlichen Dingen des praktischen Lebens den Sieg behält. Immer waren es die Selbstüberwindung und die Selbstheiligung einzelner, die den Frieden, den wahren Frieden, retteten. Ein Nikolaus von der Flüe war es, der sein Vaterland in der entscheidenden Stunde vor dem blutigsten Bürgerkrieg rettete. In keinem Geschichtsbuch freilich steht verzeichnet, wie oft und in welchem Ausmaß solche Friedensstifter tatsächlich den Lauf der Geschichte bestimmt haben. Viel zu sehr haftet in uns die alte Ge schichtsvorstellung, daß „der Krieg der Vater, aller Dinge“ sei. Ein verhängnisvolles Wort! Der Vater aller Dinge ist Gott, und der Apostel sagt: „Er ist unser Friede!“ Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. In unserer Hand liegt es, ein Denken des Friedens von Grund aus zu verbreiten. Die fatalistische Auffassung des französischen Forschers Charles Noel Martin darf nicht den Sieg davontragen. Er prägte das entsetzliche Wort: „Die entfesselte Atomkraft hat alles verändert außer unserer Denkweise! ‘

Es sind keine Utopisten und Phantasten, die in Mariazell zusammenkommen und die an der Jugendwallfahrt 1957 teilnehmen. Auch die tausende Beter nicht, die kürzlich wieder im Sühnekreuzzug durch die Straßen von Wien zogen. „Wo alles verloren scheint, weil Gründe und Einsichten die Menschen nicht verwandeln, da kann der Mut der Liebe zu Christus noch alles gewinnen... Wir müssen uns zum Frieden hin überwinden. Erst auf diesem Weg kommt vielleicht das Recht wieder in die Welt. Aber ihr Friede muß in unserem Herzen, in unserem Hause seinen Ursprung nehmen. Und wo Häuser des Friedens sind, wird sich das Land befrieden.“ (Reinhold Schneider, Gedanken des Friedens.) Und Ernst Jünger weist dem einzelnen in seiner Friedensschrift die Verantwortung und auch die Entscheidung zu: „Zum Frieden genügt nicht, daß man den Krieg nicht will. Der echte Friede setzt Mut voraus, der den des Krieges noch übertrifft; er ist ein Ausdruck geistiger Arbeit, geistiger Macht. Sie wird erworben, wenn man das rote Feuer in sich selbst zu löschen und sich zunächst im eigenen vom Haß und seiner Spaltung zu lösen weiß. So gleicht der einzelne dem Lichte, das, sich entzündend, zu seinem Teile die Verdunkelung bezwingt. Ein kleines Licht ist größer, ist zwingender als sehr viel Dunkelheit.“

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