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Der Frieden hat erst begonnen

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Im Zentrum des 21. bolschewistischen Parteikongresses der Sowjetunion stand amtlich und offiziell die Bestätigung des großen wirtschaftlichen Siebenjahrplanes, dem der Westen, aber nicht der Osten den Namen Chruschtschows gibt. Chruschtschow hat sich keineswegs wie einst zu Stalins Zeiten als alleiniger Urheber dieses Wirtschaftsplanes vorgestellt, wohl aber als jener politische Führer, der für diesen Plan und seine Durchführung als verantwortlich zeichnet.

Der Verlauf des Kongresses zeigte, daß die politische Autorität Chruschtschows zwar gewachsen ist, daß jedoch gar keine Rede davon sein kann, daß er der alleinige und unumschränkte Diktator, ein zweiter Stalin werden könnte. Die Art und Weise seiner Rede und auch die Reden aller anderen beweisen klar und deutlich, daß heute in der Sowjetunion der entscheidende Machtfaktor das Zentralkomitee der Partei ist.

Man wird also gut tun, das Schwergewicht der Beobachtung nicht auf die Person Chruschtschows allein zu konzentrieren, sondern auch auf jene Vorgänge in der Sowjetunion, welche die Zusammensetzung des Zentralkomitees und die Meinungsbildung in seinem Schoße beeinflussen. Hier ist in den Tiefen der russischen Massen ein weitgehender politischer Prozeß im Gange, der sich über die Partei praktisch auswirkt. Es scheint, daß hier zwei Faktoren im Vordergrund stehen. Erst jetzt beginnen nämlich die russischen Massen, nachdem die Schäden und Leiden des Krieges notdürftig geheilt sind, jene Forderungen und Wünsche anzumelden, die sie vom Siege im größten aller Kriege erwarten zu können glauben. Die Nachkriegszeit hat psychologisch in Rußland eben erst jetzt begonnen. Der andere Faktor ist der Generationenwechsel. Zurückgeblieben, gestorben, vom Kriege verbraucht ist die alte Generation. Was sich heute in der Sowjetunion regt, ist eine Generation, für die Revolution und Bürgerkrieg, ja selbst die Kollektivisierung Vergangenheit1 und Geschichte ist, etwas, was vof ihrer Geburt lag ödeT in ‘ einer Zeit,’ als •Sie noch Kinder waren. Auch in einem geistig totalitären Staate wie Rußland muß diese Generation Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anders sehen als diejenige, die noch mit einem Fuß, oft noch mit beiden Füßen in der revolutionären Vergangenheit gestanden ist. Chruschtschow hat sich zum Sprecher und Vertreter eben dieser Bewegung gemacht, und das erklärt seinen persönlichen Sieg über seine Widersacher.

Natürlich ist einer der Hauptwünsche der russischen Massen ein besseres materielles Leben. Daher mußte propagandistisch der neue Siebenjahrplan im Zentrum des Parteikongresses stehen. Es ist ein gewaltiger Plan, der die Produktion um ein Mehrfaches steigern und im Falle der Verwirklichung den Lebensstandard in der Sowjetunion sichtbar heben würde.

Nun hat Chruschtschow bei seinem Kommentar zum neuen Wirtschaftsplan immer wieder stehen. Es ist ein bedeutender Plan, der die Produktion pro Kopf der Bevölkerung nach Ablauf der sieben Jahre die Produktion der europäischen Staaten überflügeln und der amerikanischen sich stark nähern werde, wobei dann auch die amerikanische Produktion durch den folgenden Sowjetplan nicht nur eingeholt, sondern sogar überholt würde. Mit einem drohenden Unterton prophezeite dabei Chruschtschow, daß eine solche Steigerung des Lebensstandards in der Sowjetunion seiner Meinung nach auf friedliche Weise die kommunistische Weltrevolution in der außenrussischen Welt nach sich ziehen würde. Im Westen haben daraufhin, abgesehen von jenen Kommentatoren, die leichtsinnigerweise den ganzen Plan überhaupt in Frage stellten, die Prognosen Chruschtschows einen gewissen Schrecken eingejagt. Doch gerade diese Vergleiche mit Europa und Amerika, diese rhetorischen Auslassungen Chruschtschows sind nicht sehr ernst zu nehmen.

Der Lebensstandard in der Sowjetunion ist zweifelsohne in den letzten Jahren dauernd gewachsen. Das muß man zugeben. So sind vor nicht ganz zwei Jahren die alljährlich wiederkehrenden Zwangsanleihen abgeschafft worden. Die Preise blieben jedoch trotz der vermehrten Geldmittel die gleichem Die Bevölkerung hatte diese Zwangsanleihen immer als eine Steuer empfunden. Der Reallohn ist also schon damals um etwa acht Prozent gestiegen. Jetzt wird die Einkommensteuer abgeschafft, damit steigt das Realeinkommen der unteren Schichten wieder um 7 Prozent und der oberen Schicht sogar um 10 bis 13 Prozent. Obwohl das nicht unbekannt bliebe obwohl eine fühlbare Verbesserung der sozialen Dienste in der Sowjetunion zu verzeichnen ist, hat dies nirgends in der Welt zu einem fühlbaren Ansteigen der kommunistischen Bewegungen geführt. Es kommt eben nicht auf den Lebensstandard allein an.

Gefährlicher könnte der im Siebenjahrplan vorgesehene soziale Ausbau auf das Ausland wirken. Es hat sich nämlich gezeigt, daß in der Vergangenheit gerade solche Beispiele auf andere Länder einen Einfluß ausüben. Doch gerade hier greift der Kreml nicht nach den Sternen. In einigen Jahren soll in der Sowjetunion der Achtstundentag durch den Siebenstundentag abgelöst werden. In der ganzen übrigen Welt geht man jedoch heute schon zur Arbeitswoche von 44 und 45 Stunden über. Dabei bleibt in der Sowjetunion die Woche von sechs Tagen, während die Verkürzung der Arbeitszeit in der übrigen Welt ein völlig freies Wochenende mit sich bringt. Erst für die Zeit nach einer Anzahl von Jahren planen die Sowjets den nächsten Schritt, nämlich die Verkürzung der Arbeit um zwei Stunden, und noch völlig unbekannt ist der Zeitpunkt, da der russische Arbeiter ebenfalls zu einem freien Wochenende gelangen wird. Das kann also nicht anziehend sein. Auch wenn die auf dem Papier so verlockend aussehende soziale Gesetzgebung einmal mehr realen Inhalt haben wird, handelt es sich, real gesehen, schließlich nur darum, daß die Sowjets auf diesem Gebiet die fortschrittlichen westlichen Länder erst noch einholen müssen, so daß von einem Ueberholen einstweilen gar keine Rede sein kann.

Bedeutend interessanter, doch im Westen weniger beachtet, ist die Frage des Ausbaues der Rechtssicherheit in der Sowjetunion. Hier ist tatsächlich etwas Einmaliges geschehen. Der neue Chef des Staatssicherheitsdienstes hat nämlich vor dem Parteikongreß über sein eigenes Ressort gesprochen und versichert, daß Polizeiterror und Polizeiwillkür in der Sowjetunion endgültig der Vergangenheit ‘angehören. Das war keine leere Deklamation, denn er hat dabei etwas sehr Wichtiges gesagt, nämlich, daß die Tätigkeit der politischen Polizei künftig voll und ganz von der Staatsanwalt schaft kontrolliert werden soll. Von allen seinen Amtsvorgängern hätte jeder sich lieber die Zunge ausreißen lassen, als jemals in der breiten Oeffentlichkeit ein solches Zugeständnis zu machen. Der Kampf zwischen Geheimpolizei und Staatsanwaltschaft dauerte nun schon Jahrzehnte. Immer wieder machten die Justizbehörden den Versuch, eine Kontrolle über die Geheimpolizei auszuüben. Doch immer wieder erlitten sie dabei eine Niederlage, die oft dem Staatsanwalt oder sogar dem Justizminister das Leben kostete. Jetzt ist dieser Kampf für viele Jahre zugunsten der Staatsanwaltschaft entschieden worden. Der bisherige Chef des Staatssicherheitsdienstes, der General Sjerow, ist mit darum abgesetzt worden, weil er als alter Angehöriger der Kaste der Tschekisten es immer wieder versuchte, sich der Kontrolle der Staatsanwaltschaft zu entziehen. Der neue Chef dagegen war zuvor kein Polizist. Er war Parteifunktionär und ist Mitglied des Zentralkomitees. Damit ist der Kampf zwischen Geheimpolizei und Staatsanwalt auch im Persönlichen entschieden worden.

Abschreckend auf das Ausland hat bisher nicht die materielle Notlage, sondern die Rechtlosigkeit des Einzelmenschen dem Staat und der Partei gegenüber gewirkt. Doch der Ausbau der Rechtssicherheit, den Chruschtschow und seine Anhänger seit Jahren so energisch betrieben, hat nicht darin seinen eigentlichen Beweggrund. Die politisch maßgebenden Schichten der heutigen Sowjetunion sind die Funktionäre und Spezialisten, die Manager und Wissenschaftler. Ihnen vor allem hat man relativen Wohlstand, zahlreiche Privilegien, ja selbst die Vererbbar-

keit erworbener Rechte und Güter zugestehen müssen. Doch was nützt das alles, wenn die privilegiertere Person selbst jedem willkürlichen Zugriff der Polizei preisgegeben ist? Rechtssicherheit ist also in der Sowjetunion ein kategorischer Imperativ. Auf die Dauer kann sich keine Parteileitung halten, die auf diesem Wege nicht voranschreitet. Daher auch die große Reform des Strafrechtes, die durch zwei Faktoren gekennzeichnet ist: Erweiterung der Rechte des Angeklagten und genauere Umschreibung der politischen Vergehen.

Das ist die Entwicklung in der sowjetischen Innenpolitik, die Molotow, Kaganowitsch und Konsorten ganz außer acht gelassen haben. Sie haben ganz übersehen, daß die Generation nach dem Kriege eine Liberalisierung in jeder Hinsicht verlangt, wenn nicht schon auf geistigkulturellem Gebiet, so wenigstens innerhalb ihres Berufes im Wirtschaftsleben wie auch im bürgerlichen Sektor. Wenn selbstverständlich ein paar Tausend hoher Ministerialbürokraten in der Dezentralisierung der Industrie, im Entgegenkommen an die Kolchosen und Bauern schon d.eii Untergang sehen, so erwarten dagegen Hunderttausende von Funktionären aller Grade außerhalb Moskaus von diesen Reformen für sich Aufstiegsmöglichkeiten, zumindest größere Machtvollkommenheit auf ihrem bisherigen Arbeitsgebiet. Damit aber war der Sieg Chruschtschows gewährleistet. Denn die Stimmen in der Partei sind ąlle gleich, die große Masse der Staats- und Parteifunktionäre draußen im weiten Reich bestimmt die Zusammensetzung der Parteikongresse und damit de Zentralkomitees und sicherten so Chruschtschow eine überwältigende Mehrheit, ohne daß er den Polizei- und Terrorapparat in Bewegung zu setzen braucht.

Groteskerweise profitiert die oppositionelle Gruppe als erste von der von ihr bisher bekämpften Entwicklung. Die rituellen Kniefälle der verurteilten Oppositionellen und manche übermäßig scharfe Rede gegen sie sind nicht mehr Bestandteile des üblichen bolschewistischen Rituals. Das ist zudem nicht so sehr kommunistisch, als vielmehr russisch, und erscheint nur dem Westen als ebenso grotesk, unverständlich und übertrieben, wie gewisse Personen in den Romanen Dostojewskijs. Man achte auch auf die Art und Weise, wie die Oppositionellen im Verdikt des Parteikongresses genannt wurden. Unter Stalin wäre eine gleiche Oppositionsgruppe als Volksfeinde bezeichnet worden, jetzt nennt man sie nicht einmal Staatsfeinde und im russischen Text nicht einmal Parteifeinde, sondern bloß Antiparteigruppe. Das ist außerordentlich symptomatisch. Denn Molotow uni Konsorten könnte man wohl die eine oder andere Verletzung des Parteistatuts nachweisen, keineswegs aber eine Verletzung der Strafgesetze. Etwas Derartiges zu erfinden, kann heute auch ein Chruschtschow nicht wagen.

Das zeigt schon die Tatsache, daß der außerordentliche 21. Parteikongreß beschlossen hat, im Jahre 1961 wieder einen ordentlichen Parteikongreß einzuberufen. Unter Stalin ist der Parteikongreß jahrzehntelang nicht einberufen worden. Chruschtschows Politik ist vom Parteikongreß gebilligt worden. Doch eine uneingeschränkte persönliche Macht ist ihm nicht zugestanden worden, und in zwei Jahren, wenn di ersten praktischen Resultate seiner Politik in Erscheinung treten werden, muß er sich wieder einem Parteikongreß in einer anderen Zusammensetzung stellen.

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