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Der General von Fontainebleau

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„Vigilia pretium Iibertatis” lautet der Wappenspruch der Truppenabzeichen des obersten Hauptquartiers der Atlantikpakt- mächte In Europa. Das Oberkommando für Zentraleuropa dieses größten Militärbündnisses der neuesten Geschichte befindet sich in Fontainebleau bei Paris. Bis zum Beginn des Jahres 1957 stand es unter dem Kommando des französischen Armeegenerals Jean-Etienne Valloy. Seit 1. April 1957 trägt die Verantwortung für die Kommandoführung der NATO-Landstreit- kräfte der deutsche Generalleutnant Dr. Hans Speidel — vorgeschlagen von niemand anderem als seinem französischen Vorgänger General Valloy, einem besonderen Vertrauensmann der Resistance, der bereits bei seiner Uebernahme des Europakommandos Wert darauf legte, einen deutschen Adjutanten zugeteilt zu bekommen. Die Flugblattpropaganda der kommunistischen Gruppen in Frankreich, die unter Verwendung sehr fadenscheiniger Argumente Generalleutnant Speidel gleichzusetzen versuchte mit dem Blutregime der Gestapo, ist längst wirkungslos zusammengebrochen. Von den NATO- Ländern hat nicht eines gegen die Ernennung des deutschen Generals gestimmt, obgleich speziell bei einzelnen der Vertragspartner des Atlantikpaktes Vorbehalte gegen Deutschland berechtigterweise noch vorhanden sind.

Daß trotzdem ein deutscher General mit den so verantwortungsvollen Kommandoposten betraut werden konnte, beruht nicht auf dem so oft von Apologetikern der preußisch-deutschen Militärperfektion gepriesenen Ueberlegenheits- mythos. Generalleutnant Speidel ist das Gegenteil jenes Offizierstyps, den sich Generaloberst Seeckt gewissermaßen als Rächer der „unverdienten” Niederlage von 1918 wünschte. Vor allem gehörte Speidel nicht zu jener von der Geschichtsforschung schon sehr richtig erkannten Clique der preußischen Konservativen im deutschen Generalstab, die bewußt, wie ihr jüngster Biograph Waldemar Erfurth zugibt, „preußischen Konservativismus gegen süddeutschen Liberalismus” und damit gegen die Kritik an den sogenannten überkommenen Werten der militärischen Tradition des Wilhelminischen Deutschland durchzusetzen versuchten. Der Riß, der nach dem Zerbrechen des Wilhelminischen Deutschland durch den Generalstab ging, wird von Erfurth dahingehend charakterisiert: „Es stand im Reichswehrministerium auf verschiedenen Gebieten konservatives und fortschrittliches Denken gegenüber, wobei die zahlenmäßig kleine Gruppe von Generalstabsoffizieren, die Neuerungen gegenüber besonders aufgeschlossen waren, gegenüber den Vertretern der preußisch-orthodoxen Linie keinen leichten Stand hatten .” Erfurth betont außerdem noch, daß der „Kampf zwischen süddeutschem Liberalismus und preußischem Konservativismus in der Reichswehr seine Fortsetzung fand, wobei vor allem Groener, der kleinbürgerlichen schwäbischen Verhältnissen entstammte, gewissermaßen der Gegenspieler Seeckts und der von ihm hinterlassenen und durch Schleicher beherrschten konservativen Führungsschicht wurde”.

Hierin liegt auch die Erklärung für das Mißverständnis einer so überragenden Persönlichkeit, wie sie Generalleutnant Dr. Hans Speidel in der Gegenwart des Jahres 1957 repräsentiert. In das Leitbild eines preußischen Generals etwa wie Manstein oder Rundstedt, ganz abgesehen von Model und anderen Idealfiguren der pseudowissenschaftlichen Kriegsgeschichtsklitterung, läßt sich Dr. Hans Speidel keinesfalls einordnen.

Dr. Speidel kommt aus dem historischen Vorderösterreich, aus Württemberg, wo er in Metzingen am 28. Oktober 1897 als Sohn eines Professors an der Universität in Tübingen geboren wurde. Der Besuch des humanistischen Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart, wo Speidel 1914 die Reifeprüfung ablegte, führte direkt zum Eintritt als Fahnenjunker in das Grenadierregiment König Karl (5. württ.) Nr. 123, in der alten, mit der österreichischen und südeuropäischen Geschichte so eng verbundenen Reichsstadt Ulm an der Donau. Im Verband dieses Regiments erhielt Speidel nicht nur hohe Auszeichnungen seines württembergischen Landesherren, sondern von Kaiser Wilhelm II. persönlich am 20. August 1917 das Eiserne Kreuz I. Klasse für die Tätigkeit als Gruppen-, Zugs- und Kompanieführer sowie als Bataillonsund Regimentsadjutant an den für die Blutchronik des ersten Weltkrieges so bedeutungsschweren Brennpunkten: Argonnen, Flandern, Somme, Verdun, Maas.

Der in der Reichswehr der Weimarer Republik übernommene aktive Offizier konnte kaum auf einen erleichterten Aufstieg in die sehr enge Hierarchie des klein gewordenen Berufsheeres rechnen. Speidel studierte an den Universitäten Berlin, Tübingen und an der Technischen Hochschule in Stuttgart Geschichte und Volkswirtschaft und promovierte zum Dr. phil „magna cum laude” am 14. Februar 1925 an der Eber- hard-Karls-Universität in Tübingen. Dieser „gebildete” deutsche Offizier, der eigentlich dem Ideal Goethes am besten entsprochen hätte, mußte nach Empfang der akademischen Würde noch fünf Jahre warten, bis er in die 3. Abteilung des neugebildeten Generalstabes übernommen wurde und im Frankreich-Referat vom Herbst 1933 bis September 1935 als erster Offizier nach dem Weltkrieg „Gehilfe” des Militärattaches bei der deutschen Botschaft in Paris wurde.

Der Generalstabshauptmann mit dem Doktortitel war in der Pariser Gesellschaft im Herbst 1933 ein besonderer Anziehungspunkt. Französische Diplomaten und Offiziere sahen in ihm eine völlig neue Art des deutschen Offiziers, der sich gar nicht mit den klischeeartigen Vorstellungen in Vergleich setzen ließ. Speidels hervorragendste Eigenschaft, keinerlei historische Erbfeindschaften zu kennen und vor allem die französische Armee in ihren Leistungen objektiv zu würdigen, ließ ihn unheimlich erscheinen, ja manche Politiker und Diplomaten vermuteten hinter der Art dieses jungen Offiziers eine Art neue Geheimwaffe der Deutschen Wehrmacht. Heute wissen wir aus den einschlägigen Akten, daß in den entscheidungsvollen Jahren zwischen 1933 und 1938 in allen europäischen Hauptstädten gebildete Militärdiplomaten vom Schlage Speidels zur Erkenntnis gelangten, daß die zunehmende Rüstung die Völker nur der Vernichtung entgegenführen mußte, und sie — die Perfektionisten des Krieges — waren stille und unbedankte Rufer zu einer friedlichen Einigung. Dafür seien nur der österreichische Militärattache in Berlin, Alfred von Jansa, und seine deutschen Kollegen in London und Belgrad, Leo Geyr von Schweppenburg und Faber du Faur, als Beispiele genannt. Die warnenden Berichte der Militärattachees wurden von den Politikern nicht beachtet. Auch Speidel und Beck blieben einsame Rufer in der Wüste.

1940 wurde Speidel zum Generalstabschef des Militärbefehlshabers in Paris ernannt und sah nun die Stätte seiner einstmaligen Wirksamkeit unter ganz anderen Umständen. Wie er im unterirdischen und nicht gefahrlosen Ringen, vor allem mit den politischen Instanzen, versuchte, das Los des besetzten Frankreich zu mildern, hat Ernst Jünger geschildert.

Im Juni 1937 war Speidel Begleiter des späteren Generalobersten Ludwig Beck bei seinem Besuch in Paris als Chef des Generalstabes des Heeres. Becks Persönlichkeit und seine die europäische Verantwortung betreffenden Erwägungen und Gespräche wurden für Speidel richtunggebend. Jahre später, als die Katastrophe des zweiten Weltkrieges Beck am 20. Juli 1944 den „Freitod für Deutschland aufzwang, und Speidel nur um ein Haar der Vernichtung durch die Gestapo entronnen war, konnte Speidel knapp vor seiner Reaktivierung den Nachlaß des Generalobersten Ludwig Beck einbegleiten und durch einen ausgezeichneten Beitrag in der Biographie „Die großen Deutschen” dem Lehrer und Vorbild ein Denkmal setzen.

Als das Frühjahr 1942 im Osten neue Offensiven brachte, wurde Speidel als Chef des Generalstabes des VAK an die Kaukasusfront versetzt, dann, 1943, bei der italienischen 8. Armee verwendet. Als Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Ei bei seinem Landsmann Rommel erlebte Speidel die Invasion. Sein historisches Werk über diesen entscheidenden Abschnitt des unaufhaltsamen Zusammenbruches wird auch noch nach Jahrzehnten ergänzender Forschung Bedeutung haben.

Im September 1944 wurde Speidel auf Weisung Himmlers verhaftet, da er mit Feldmarschall Rommel Vorbereitungen für eine selbständige Beendigung des Krieges im Westen erörtert hatte. Truppen der ersten französischen Armee unter dem Kommando des Generals Bethouart befreiten ihn am 29. April 1945 in Urnau und retteten Speidel vor der Verurteilung zum Tode durch ein SS-Kommando. Der allgemeine Niederbruch und die Auflösung aller bisherigen Ordnungen im Rahmen des deutschen Staatsgebietes ließen Dr. Speidel keineswegs verzweifeln. Ein historischer Forschungsauftrag innerhalb der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen und die Vertretung des Landes Württemberg- Hohenzollern bzw. Baden-Württemberg im wissenschaftlichen Beirat des Institutes für Zeitgeschichte in München bezeugten Speidels Bedeutung.

Aber die politische Entwicklung wollte es anders. Aus dem deutschen Sachverständigen über die Beteiligung an der Verteidigung des Westens im Jahre 1951 wurde drei Jahre später der militärische Chefdelegierte bei der Konferenz der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, und am 22. November 1955 ernannte der Bundespräsident Dr. Heuß Generalleutnant Dr. Speidel zum Chef der Abteilung Gesamtstreitkräfte im Bundesverteidigungsministerium in Bonn: ein deutlicher Vertrauensvorschuß, ehe Dr. Speidel aus dem bescheidenen Arbeitsraum in der Ermelkeilkaserne in Bonn nach dem Hauptquartier im Weichbild der Lichtqrstadt. Inaris, die er einstmals rettete, einziehen kęnnte.

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