6663020-1960_18_03.jpg
Digital In Arbeit

Der gläserne Sarg

Werbung
Werbung
Werbung

II. EIN GESCHLECHT STIRBT AUS

Lenins Bruder, der Student der Kasaner Universität, Alexander U1 j a n o w, kam schon frühzeitig zur aktiven revolutionären Bewegung. Zu jener Bewegung, die sich zuerst „Volkswille“ nannte, später, nach mehreren Namenswechseln, „Boden und Freiheit“ genannt wurde. Es war eine Partei, die vor allem durch den Sturz des Zarismus die Massen der russischen Bauern von ihrer Rechtslosigkeit und ihrem Hunger befreien wollte. Diese Partei ging sehr bald dazu über, durch eine „Propaganda der Tat“, durch Attentate gegen die

Zaren, Minister und hohe Polizeifunktionäre die Revolution zu beschleunigen. Die direkte Nachfolge dieser Bewegung war dann die Sozialrevolutionäre Partei, die 1917, nach dem Sturz des Zarismus, in Rußland zur Macht kam. Als Lenin diese Partei stürzte, wandten die Sozialrevolutionäre das System des individuellen Terrors auch gegen die Bolschewiki an. Eine Reihe bolschewistischer Volkskommissäre wurde von Sozialrevolutionären Terroristen getötet. Die Sozialrevolutionärin Dora Kaplan schoß auf Lenin und verwundete ihn schwer.

Noch aber sind wir nicht so weit. Alexander Uljanow gehörte einer der Kampfgruppen der Revolutionäre an, wurde in ein Attentat verwickelt und dann zum Tode verurteilt. Das war 1887, und der Gymnasiast Wladimir Uljanow war knapp 17 Jahre alt. Die Mutter des Todeskandidaten erhielt die Erlaubnis, am Abend vor der Hinrichtung sich von ihrem Sohn zu verabschieden und nahm hierzu ihren Zweitältesten Sohn Wladimir mit. Lenin selbst hat nie über diese Episode seines Lebens gesprochen. Viele seiner Biographen behaupten aber, diese abendlichen Stunden mit dem Bruder, der schon im Schatten des Galgens stand, hätten in Lenin seinen unstillbaren Haß gegen das Zarentum geweckt.

Sei es, wie es nun wolle. Zunächst bemerkte man beim jungen Studenten der Kasaner Universität Wladimir Uljanow nichts von solchem Haß. Wie beinahe alle Studenten der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts kam auch Uljanow in die oppositionellen und revolutionären Zirkel der Studenten. Schon damals aber erstand den Sozialrevolutionären bereits eine Konkürrenz. Der Marxismus und seine Theorien hatte auch in die Kreise der russischen Intelligenz Eingang gefunden. Der Student Wladimir Uljanow war von Anfang in solchen marxistischen Studienzirkeln und dann einer der Mitbegründer der russischen marxistisch-sozialdemokratischen Partei. Innerhalb dieser Partei verstand er es sofort, als Theoretiker und Publizist eine Sonderstellung einzunehmen, um sich herum eine Gruppe von Anhängern zu scharen, die auf seine Worte hörten und die schließlich zu einer eigenen Organisation in der Partei wurden. 1903 kam dies deutlich zum Ausdruck. Es ging eigentlich nur um das Statut der Partei, und der Streit entbrannte um den ersten Paragraphen, um die Mitgliedschaft. Ein Teil der Kongreßdelegation wollte eine Mitgliedschaft nach dem Vorbilde der westlichen sozialdemokratischen Parteien. Uljanow dagegen, schon unter dem Pseudonym Lenin auftretend, wollte eine Partei von Berufsrevolutionären, eine verschworene Elite unter strengster Parteidisziplin. Damals eroberte Lenin die Mehrheit des Kongresses. Seit damals war jedoch auch seine Organisation oder Fraktion innerhalb der Partei deutlich an die Oberfläche getreten. Nach diesem Kongreß in Stockholm nannte man Lenins Anhänger „Mehrheitler“, auf russisch „Bolschewiki“, und seine Gegner in der Partei „Minderheitler“ oder „Menschewiki“, obwohl sich dies später geändert hat und Lenin und- seine Gruppe auf der Mehrzahl der Kongresse und Konferenzen in der Minderheit blieb.

*

Wer die radikalen Ansichten Lenins liest, wer seine geradlinige revolutionäre Taktik verfolgt, müßte glauben, daß Lenin auch im persönlichen Leben die Vorteile, die ihm Geburt und Bildung in Rußland verschafften, nicht für sich in Anspruch genommen hat. Aber das gerade Gegenteil war der Fall. Der grundsätzliche Verzicht auf etwas, was er und seine Anhänger für verwerflich hielten, wäre nach dem, was die Bolschewiken predigten, nur konsequent. Doch Lenin stand wie selbstverständlich auf dem Standpunkt, daß alles, was die zaristische Gesetzgebung an Vorteilen bot, auch auszunützen sei. Bis zum Sturze des Zarismus genoß der Adel in Rußland große materielle und persönliche Vorrechte. Lenin nahm diese durchaus für sich in Anspruch. Auf diese Weise hatte er es bei Verhaftungen und Verbannungen leichter als mancher seiner Parteigenossen, konnte sehr oft zaristischen Beamten gegenüber, die von unten emporgestiegen waren, auftrumpfen. Lenin selbst erzählte oft von solchen Episoden aus seinem Leben. Einmal wurde er unter Pclizeiaufsicht in die Provinz des europäischen Rußland verbannt. Vorschriftsmäßig mußte er sich beim dortigen Polizeichef melden. Das war ein kleiner Beamter. Der Adelige und Akademiker Uljanow imponierte diesem mächtig. Trotzdem verlangte er von Lenin vorschriftsmäßig die Ausfplgung des Auslandspasses. Da kam aber der Folizei-beamte sehr schlecht an. Lenin schnauzte ihn an, berief sich auf seine Petersburger Verbindungen und drohte, sich beim höchsten Vorgesetzten des Beamten, beim Innenminister, persönlich zu beschweren. Der Bea.Tite glaubte ihm das, duckte sich und überließ Lenin den Paß. Damit verschwand dann Lenin auch ins Ausland. Wenn Lenin diese Episode erzählte, lachte er immer schallend.

*

Es ist charakteristisch nicht nur für Lenin, sondern für alle alten Bolschewiken, daß sie eigentlich zwei Leben lebten. Sie vertraten radikale Theorien, für sie galt nur das Volk und das Proletariat, doch ihr persönliches Leben richteten sie nach den Grundsätzen und Gewohnheiten der Klasse ein, aus der sie stammten. Keiner von ihnen heiratete etwa ein Arbeitermädchen. Als Lenin heiratete, entstammte seine Braut in jeder Beziehung demselben Milieu wie er selbst. Nadeschda Konstantinowna Krupskaja entstammte demselben beamteten Kleinadel wie er selbst. Ihre Familie aber gehörte schon zur russischen Intelligenz. Von Beruf war sie Lehrerin, also auch hier ganz dem Milieu des Elternhauses Lenins entsprechend. Sie war von Anfang an bei der sozialistischen Partei dabei und seit 1903 die Sekretärin des Zentralkomitees für Beziehungen mit dem Auslande. Wer Frau Krupskaja noch in den dreißiger Jahren knapp vor ihrem Tode sah, mußte sie für stockkonservativ halten. Immer noch trug sie sich nach der Mode des gebildeten russischen Adels zur Zeit des Jahrhundertanfanges. Dieselben weißen Blusen, der schwarze Rock, im Sommer der schwarze Strohhut, im Winter der Pelzhut und die kurze Pelzjacke. Konservativ war auch das Privatleben Lenins. Er heiratete bereits 1898, also relativ jung, in der sibirischen Verbannung und führte ein vorbildliches Eheleben. Er, dem Religion ein Greuel war und der insbesondere die russische Kirche und die zaristische Gesetzgebung bekämpfte, ließ sich trotzdem kirchlich trauen. Denn Ordnung mußte sein! Für die Propaganda der freien Liebe, der manche seiner Gesinnungsgenossen frönten, hatte er nichts übrig. Sein Leben war geradezu kleinbürgerlich geregelt, immer mußte alles in Ordnung sein, und nichts wurde hier revolutioniert.

* -

Übrigens hatte Frau Krupskaja ein trauriges Los. Der noch junge Stalin verehrte seinen Meister Lenin überschwenglich. Als Lenin schon krank war und Stalin Parteisekretär, suchte der Georgier den Begründer des Sowjetstaates nach Möglichkeit von allen seinen nahen Freunden zu isolieren. Doch Frau Krupskaja konnte er nicht entfernen. Sie blieb für Lenin der nächste Mensch. Auf Grund dieser Eifersucht kam es zu einem scharfen Konflikt zwischen Frau Lenin und Stalin. Lenin brach für einige Zeit alle persönlichen Beziehungen zu Stalin ab. Dieser Konflikt hatte zur Folge, daß Lenin in einem Zusatz zu seinem politischen Testament ein vernichtendes Urteil über den Charakter Stalins fällte und seine Absetzung verlangte. Später entschuldigte sich Stalin, verfolgte aber nach dem Tode Lenins die Witwe. Die Zeitungen durften so gut wie nichts über die langjährige Lebensgefährtin Lenins bringen, und als sich der Kampf innerhalb der Partei verschärfte und Frau Krupskaja ihre Stimme zur Mäßigung und zur gegenseitigen Toleranz erhob, enthob sie Stalin all ihrer Staatsämter, ja vorübergehend soll die alte Dame auch verhaftet gewesen sein. Erst 1937 wurde sie wieder in der Presse kurz erwähnt, und als sie 1939 starb, widmeten ihr die Zeitungen nur kurze Nekrologe. Sie hatte ein mehr als bescheidenes Begräbnis.

Überhaupt fanä die Verwandtschaft Lenins in den Augen Stalins keine Gnade. Die Schwester Lenins, Maria) von Anfang an in der Partei an verschiedenen Posten des Zentralkomitees, verschwand nach dem Tode Lenins vollkommen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Der jünger Bruder Lenins, Dimitrij Uljanow, ein Arzt, der in Südrußland lebte, war auch altes Parteimitglied, ohne sich aber je politisch besonders betätigt zu haben. Während der schweren Kämpfe mit der Opposition soll er sich mit Sympathie über seine langjährigen Bekannten und Freunde Trotzki, Kamenjew und Sinowjew geäußert haben und sich dadurch von Seiten Stalins gewisse Repressalien zugezogen haben. Wie sein und seiner Familie Schicksal sich dann gestaltet hat, ist völlig unbekannt.

So war es das Schicksal Lenins, daß er nicht bloß kinderlos starb, sondern daß das ganze Geschlecht Uljanow als ausgestorben gelten kann.

Fortsetzung folgt

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung