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Der goldene Drache färbte sich rot

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Im Jänner 1969 konnte man folgende Meldung aus Rotchina lesen:„In einen wahren Freudentaumel hat die Bevölkerung des kommunistischen China nach Angaben von Radio Peking die Meldung versetzt, daß der greise KP-Vorsitzende Mao Tse-tung bei bester Gesundheit sei und vor zwei Tagen an einer Massenkundgebung der Volksbefreiungsarmee teilgenommen habe. Mit Gesang und Tänzen, Freudenfeuern und Großkundgebungen habe die Bevölkerung ihrer übergroßen Begeisterung Luft gemacht.“ Liest man diese Nachricht, dann fragt man sich unwillkürlich: Hat Rotchina seine innere Krise überwunden? Wo sind die „Roten Garden“, wo sind die Rebellen, wo sind die Studenten, die sich laut und offen gegen Mao und einzelne seiner Helfershelfer erhoben haben? Was hat es mit den Meldungen auf sich, wonach in verschiedenen Städten Straßenschlachten und Massenverhaftungen stattgefunden haben? Ist Mao heute stärker denn je? Und im Gefolge dieser Fragen erheben sich neue: Wird die Chance, daß Rotchina eines Tages wieder eine echte Demokratie erhält, von Jahr zu Jahr geringer? Ist der Katholizismus, der in 650jähriger Missionstätigkeit unsägliche Opfer gebracht hat, endgültig tot? Und welche Folgen ergeben sich aus der blutigen Schießerei an der sowjetisch-chinesischen Grenze?

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Im Jänner 1969 konnte man folgende Meldung aus Rotchina lesen:„In einen wahren Freudentaumel hat die Bevölkerung des kommunistischen China nach Angaben von Radio Peking die Meldung versetzt, daß der greise KP-Vorsitzende Mao Tse-tung bei bester Gesundheit sei und vor zwei Tagen an einer Massenkundgebung der Volksbefreiungsarmee teilgenommen habe. Mit Gesang und Tänzen, Freudenfeuern und Großkundgebungen habe die Bevölkerung ihrer übergroßen Begeisterung Luft gemacht.“ Liest man diese Nachricht, dann fragt man sich unwillkürlich: Hat Rotchina seine innere Krise überwunden? Wo sind die „Roten Garden“, wo sind die Rebellen, wo sind die Studenten, die sich laut und offen gegen Mao und einzelne seiner Helfershelfer erhoben haben? Was hat es mit den Meldungen auf sich, wonach in verschiedenen Städten Straßenschlachten und Massenverhaftungen stattgefunden haben? Ist Mao heute stärker denn je? Und im Gefolge dieser Fragen erheben sich neue: Wird die Chance, daß Rotchina eines Tages wieder eine echte Demokratie erhält, von Jahr zu Jahr geringer? Ist der Katholizismus, der in 650jähriger Missionstätigkeit unsägliche Opfer gebracht hat, endgültig tot? Und welche Folgen ergeben sich aus der blutigen Schießerei an der sowjetisch-chinesischen Grenze?

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Chinakenner sind pessimistisch, vor allem seit auch China die Atom- und Wasserstoffbombe besitzt. Nationalchinesen hingegen sind optimistisch: „Es gärt auf dem ganzen Festland“, schreibt die in Formosa gedruckte Zeitung „Free China Weekly“. Aber wie verhält sich mit diesem Enthusiasmus und diesem Optimismus der Nationalchinesen die Tatsache, daß immer mehr Staaten des freien Westens Handels- und Kulturbeziehungen mit Rotchina aufnehmen, daß immer mehr freie Staaten des Westens mit politischen Beziehungen zum Reich der Mitte liebäugeln? Ist es nur die Rückendeckung „auf alle Fälle“, weil man nicht weiß, wann China als echte dritte Weltmacht ebenbürtig neben die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten tritt?

Westliche Politiker, nicht nur Amerikaner, sehen die Entwicklung In China mit skeptischen Augen an. -Wa>hstv Rotchina in diesen zwarwäg Jahren, zwischen 194ft und Ififlft-ge-schaffen? Es baute seine Universitäten und Forschungsstätten aus, es revolutionierte sein Verkehrsnetz, es brachte Millionen von Menschen regelmäßige Einkommen, es stellte sich mit dem Bau der Atombomben neben die Sowjetunion, die USA und Frankreich (die alten Erbfeinde Chinas!), und — was mehr ist — es gab dem ungeheuren chinesischen Volk eine Lehre, die zu einem echten Religionsersatz wurde.

Mehr als ein halbes Jahrtausend lang bemühte sich der Westen um das Reich der Mitte, zuerst auf rein religiösem Gebiet, dann auch auf dem Feld der Politik, der Kolonialmacht und der Besitzergreifung. Von kleinen Anfängen ausgehend, eroberte sich der Westen allmählich alle Provinzen.

1949, als der Kommunismus endgültig gesiegt hatte, besaß die katholische Kirche in China drei Universitäten, 184 Gymnasien, 150 Volksschulen und 2243 Landschulen mit zusammen 320.000 Schülern bzw. Studenten. Im gleichen Jahr zählte die Kirche 216 Krankenhäuser, 781 Apotheken, fünf Leprosenheime, 254 Waisenhäuser mit 16.000 Waisenkindern, 29 Buchdruckereien, die größte Bücherei von Schanghai, zwei Museen und ein ethnologisches Institut. In diesen Stätten katholischen Lebens wirkten 5800 Priester, von denen nahezu 300 Chinesen waren, und 7500 Nonnen, davon mehr als 5000 Chinesinnen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten wurde dieses religiöse Leben restlos zerstört; den Haßkampagnen gegen die Priester und Schwestern, gegen den Papst und den Vatikan („Priester sind Spione des amerikanischen Imperialismus“) folgten die Verhaftungen, die Folterungen, die Schauprozesse, die Todesurteile, die Verbannungen oder Ausweisungen.

Woran scheiterte die Kirche In China? Warum gelang es ihr trotz einer 650jährigen Missionierungsar-beit, trotz aller Opfer und Leiden, trotz heldenhaften Einsatzes und übermenschlicher Liebe nicht, China Christus zuzuführen? Warum waren 1949, als der Kommunismus die Macht ergriff, nur 3,5 Millionen China Katholiken und ■r 700.U00 Protestanten? ler chinesische Priester Professor Frangois Houang schrieb vor wenigen Jahren („Die Furche“, Wien, Nr. 15/1967) über China und das Christentum:

„Seit der Errichtung der kommunistischen Herrschaft in China hat man immer wieder behauptet, China könne überhaupt nicht bekehrt werden, seine Seele sei ihrem Wesen nach undurchdringbar für den christlichen Glauben; seine zu konkrete Sprache unfähig, die dogmatischen Wahrheiten zu formulieren, und sein philosophisches Wesen neige zu einem naturalistischen Pantheismus. Wenn das chinesische Volk niemals den christlichen Glauben annehmen könnte, wäre jedoch die Katholizität der Kirche nur ein Trugbild. Unleugbar gibt es für die chinesische Sprache mit ihrem ideographischen und monosyllabischen Charakter ohne feste grammatikalische Regeln Schwierigkeiten, abstrakte theologische Begriffe wie Trinität, Hypostase, Transsubstan-tiation usw. zu übersetzen. Diese Schwierigkeiten stellten jedoch keine unüberwindlichen Hindernisse für die Erkenntnis des Glaubens- dar. Wenn die heutigen chinesischen Intellektuellen sich alle Kenntnisse der westlichen Wissenschaft, Technik und Philosophie aneignen können, warum sollen dann nicht auch die chinesischen Christen zu dieser Arbeit der Assimilation fähig sein? Ohne Zweifel kann die theologische, vom griechischen Denken gefärbte Sprache den auf Konkretes orientierten chinesischen Geist verwirren. Dennoch bin ich überzeugt, daß die Kirche auf Grund ihrer besten missionarischen Tradition und der vom Konzil geförderten Offenheit für die Fragen der ganzen heutigen Welt immer weniger westlich und immer weltweiter werden und so auch ein günstiges Klima für das Erwachen und Erwachsen einer theologischen Sprache schaffen wird, die dem chinesischen Geist mehr angepaßt ist.“ Es sieht heute tatsächlich so aus, als könnte sich der Westen mit China nicht mehr verständigen, als wäre das „Rätsel China“ heute ungelöster denn je, weil seine Sprache wie seine Ideologie dem Westen von Jahr zu Jahr fremder geworden sind. Aber ist die Kirche im China von heute wirklich tot?

Es gibt zahllose Beweise dafür, daß die Kirche noch immer lebt, daß der Glaube nicht ausgerottet wurde, obwohl Millionen Menschen im Zuge der Säuberungen eingesperrt oder hingerichtet wurden. Flüchtlinge aus Rotchina, die in Hongkong eintrafen, berichteten von einheimischen Priestern, die in der Verkleidung von Bauern oder Fischern heimlich zu ihren alten Gemeinden kommen und dort die Sakramente spenden; sie berichteten von einem namenlosen Heldentum, das wir uns nicht vorstellen können und von dem die Welt vielleicht erst in ein paar Jahrzehnten — wenn überhaupt — erfahren wird. Hier lebt wieder der Mut der Urkirche, den schwerste Verfolgung, ja, selbst der Tod nicht restlos unterdrücken kann. Einige wenige Priester existieren noch. Louis Baracata, der große Chinakenner und Publizist, beschrieb eine Begegnung mit einem solchen Priester, einem alten Mann, in einer Kirche von Schanghai. Es ist eines der erschütterndsten Kapitel menschlicher Resignation, wenn der Priester sagt:

„Wir hatten in diesem Jahr zwölf Taufen, das ist nicht so wenig, wenn Sie bedenken, daß man es dem Stadtkomitee melden muß. Die Eltern wissen, daß ihnen daraus Nachteile erwachsen können... Ich darf nur einmal wöchentlich die Messe lesen. Aber ich halte die Kirche von halbsechs bis halbsieben Uhr offen. Da können die jungen Leute, die sonntags in der Arbeirs-schicht sind, schnell ein Vaterunser beten... Es gibt immer noch und immer wieder Menschen, die in ihrer Bedrängnis oder mit ihren Zweifeln zu uns kommen. Was mir aber weh tut, ist die Tatsache, daß es mir verboten ist, die Beichte abzunehmen.“ Auf die Frage, ob er Kontakte mit dem Vatikan unterhalte, sagte der Priester: „Nein. Wir mußten uns verpflichten, alle Kontakte mit dem Vatikan abzubrechen. Ich weiß ja nicht einmal, ob es noch einen Bischof gibt in China. Aber spielt das eine Rolle? Heute ist jeder auf sich selbst gestellt wie im Urchristentum.“

Aus all dem erkennt man bereits, mit welch unvorstellbar großen Schwierigkeiten die europäischen Missionare zu kämpfen hatten; von der Erlernung der Sprache ganz abgesehen. Aber da waren noch andere Schwierigkeiten: Krankheiten, besonders der gefürchtete Typhus, dem hunderte Priester und Schwestern erlagen; Räuberbanden, die jährhundertelang die einzelnen Provinzen unsicher machten, Klöster, Missionsstationen und Schulen überfielen und ausplünderten, Missionare als Geiseln verschleppten und viele ermordeten; die ständigen Kriege und Revolutionen, durch die unzählige Missionare zur Flucht und zur Aufgabe ihres Lebenswerkes gezwungen wurden; aber auch der ganz alltägliche Fremdenhaß der Mandarine, der sich in willkürlichen Einkerkerungen, Folterungen und Hinrichtungen manifestierte. Im Erfinden von Torturen waren die Chinesen Meister. Schimpfworte wurden den Gefangenen in die Wangen geritzt; andere ließ man in winzigen Käfigen verhungern; viele Priester wurden enthauptet, andere ertränkt oder gesteinigt; manchen wurde bei lebendem Leib die Haut abgezogen; viele überließ man der Wut des Pöbels.

Dieser Fremdenhaß steigerte sich im 19. Jahrhundert ins Unermeßliche, als die westlichen Kolonialisatoren das Protektorat über die Mission übernahmen. Die Kirche stand nun offiziell unter dem Schutz der europäischen Kanonenboote und Geschütze, und falls irgendwo eine Kirche geplündert oder ein Missd-nar ermordet wurde, folgte sofort eine Strafexpedition. Mancher europäische Bischof verschaffte sich Zugang „zu den Mandarinen bucb$jä£>-lich unter dem Schutz der Bajonette. Die furchtbaren Auswirkungen dieses Hasses zeigten sich in der Tai-ping-Rebellion, im Gemetzel von Tientsin und letztlich im Boxeraufstand, der folgende Opfer von der Mission forderte:

Provinz Tscheli: 1. Nord-Tscheli (40.000 Christen): sieben Missionare und 6000 Christen ermordet, große materielle Verluste, besonders in Peking und Paoting. — Südwest-Tscheld (33.000 Christen): mehrere hundert Christen ermordet. Südost-Tscheli (50.000 Christen): vier Missionare ermordet, 4000 Christen getötet oder auf der Flucht umgekommen. Drei Viertel aller Kirchen und kirchlichen Gebäude zerstört. Mongolei: Ostmongolei (9060 Christen): 1 Missionar lebend begraben, andere lange Zeit eingekerkert, einige hundert Christen ermordet, die Hälfte der Mission zerstört. — Zentralmongolei (17.000 Christen): 5 Missionare und viele Christen ermordet, 12 Residenzen, 60 Kirchen, 72 Schulen und 6 Waisenhäuser zerstört. — Südwestmongolei: Bischof Hamer grausam zu Tode gemartert, ein Missionar ertränkt, über 1000 Christen ermordet, 700 Frauen und Mädchen entführt.

Mandschurei (25.000 Christen): Dreizehn Missionare und zwei Schwestern ermordet, Bischof Guillon enthauptet, 150 Christen lebend verbrannt, tausend andere ermordet, fast alle Kirchen zerstört. Provinz Schansi: Nordschansi (über 13.000 Christen): Zwei Bischöfe, ein Laienbruder, sieben Schwestern und elf Seminaristen ermordet, 5000 Christen durch Mord oder Hunger umgekommen, fast alle Missionsbauten zerstört. — Südschansi (10.000 Christen): Fast 2000 Christen ermordet, die bischöfliche Residenz und alle Kirchen zerstört. Provinz Hunan (rund 6000 Christen): Bischof Fantosati und zwei Missionare ermordet, 22 Christendörfer gebrandschatzt, fast alle Missionsbauten vernichtet...

Insgesamt fielen in diesen fünf Provinzen über 20.000 Christen, rund 50 Missionare und neun Schwestern der blutigen Verfolgung während des Boxeraufstandes 1900 und 1901 zum Opfer.

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