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Der Grofe Brockhaus

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Der längste Artikel in diesem Band ist Oesterreich gewidmet. Er umfaßt 15 Spalten und man wird dem überwiegenden Teil dieser Darstellung, der die geographische Lage, die Bevölkerung, Recht und Verfassung, Wirtschaft und Bildungswesen betrifft, ohne Vorbehalt zustimmen. Zur im allgemeinen vortrefflichen Uebersicht der Geschichte hätten wir manche Einzeleinwendungen vorzubringen. Sie gelten subjektiven Urteilen (z. B. „da die kathol. Geistlichkeit vielfach die 6law. Bestrebungen unterstützte, entstand zugleich gegen den polit. Katholizismus die Los-von-Rom-Bewegung“) und sachlichen Unrichtigkeiten (etwa: „Der kaiserl. Regierung, Lammasch, J. v. Andrässy, J. Redlich, I. Seipel, wurde die Liquidierung des Krieges und der Monarchie überlassen.“ In Wahrheit verwaltete Graf Andrässy d. J. das gemeinsame k. u. k. Ministerium des Aeußern, in der k. k. Regierung Lammasch saßen Redlich und Seipel, doch ebendieses Kabinett hatte mit der Liquidierung des Krieges und der Monarchie nichts zu tun, die ausschließlich dem überbleibenden Rumpf des Außenministeriums und noch dem des AOK und des Kriegsministeriums zufiel). Die recht gute und verhältnismäßig ausführliche Schilderung der Jahre 1927 bis 1939, rund vier Spalten, steht in krassem, ungerechtfertigtem Gegensatz zur summarischen Erledigung der Zeit von 1945 bis 195 5, 15 ZeilenI Ueber O' kein Sterbenswörtchen. Die bibliographischen Angaben bedürften gründlicher Revision. Die Zusammenfassung der Kunstgeschichte befriedigt, die der Musik ist zur Bedeutung der österreichischen Tondichtung dem Umfang nach in unentschuldbarem Gegensatz, doch zutreffend im knappen Inhalt. Energischer Widerspruch aber sei zum ermüdenden Namenskatalog angemeldet, der statt einer das Wesentliche und die Wesentlichen herausholenden Charakteristik auf an sich genügendem Raum die österreichische Literaturgeschichte seit der Jahrhundertwende bieten will. In groteskem Kunterbunt stehen da überragende Ingenien — Karl Kraus, Rilke, Trakl, Weinheber, Hofmannsthal — und ganz große Begabungen — Musil, Broch, Altenberg, Bahr, Schaukai, Billinger, Werfel, die Handel-Mazzetti, Paula Grogger, Meli, Csokor, Hochwälder, Felix Braun, NabI — neben überdurchschnittlichen und gerade noch.an der Grenze zum middle brow beharrenden Talenten und, leider, leider, neben unparteiisch aus dem Bluboschrifttum und der Asphaltliteratur, aus rechts oder links erfolgreichem Un- . kunsthandwerk schöpfender Selektion der Mittelmäßigkeit und der Untermittelmäßigkeit. (Nomina sunt, aber schon sehr, odiosa; ich ziehe vor, sie nicht zu nennen.)

Erledigen wir nun rasch die andern kritischen Einwürfe, die wir zum achten Brockhaus-Band vorzubringen haben. Als wichtigsten den, daß sich in betrüblicher Weise Spuren eines Geistes finden, den wir lieber aus dem durch sein Bemühen um Sachlichkeit und Unbefangenheit lobenswürdigen Lexikon verbannt wüßten. Zur Probe hier ein Ausschnitt aus dem Artikel Oradour: „ ... wurde am 10. 6. 1944 auf Grund einer Verwechslung von dt. SS-Truppen als • Repressalie gegen Partisanentätigkeit eingeäschert; der größte Teil der Bevölkerung kam dabei um. (Ah! qu'en termes galants!) Die Grundlage für den fran-zös. O.-Prozeß (Bordeaux 1953) bildete die Lex Oradour. Die zwangsweise zur SS eingezogenen Elsässer wurden später von diesem Gesetz ausgenommen, so daß seine Anwendung auf die vergleichbaren (??) nichtelsäss. Angeklagten rechtlich noch weiter diskreditiert worden ist“. Wir empfehlen dein Verfasser dieser Prosa, aus der man unschwer herausliest, der Ermordete und nicht der Mörder sei schuldig, die herrlichen Worte zu lesen, die Bundespräsident Heuss im KZ Belsen gesprochen hat („Würdigungen“ 1955): „Wer hier als Deutscher spricht, muß sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hiei von Deutschen begangen wurden, zu erkennen. Wer beschönigen oder bagatellisieren wollte, der würde nur frech sein... Die Deutschen dürfen nie vergessen, was von Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah. Nun höre ich den Einwand: und die anderen ? .-. , Unrecht und Brutalität der anderen zu nennen, um sich darauf zu berufen, ist das Verfahren der moralisch Anspruchslosen.“

Unter den biographischen Schlagworten vermissen wir unter anderem: den russischen Staatsmann Milu-tin, den argentinischen Präsidenten und bedeutenden Politiker Mitre, den polnischen Kritiker Moch-nacki und seinen Landsmann, den Komponisten Moniuszko, den Sultan von Marokko Mohammed Ben Jussef, den Helden so vieler Tragödien Monaldeschi, den kanadischen Nationalhelden Montcalm, den Obersthofmeister Franz Josephs und einflußreichsten Gegenspieler Franz Ferdinands Fürsten Montenuovo, den südamerikanischen Diktator Darcia Moreno, den Dogen Morosini, den genialen polnischen Barock-dichter Morsztyn, den Wiener , Erzbischof Kardinal Nagl, den serbischen Ministerpräsidenten und Kollaboranten Nedic, General Negrier, den Gatten Marie-Louises Neipperg, den italienischen Diplomaten Conte Nigra, den französischen Literaturhistoriker Nisard, die Lyrikerin Marie Noel, den Kunsthistoriker Nol-hac, den ausgezeichneten belgischen Romancier Pierre Nothomb, den dänischen Philologen Nyrop, den spanischen Staatsmann O'Donnell, Omer Pascha, den polnischen Publizisten Orzechowski, den berühmten Kanzler Jerzy Ossolinski, den Filmregisseur Pabst, den tschechischen Politiker Pacäk, den spanischen Nationalhelden Palafox, mehrere Vertreter der ungarischen A^agnatenfamilie Pälffy, den Afrikareisenden Mungo Park, den Agronomen Parmentier. Es fehlt ein Schlagwort Mitteleuropa als politischer Begriff (Naumann 1). New York und Paris sollten nicht nur durch ungenügende Uebersichtskarten, sondern durch ausführliche Stadtpläne vertreten sein. Manche biographische Notizen sind zu spärlich geraten, so die über Mussolini (ohne Bild 0 über Nikolaus I. von Rußland, die Ottonen. Mitunter gibt es kleine und amüsante Entgleisungen, so wenn unter der voreingenommenen muselmanischen Literatur über Mohammed als einziges Beispiel Essad Bey erwähnt wird, welcher Urtürke mit seinem wahren Namen Nussinblatt hieß. Sehr verstimmt der Artikel über Nestroy, der, ungeachtet der drei seit 1912 erschienenen Hauptwerke über diesen genialen Magier des Wortes zitiert werden, in der Weise abgetan wird, wie sie etwa bis in die neunziger Jahre des vorigen Säkulums üblich war. Aus. Und nun zur überzeugten Anerkennung. Bebilderung und Kartenmaterial sind wieder über jedes Lob erhaben. Wir verzeichnen als bestes unter dem Guten: Miniatur, Mittelamerikanische Kulturen, Mode, Moderne Malerei, Mosaik, Moskau, Münzen, New York, Niederländische Kunst, Nordamerikanische Kunst, Orchideen, Ostkirche, Ozeanien, Papageien, Paris. Aus der Fülle der wertvollen Einzelartikel seien gerühmt: die biographischen Schlagworte Miltön, Moliere, Moltke, Montaigne, Montesquieu, Monteverdi, Mörike, Mozart, Murillo, Nietzsche, Nithardt (-Grünewald), Novalis, Opitz, Ostwald, Ovid, Oxenstjerna, Pale-strina, Palladio, Paracelsus. Sodann staatsrechtliche Darlegungen über Minderheit, Minister, Mittelstand, Monarchie, Nation, Parlament, Partei, literarische über das Schrifttum der Neger, der Neugriechen, der Niederländer, der Nordamerikaner, über das* Nibelungenlied und Parzifal, über Novelle und Parodie, philosophische wie Naturphilosophie, Naturrecht, Neukantianismus, Pädagogik. Von Darstellungen religiöser Probleme erwähnen wir Missionen, Mönch-tum, Mysterien, Mystik, Mythen, Offenbarung, Oekumenische Bewegung, Orakel, Orientalische Kirche, Ostkirche, Papst und Papsttum, alles vom Standort eines wohlwollenden Außenstehenden betrachtet. Eine Reihe sehr gelungener Länder- und Städteartikel gewähren gedrängten Auf Schluß ' nach: dem neuesten Stand der Dinge, so Mongolei, Mün* •eben, Neger, Neuseeland, New. York, Nicaragua, Niederlande, Nordamerika, Nordrhein-Westfalen. Norwegen, Pakistan. Palästina, Paraguay, Paris.

Wie stets sind die Naturwissenschaften und speziell die Technik vortrefflich bedacht. Mikroskop, Milch, Milchstraße, Molekül, Mond, Mund, Muschel, Muskel, Mutation, Narkose, Nase, Natrium, Nerven, Neurose, Nickel, Nieren, Oberfläche, Obst, Öhr, Ölfrüchte, Operation, Opium, Optik, Orchideen, Osmose, Ozon, Paläontologie, Palmen, Papier, Parallaxe dürfen als repräsentative Schlagworte aus diesem weiten Bereich angesehen werden. Sie bringen dem Unzünftigen in verständlicher Form überraschend reiche Belehrung. Mit dem Dank dafür nehmen wir von einem Band Abschied, der wie jeder vorangegangene des Großen Brockhaus den Wunsch auslöst: vivant sequentes, wir freuen uns schon auf die folgenden Bände!

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