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Der grofe Tag

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Der 10. Jänner 1946 wird groß in künftigen Kalendern denkwürdiger Ereignisse Stehen. Der Zusammentritt der „Vereinten Nationen“ zu ihrer ersten Generalversammlung leitet schicksalschwangere Wochen ein. Obwohl wir Österreicher nur in der Rolle von Zaungästen daran Anteil nehmen, derzeit nur Zuschauer aus der Entfernung, ohne Sit* und Stimme, so geht es doch in den bevorstehenden Beratungen und Beschlüssen auch um unser Wohl und Wehe, in Anbetracht unserer Lage sogar ernster als für manchen anderen Staat.

Es ist ein ermutigend gutes Vorzeichen, daß die Moskauer Konferenz zwischen den drei führenden Großmächten allerlei bedenklich verkrustete Mißverständnisse beseitigt und in großem Rahmen zu einem Einverständnis geführt hat. Ohne diese Wiederherstellung des Vertrauens, zu der erkennbar alle Beteiligten beitrugen, hätte die Welt schwerlich mit so viel Hoffnung der Begründung eines auf völlig neuen Grundlagen aufzubauenden Völkerbundes entgegensehen können, wie dies heute geschehen kann. Nicht umsonst bezeichnete ein Moskauer Blatt das Konferenzergebnis als Landmarke für die Völkerverständigung. Der Grundgedanke ist derselbe wie jener, aus dem die Schöpfung entsprang, zu der sich die Siegerstaaten des ersten Weltkrieges zusammenfanden: Organisierte Zusammenarbeit aller Völker zur Sicherung des Weltfriedens und der allgemeinen Wohlfahrt. Doch trennen grundsätzliche und praktische Unterschiede die alte und neue Institution: An erster Stelle durch die Beschränkung der Souveränitätsrechte, die alle beteiligten Staaten als Tribut an eine künftige, dauerhafte Lebensverbundenheit der Staaten und Völker einzubringen haben, und durch die tatsächliche Aufrichtung einer militärischen Vollziehungsgewalt, die den bewaffneten Schutz des Weltfriedens zu verbürgen hat. Das Vertragsgerüst des Völkerbundes ruhte auf einer Lex imperfecta, einem „unfertigen Gesetz“, das in Vorschriften bestand, die keine Kraft zur Durchführung ergänzte. Als eine der wichtigsten Einrichtungen, die in der jetzigen Tagung der „Vereinten Nationen“ als dringlich zu behandeln sind, gilt deshalb die Schaffung eines internationalen Generalstabes, dem internationale Luftstreitkräfte mit steter Bereitschaft zur Verfügung stehen.

Es wäre zu wenig gesagt, wenn man die Größe des geplanten Unternehmens mit der Feststellung andeuten möchte, daß ähnliches noch nie unternommen worden ist. Es mußte erst Amerika in der vollen Entfaltung seiner Macht an den internationalen Angelegenheiten Anteil nehmen, um einen solchen Plan mit Aussicht auf reale Ergebnisse aufnehmen zu können. Wird die UNO., die „Organisation der Vereinten Nationen“, wirklichkeitserfüllte Macht, so beginnt für die Menschheit ein neues Zeitalter. Es ist ein Ausblick von so traumhafter Schönheit, daß man darum zittern möchte, ob er volle Wahrheit werden wird.

Die Vorgeschichte der Tagung„ deren Schauplatz die berühmte Halle der einstigen Benediktinerabtei von Westminster in der Londoner City ist — ihr geht eine feierliche Eröffnung in den Staatsräumen des Oberhauses voraus —, zeigt auf das allmähliche Wachsen und Reifen des großen Planes.

Als sich im August 1941 auf einem Kriegsschiff irgendwo im Atlantik Churchill und Roosevelt, diese beiden Staatsmänner providen-tieller Größe, zu grundsätzlicher Aussprache zusammenfanden, wurde in der Atlantikcharta, mit der sie engste Zusammenarbeit aller Völker für die künftige Sicherung des Weltfriedens als Prinzip künftiger konstruktiver Weltpolitik niederlegten, der Ausgangspunkt geschaffen. Schon vier Monate später konnte die formelle Gründung der Organisation der Vereinten Nationen in Washington unter Teilnahme der 26 Staaten, die gegen die Achsenmächte im Kriege standen, erfolgen. Zum eigentlichen Geburtsorte des großen Planes und seiner gesetzgeberischen Detailformulierung wurde dann im Frühjahr 1945 die Weltkonferenz von San Franzisko, in deren Beschlüssen sich 51 Staaten vereinigten.

Von dem beschlossenen Organisationsentwurf und seiner Zielstellung sagt mit Fug der Londoner „Spectator“, die Welt trete damit in Versuche ein, für die die Geschichte keine Parallele habe. Da ist der Sicherheitsrat, der geschaffen wird, um künftige kriegerische Verwicklungen zu verhindern, mit allen Vorkehrungen für Rüstungsbeschränkungen, Schiedsgerichten, Strafverfahren und militärischen Vorsorgen; er allein schon wird ein neues Kompendium des Völkerrechtes verlangen. Dann der Rat für Innere Organisation, dem die administrative und technische Einrichtung des neuen Völkerbundes anvertraut sein wird, der Rat für Arbeiterrecht und für soziale und volkswirtschaftliche Angelegenheiten, voraussichtlich mit dem Sitze in Genf, ein anderer, der an Stelle der kolonialen Mandatsverwaltungen ein internationales Treuhändersystem setzen soll, dann ein Rat für Erziehung und Kultur, dessen Richtlinien, wie sie Artikel 35 der Charta festsetzt, schon der Kritik begegnen, sie seien zu unbestimmt, ein weiterer für Völkerrecht, der zu Ehren der Tradition im Haag tagen soll, ein siebenter für Ackerbau und Volksernährung. Die Liste der Untergliederungen, zu denen unter anderen noch die Kommissionen für die Behandlung der Probleme der Atomentdeckungen und jene zur Ausführung der Währungsfondsbeschlüsse von Bretton Woods kommen werden, ist damit noch nicht erschöpft.

Es wird guter Baukunst bedürfen, diesem Wolkenkratzer einer internationalen Organisation ein festes Fundament und die rechte Statik zu geben. Aber die Planung ist nicht größer als das ungeheure Erlebnis der Menschheit, das dieses Vorhaben hervorgerufen hat. Solange die Völker entschlossen bleiben, den stärksten Einsatz von Geist, | sittlicher Kraft und staatlicher Macht, aber auch große Opfer daran zu wagen, daß künftig solche Katastrophen unmöglich werden, darf man Zuversicht haben, auch wenn Stockungen und Enttäuschungen auf dem Wege der Vereinten Nationen nicht ausbleiben werden.

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