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Der Heilige Rock bewegt die Massen

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Das Gewand, das Jesus angeblich getragen hat, lockt über eine Million Pilger in die deutsche Moselstadt Trier.

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Das Gewand, das Jesus angeblich getragen hat, lockt über eine Million Pilger in die deutsche Moselstadt Trier.

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Nach und nach tröpfeln einige Trierer am vergangenen Montag in den großen Festsaal der alten Löwenbrauerei. Unsicher orientieren sie sich an den ausgelegten Broschüren. Vorne am Podium herrscht reges Treiben. Plakate werden auf eine Stellwand geklebt und ein Grundriß vom Trierer Dom. Die Angestellten des Trierer Bistums treffen Vorbereitungen für den Informationsabend zur „Heilig Rock Wallfahrt", die in zwei Wochen beginnt.

Mehr als eine Million Pilger werden erwartet. Die Bürger der Stadt sollen eingebunden werden in das Geschehen und nicht von den Besuchermassen überfallen werden. Das Interesse an der Bürgerinformation ist jedoch gering. Die Fragen beziehen sich auf die geänderte Verkehrsführung in der Stadt vom 19. April bis zum 16. Mai. Kritik gibt es keine. Die Trierer sind Besucherströme ohnehin gewöhnt. Jeden Sommer kommen bis zu 20.000 Besucher pro Tag in die älteste Stadt Deutschlands, um die antiken Bauwerke der Römer zu besichtigen.

Der Mutter des römischen Kaisers Konstantin, der heiligen Helena, verdankt die Stadt ihre kostbarste Reliquie, den Rock Jesu Christi. Die fromme Helena machte sich im Jahre 327 auf den Weg nach Jerusalem. Bei den Bauarbeiten zur Grabeskirche fanden Arbeiter Reliquien, die sie ihr mitgaben. Neben Teilen des Kreuzes befand sich in den Kisten auch der Heilige Rock. Strapaziert von Oer rteise Kernte Helena nach Konstantinopel zu ihrem Sohn Konstantin zurück. Auf ihrem Sterbebett ordnete sie an, die Reliquien nach Trier zu entsenden.

Erstmals schriftlich erwähnt wurde der Heilige Rock im elften Jahrhundert. Bis zum Jahre 1512 verblieb er jedoch ungesehen im Dom. Kaiser Maximilian forderte dann den damaligen Erzbischof auf, die Tunika zu zeigen. Noch im selben Jahr wurde die erste Wallfahrt veranstaltet und damit eine Tradition begründet. In unregelmäßigen Abständen wurde je nach politischer und kirchenpolitischer Lage die Beliquie öffentlich ausgestellt. Gemeinsam war den Wallfahrten nur, daß sie immer zu einem kritischen Zeitpunkt stattfanden, wie zum Beispiel 1933, als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen.

Die diesjährige Wallfahrt soll ebenfalls einen Wendepunkt markieren. Vor drei Jahren wurde der Beschluß gefaßt, den Heiligen Rock 1996 auszustellen. Bischof Hermann Josef Spital kündigte damals an, mit der Wallfahrt zur Jahrtausendwende ein Zeichen des Friedens und der Hoffnung zu setzen.

Erstmalig hat die Wallfahrt auch einen ökumenischen Charakter. Die katholische und evangelische Kirche nutzen den Anlaß, sich näherzukommen. Die Reliquie selbst ist dabei behilflich: Das ungenähte Tuch, das an einem Stück gewebt ist, symbolisiert die Einheit der Kirche.

In der Organisationszentrale im Bistum laufen nun die Telefone heiß. Allein am Tag der Europäischen Nachbarbistümer kommen 85 Pilgerbusse an. Um den Verkehr nicht vollends zum Erliegen zu bringen, haben die Verkehrsbetriebe ihren öffentlichen Personennahverkehr umstrukturiert.

Einige Trierer fühlen sich angesichts solcher Massenabfertigung an die Wallfahrt im Jahre 1959 erinnert, bei der Brücken über die Straßen gebaut wurden, um die Pilgerströme direkt vom Bahnhof in den Dom und wieder zurück zu schleusen. Im jetzige Konzept ist dagegen die Stadt eingebunden. Bäcker wetteifern um die Torte mit dem schönsten Rock, Souvenirläden können gar nicht genug Postkarten mit dem Motiv der Reliquie drucken. Das Bistum selbst überläßt den Gewinn mit den Andenken weitgehend den Gewerbetreibenden. Dafür geht es in seiner Öffentlichkeitsarbeit neue Wege: Die Firma „Megamedia" wurde engagiert, um PB und technische Abwicklung der Veranstaltung zu unterstützen. Und ab dem 9. April ist das Bistum mit einer Homepage im Internet vertreten, um aktuell über die Wallfahrt zu informieren.

Der Dom dient nicht nur als Ausstellungsraum für den Rock, sondern auch als Veranstaltungsort für viele Eucharistiefeiern, die einzelne Pilgergruppen auch selbst gestalten können. Die Öffnungszeiten sind attraktiv: Von morgens halb elf bis abends um halb zehn. Damit bietet sich die Möglichkeit, so Organisationsleiter Wolfgang Meyer vom Bistum, auch am Abend in aller Ruhe die Reliquie anzuschauen. Überhaupt rechnet er mit vielen Spontanbesuchern, die die Stadt besichtigen und dann eben noch mal kurz im Dom vorbeischauen: „Es ist eben heutzutage nicht nur in, last minute zu verreisen, sondern auch last minute zu wallfahrten."

Um eine gute Abwicklung zu gewährleisten, hat das Bistum über tausend ehrenamtliche Helfer gewonnen. Einige werden an Infopunkten in der Stadt postiert sein, um Programme zu verteilen und Orientierungshilfe zu geben. Andere werden kleinere Gruppen begleiten und durch den Dom führen. Andere sind wiederum dafür eingeteilt, die Besuchermassen durch den Dom zu schleusen und die Absperrungen zu sichern.

Der Rock selbst liegt in einem klimatisierten Glasschrein vor der Altarinsel, der eigensTür diese Wallfahrt hergestellt wurde. Die Tunika wurde im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Andere Fasern wurden darübergelegt, um die beschädigte Substanz zu schützen. Die Stofflagen bestehen aus rotbraunem Seidensatin, bräunlichem Tüll und grünlichem Taft.

Die Berner Textilhistorikerin Mechthild Flury-Lemberg, die die Reliquie untersucht hat, geht davon aus, daß die Wollfasern, die einen teilweise verfallenen Filz bilden, das ursprüngliche Gewebe darstellen. Alter und 1 Ierkunft können nicht genau bestimmt werden. Es steht lediglich fest, daß das Gewand aus der Zeit und vom angeblichen Findungsort stammen könnte. Selbst die Veranstalter beharren nicht auf der Echtheit der Reliquie. Sie sehen den Rock als Symbol für die Menschwerdung Christi.

Die Autorin ist

freie Journalistin.

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