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Der Hisioriker der Demokratie

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Das ; Mißverständnis ist der Weg zur Popularität, und wenn einmal ein ernsthafter Historiker zum Propheten gestempelt wurde, kommt dann gewöhnlich eine Neuauflage. So entwickelt sich auch die Tocqueville-Mode der letzten Jahre allmählich zu einer höchst begrüßenswerten Tocqueville-Renaissance. Der vollständige Text seiner Erinnerungen wurde bei Gallifnard veröffentlicht und hat die zehnte Auflage schon lange überschritten; eine schon längst fällige Neuauflage von „La democratic en Amerique“ wird angekündigt.

Diese Mode und Renaissance verdankt Tocqueville den in den letzten Jahren oft zitierten Schlußsätzen der „Democratic en Amerique“:

„Es gibt heute zwei große Völker, die, von entgegengesetzten Punkten ausgehend, demselben Ziel zuzustreben scheinen: die Russen und die Nordamerikaner… Die Welt erfuhr fast im gleichen Augenblick von ihrer Entstehung und von ihrer Größe…

Das eine Volk verläßt sich auf das persönliche Interesse und läßt Kräfte und Geist der einzelnen frei walten. Das andere sammelt sozusagen die ganze Macht der Gesellschaft in einem Mann. Verschieden sind Ausgangspunkte und Wege; nichtsdestoweniger scheint jedes dieser Völker durch eine geheime Fügung der Vorsehung dazu berufen zu sein, einst das Schicksal der halben Welt in seinen Händen zu halten. Es ist kein Wunder, daß solche Sätze, die 1835 geschrieben wurden und jetzt ihre Bestätigung zu finden scheinen, Alexis de Tocqueville in den Ruf eines Propheten gebracht haben, obwohl er das gerade Gegenteil davon gewesen ist: nämlich ein Vorbild des historischen Scharfblicks und der geistigen Sauberkeit.

Er war Politiker, Historiker und Denker, aber diese drei Tätigkeiten bilden eine einzige, harmonische Laufbahn, die zwar mit einem politischen Versagen endete, aber gerade dieses Versagen verleiht ihr wieder eine Art Vollendung im ganzen.

In Verneuil 1805 als Sohn eines uralten adeligen Geschlechts der Normandie geboren, mußte er mit seiner ganzen Klasse die Widersprüche einer Zeit erleben, wo der Adel seine moralische Autorität und politische Macht in der Provinz noch teilweise behielt, sie aber im Leben der Nation immer mehr verlor. Aber Alexis de Tocqueville erlebte diese Zeit und die Trhgödie seiner Klasse mit unbestechlichem Verstand und hohem Verantwortungsgefühl und erkannte die Unvermeidlichkeit der Entwicklung zur Demokratie und die Aussichtslosigkeit jedes Widerstandes. Nicht aus jenem historischen Masochismus, den wir aus verschiedenen Beispielen kennen. Tocqueville empfand seinen Adel nicht als Privileg, sondern als Verpflichtung und hielt es für die Berufung der Besten unter den Adeligen, der demokratischen Entwicklung zu dienen und sie dadurch vielleicht in die richtige Bahn zu lenken. Er befürchtete nämlich einen Konflikt zwischen dem Ideal der Freiheit, auf das sich die Demokratie beruft, und dem Prinzip der Gleichheit, das ihr zugrunde liegt, befürchtete als ein mögliches, obwohl nicht unvermeidliches Ergebnis der demokratischen Entwicklung die Entstehung einer neuartigen Tyrannei.

Deshalb fuhr er mit 25 Jahren, als die Julirevolution die letzten Überreste des Feudalismus beseitigte und von den Grundpfeilern der traditionellen Ordnung nur mehr das Prinzip des Privateigentums bestehen ließ, nach Amerika, nicht um zu emigrieren, sondern um zu lernen.

„La dėmocratie en Amerique ist die Frucht dieser Studienreise. Dieses Buch war als politische Tat gedacht. Tocqueville wollte im politischen Leben des ersten (und damals einzigen) rein demokratischen Staates das Funktionieren und die Entwicklungsmöglichkeiten des demokratischen Systems studieren, und aus diesem Studium praktische Lehren für die künftige französische Demokratie ziehen. Der literarische Erfolg war groß, mit 33 Jahren wurde der Autor Mitglied der Akademie der politischen Wissenschaften, mit 36 Jahren, nach dem Erscheinen des zweiten Bandes, Mitglied der Acadėmie Franęaise; aber das Buch hatte sein Ziel insofern verfehlt, als die praktische Lehre sich nicht anwenden ließ. Tocqueville sah im Föderalismus die stärkste Garantie der Freiheit in der amerikanischen Demokratie und wußte nur zu gut, wie tief die Tradition des Zentralismus in Frankreich verhaftet war, und sein Ideal der freiheitlichen christlichen Demokratie mußte er ohne Doktrin, obwohl nicht ohne Prinzipien verfechten.

Zum Abgeordneten gewählt (1839), bekämpfte er den starren Konservativismus der Regierung Guizot und warnte die Parlamentsmehrheit und die Monarchie vergeblich vor der bevorstehenden Revolution. Die Revolution kam und Tocqueville stellte sich nach einem letzten ritterlichen Versuch zur Rettung der Monarchie in den Dienst der Republik: er war weder Republikaner noch Monarchist und hielt die republikanische Lösung jedenfalls für verfrüht, wünschte aber eine ruhige politische Entwicklung, die die Freiheit gewährleistete. Er war ein Gegner jeder gewaltsamen Umwälzung; deshalb nahm er gegen den Pariser Arbeiteraufstand vom Juni 1848 entschieden Stellung. Aus derselben Ablehnung jeder Gewalt erklären sich seine Tätigkeit als Außenminister zur Erhaltung des Friedens und am 2. Dezember 1851 sein Widerstand gegen den Staatsstreich Louis Napoleons, der, nach einer vorübergehenden Verhaftung, seinem politischen Leben ein Ende setzte. Von nun an reiste er in Italien und Deutschland, arbeitete an seinen Erinnerungen und an „L’Ancien Regime et la Revolution“. Er starb 1859 mit 54 Jahren. Der Politiker Tocqueville hatte versagt.

Aber nicht der Historiker. Seine jetzige Popularität dankt er zwar, nach Jahrzehnten halber Vergessenheit, der zufälligen Enthüllung seiner oben erwähnten Prophezeiung; nicht jeder kann wissen, daß sie aus einer Zeit stammt, in der Alaska noch russischer Besitz war. Aber Tocqueville war kein Prophet (sonst könnte man ihm vorwerfen, daß er weder den Sezessionskrieg noch die Verstärkung der Bundesgewalt in Amerika vorausgesehen hat), er war Historiker, und wahrscheinlich sogar der erste Historiker, der gewisse, heute selbstverständliche Voraussetzungen und Forschungsmethoden anwendete, und dies als Sechsundzwanzigjähriger. In den Jahren 1830 bis 1840 war es noch nicht selbstverständlich, einer verfassungsrechtlichen Studie eine geographische Einleitung vorausgehen zu lassen, den politisch-juridischen „überbau“ aus dem wirtschaftlichen „Unterbau“ zu erklären, und die geschichtliche Erzählung der Darstellung des Gesellschaftsbildes völlig unterzuordnen. Auch war es damals zwar nicht beispiellos, aber auch nicht selbstverständlich, daß ein Reisender, anstatt sich auf Interviews mit wohlinformierten Persönlichkeiten zu beschränken, die ganze einschlägige Literatur ausschöpfte, die Verfassungen einzelner Bundesstaaten und Einrichtungen einzelner Gemeinden durchstudierte und seine Quellen mit allen bibliographischen Daten angab. Was aber damals beispiellos war und bahnbrechend, ist folgendes: zu diesem Buch, das einem verfassungsrechtlichen Thema gewidmet war, hat Tocqueville Wirtschaftsstatistiken benützt, Zahlen zitiert und die Notwendigkeit dieser Methode eingesehen. Er hat vielleicht als allererster erkannt, daß zum Studium der amerikanischen Verfassung die Umsatzstatistiken der verschiedenen Häfen, das Budget der einzelnen Gemeinden und die Lohnskala der Bundesverwaltung wichtig sind. Diese Verdienste und sein Interesse für did Rolle der historischen und soziologischen Faktoren in der Entstehung der amerikanischen Mentalität machen Tocqueville zum ersten völlig modernen Historiker, zum Vorläufer der modernsten Auffassung der Geschichte und zu einem, leider selten befolgten Beispiel für all jene, die den Reporterberuf ernst nehmen.

Da die Aufzählung solcher Verdienste etwas einschüchternd klingen mag, muß ausdrücklich festgestellt werden, daß er dabei gar nicht langweilig war. Freilich verzichtet er auf jede Anekdote und auf jedes malerische Detail. Bei ihm wird jede Beobachtung zu einer abstrakten Formulierung destilliert, aber diese Formulierung ist immer prägnant. Als Stilist erhebt er keine Ansprüche auf Effekt und Originalität: er schreibt die Sprache einer Zeit, in der noch jeder Gelehrte und jeder Politiker seine Sprache beherrschte und von der klassischen Bildung durchdrungen war. Und er schreibt sie gut. — In seinen historischen Werken lehnt sich sein Stil an die Tradition der ciceroniani- schen Rhetorik an, in seinen Erinnerungen herrscht ein freier, persönlicher Ton, der an Montesquieu und vor allem ctn Tacitus erinnert. Die Schlußsätze sind von aphoristischem Glanz und die Charakteristiken politischer Freunde oder Gegner von einer vornehmen, ausgewogenen, unparteiischen Boshaftigkeit: Karikaturen aus Marmor.

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