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Der Kaiser Joseph von Danemark

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Vor fünf Jahren ist in Dänemark eine Einrichtung geschaffen worden, die der mitfühlenden Phantasie eines Hans Christian Andersen unserer Zeit entsprungen sein könnte. Es ist der Ombudsmand, auf deutsch: der Überbringer. In alten, alten Zeiten hat es den Ombudsmand schon gegeben: einen Mann, der Beschwerden entgegennahm und sie an die richtige Stelle brachte.

Der Ombudsmand des Jahres 1960 fungiert für das ganze Königreich Dänemark; tatsächlich ist er der Kaiser Joseph der modernen parlamentarischen Demokratie. Zu ihm kann jeder Mensch in Dänemark gehen, der eine Beschwerde gegen irgendeine Behörde hat, und kann sicher sein, sofort vorgelassen und angehört zu werden. Und wenn seine Beschwerde auf irgendeine Weise berechtigt ist, kann er sicher sein, daß sie mit märchenhafter Geschwindigkeit (oh, Hans Christian!) erledigt wird. Denn der Ombudsmand äst der mächtigste und unabhängigste Mann von ganz Dänemark. Er ist es, damit andere weniger ohnmächtig und abhängig seien. *

Der Mann, der derzeit mit diesem Amt betraut ist, heißt Stephan H u r w i t z und ist von Beruf Universitätsprofessor der Rechtswissenschaften. In drei Jahren wird der Träger dieser Funktion möglicherweise ein anderer sein: Der Ombudsmand wird alle vier Jahre vom Parlament neu gewählt; Professor Hurwitz wurde bereits zum zweitenmal für das Amt ausersehen. Es ist als Institution ausdrücklich in die neue dänische Staatsverfassung von 1953 aufgenommen und verankert wöYdenH Det^OmbudstfiaHd berichtet dem Parlament einmal im Jahr, im •ü-brigenist^er völlig unabhängig von“der'Regierung und jeder Behörde. Mehr noch: Er steht über jeder Instanz und kann über ihren Kopf hinweg in jeder Sache intervenieren, die ihm zugebracht wird; er kann aber auch selber Mißstände feststellen und beheben lassen, die ihm irgendwie bedeutend erscheinen.

Der Ombudsmand kann zwar selber keine bindenden Entscheidungen treffen, aber sein Rat — sei er nun an einen Kabinettsminister, an einen Departementchef, an einen Staatsanwalt oder welche Instanz auch immer gerichtet — wird befolgt, und zwar sehr schnell. Zahlreiche Entscheidungen wurden und werden auf seine Veranlassung getroffen, bereits beschlossene Entscheidungen wurden geändert. Die Art und der Umfang der vom Ombudsmand durchgeführten Interventionen ist, wie man sich vorstellen kann, sehr verschieden und weitreichend. Am häufigsten handelt es sich um Beschwerden wegen zu langsamer oder unbefriedigender Erledigungen durch Behörden, um unbegründete Zurückweisungen von Ansuchen, um Fälle von Diskriminierungen, um Übergriffe polizeilicher Organe. Aber unter den von Professor Hurwitz aufgenommenen Angelegenheiten befanden sich ebenso die vom Außenministerium befolgten Methoden zur Auswahl von Diplomaten (Anlaß war ein Spionagefall) wie der schlechte Kaffee in einem Gefängnis.

EIN VIER-MANN-MINISTERIUM

Auf (für einen Österreicher) erstaunliche Weise bedarf Professor Hurwitz keines großen und komplizierten Apparates, um diese Arbeit zu bewältigen. Die ganze Institution besteht aus vier Personen, Professor Hurwitz und die Stenotypistin mit eingeschlossen. Gerade dieser Umstand ist von großer Bedeutung, weil er den Ombudsmand auf ganz andere Weise an die Beschwerdeführer — oder vielmehr diese an ihn heranbringt, als an das Haupt einer großen Organisation, die genau so dem Parkinsonschen Schwellgesetz aller Bürokratie unterworfen wäre wie die Behörden, gegen die ihre Hilfe in Anspruch genommen wird. Der Ombudsmand ist für jedermann jederzeit erreichbar.

Es gibt aber auch nichts und niemand, den und das er nicht erreichen könnte. Er hat jederzeit Zutritt in jedes Amt und jede staatliche Einrichtung, vom Minister abwärts bis zum kleinsten Polizeikotter, und er kann jederzeit in jeden Akt, ob laufend oder abgelegt, einsehen sowie jeden behördlichen Vorgang inspizieren. Und er hat nicht nur das Recht, sondern auch die Aufgabe, seine Wahrnehmungen und Kritiken in der Presse und im Parlament zu veröffentlichen.

DIE INNEN- UND DIE AUSSENSEITER

Also eine Art Großinquisitor oder Revisor? Nein, sondern eine Brücke zwischen dem armseligen Individuum, Staatsbürger oder Anträgsteller genannt, und dem gesamten für ihn immer unzulänglicheren System unserer gesellschaftlichen Organisation.

Mit dem Ombudsmand wird versucht, einer Lage Rechnung zu tragen, die in ihrer Paradoxie für den modernen demokratischen Sozialstaat so charakteristisch ist. Wir leben scheinbar in der demokratischesten und sozialsten aller Welten. Noch nie ist so viel für die „Allgemeinheit“ getan worden, unzählige, immer umfassendere Einrichtungen und Organisationen stehen uns „zur Verfügung“, aber es wird immer schwieriger, sie in Anspruch zu nehmen. Sie und all die herrlichen Möglichkeiten und Vorteile, die sie für uns bergen, zu kennen, ist eine Wissenschaft. Wer kein eigenes Telephon, keine Sekretärin, keinen eigenen juristischen Berater und „Go-between“, keine besondere Funktion, keinen Titel oder „Namen“ besitzt, die ihm die Türen und Anschlüsse öffnen, lebt heute hoffnungsloser denn je an der Außenseite. In die Welt der Innenseiter, in der Dinge entschieden und erledigt werden, einzudringen, ist an sich kein besonderes Wagnis, aber es ist so zeit- und energieraubend, daß der Außenseiter oft darauf verzichtet/sie in Anspruch und seine Interessen wahrzunehmen. Noch wichtiger als diese ist ihm, ein bißchen zu leben, und Zeit i s t Leben.

So sind denn auch die Leute an der „Innenseite“ immer mehr unter sich, und ihre Haltung zu ihren Funktionen wird immer fetischistischer. So sehr sie sich — wenn's gut geht — theoretisch bewußt sein mögen, Diener der Allgemeinheit oder einer als Allgemeinheit angenommenen Klasse zu sein, so wenig sind sie bereit, die Diener des einzelnen zu sein.

Ein gar nicht nur äußerliches Symbol der Situation zeigt sich in der völligen Gleichartigkeit aller modernen Amtsgebäude. Marmor, Glas und Stahl außen, Marmor, Glas, Chrom und Plastikbeläge und viele Türen innen — nichts, woran der besondere Zweck und Dienst erkennbar wäre, und jedes dieser Gebäude könnte gegen ein anderes ausgetauscht werden. Den dort Amtierenden und Regierenden liegt überhaupt nichts daran, eine augenscheinliche, sofortige Gefühlsbeziehung des sie betretenden oder vorbeigehenden Außenseiters zu sich und ihrer Funktion herzustellen.

DEMOKRATIE DER PETENTEN Man kann aber noch froh sein, wenn man überhaupt ein solches Gebäude betreten darf. Es gibt mir immer wieder einen Stich, wenn ich an einem riesigen Amtsgebäude im ersten Bezirk — einem der sozialsten Dienste an der Allgemeinheit gewidmet — vorbeigehe und an der Tür eine Tafel befestigt sehe, auf der zu lesen ist, daß es hier überhaupt keinen Einlaß außer gegen schriftliche Vorladung gibt. Sicherlich besitzt die betreffende Behörde Außenstellen in den Bezirken. Aber dort kann man sein Anliegen nur „vorbringen“ — die Entscheidungen werden in Abwesenheit des Antragstellers in dem großen, zentralen Gebäude getroffen, in welches er post facto vorgeladen wird. So ist er in Wirklichkeit auch in dieser unserer sozialen Demokratie immer noch der gleiche alte Bittsteller wie vor hundert Jahren und noch mehr.

FLASCHENPOST INS WOHLFAHRTSMEER

Hin und wieder erkennt eine Behörde blitzartig (ebenso schnell kommend wie vorübergehend) die tiefe Kluft, die sie von den Menschen trennt, und sie sieht sich gezwungen, mit Palliativmitteln etwas zu tun (auch der Ombudsmand ist letzten Endes nur ein solches). So hat die britische staatliche Sozialfürsorge die Einrichtung der „gelben Postkarte“ geschaffen, von der jedem Alters- und Sozialrentner einige Stück ausgehändigt werden. Er kann nun mit dieser Karte, wann immer und in welcher Lage auch immer er sich befindet, ein SOS in die Welt der Sozialbürokratie aussenden. Er muß die Karte nicht einmal selber aufgeben; es genügt, daß er sie aus seinem Wohnungsfenster auf den Gehsteig wirft; jedermann, der eine solche Karte in England findet, weiß bereits, daß er gebeten ist, sie in den nächsten Postkasten zu stecken, damit ein Beamter der Fürsorge zu dem Absender kommt und ihm hilft.

Hier zeigt sich wenigstens einiger guter Wille. Freilich weiß man nicht, ob die „gelbe Karte“ letzten Endes nicht deshalb eingeführt wurde, weil es auch in englischen Massenstädten zu oft schon vorgekommen sein mag, daß eine ausschließlich mit sich beschäftigte Nachbarschaft erst durch den aus einer Wohnung dringenden Verwesensgeruch gewahr wurde, warum sie die betreffende alte Frau oder den alten Mann „so wenig in der letzten Zeit gesehen hat“.

Womit zum Abschluß, aber nicht zuletzt darauf hingewiesen werden soll, daß wir die Behörden und die Beziehungen zu ihnen haben, die wir verdienen. Solange wir uns mit der in unserer repräsentativen Demokratie gehandhabten „Arbeitsteilung“ zwischen Gesetzgebern, Exekutive und den alle vier Jahre ja und nein und dazwischen nichts sagenden Wählern begnügen, solange wir die Methoden der repräsentativen Demokratie nicht durch neuartige der direkten, föderativ-lokalen Demokratie ergänzen, werden wir gezwungen sein, Ombuds- und andere soziale Feuerwehrmänner in Anspruch zu nehmen.

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