6787651-1970_20_10.jpg
Digital In Arbeit

Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert l

19451960198020002020

Das 20. Jahrhundert ist für die Kirche das Schicksal. Nach neuesten “Vorhersagungen revolutionärer Anhänger der „Wissenschaft von der Zukunft“ wird jene Kirche, die neunzehn Jahrhunderte bestanden hat, das jetzige nicht überdauern. Karl Steinbuch, ein Zukunftsforscher, dessen Bücher unlängst eine. Gesamtauflage von einer halben Million erreichten, sieht für die „ursprünglichen Absichten des Christus“ überhaupt erst in der Zukunft die Chance der Verwirklichung. Zwar kann er nicht sagen, ob und in welcher Form die Kirche der Zukunft existieren wird; er weiß aber, wie es dazu kommen könnte; nämlich nach einer „Kulturrevolution“ in der jetzigen Kirche.

19451960198020002020

Das 20. Jahrhundert ist für die Kirche das Schicksal. Nach neuesten “Vorhersagungen revolutionärer Anhänger der „Wissenschaft von der Zukunft“ wird jene Kirche, die neunzehn Jahrhunderte bestanden hat, das jetzige nicht überdauern. Karl Steinbuch, ein Zukunftsforscher, dessen Bücher unlängst eine. Gesamtauflage von einer halben Million erreichten, sieht für die „ursprünglichen Absichten des Christus“ überhaupt erst in der Zukunft die Chance der Verwirklichung. Zwar kann er nicht sagen, ob und in welcher Form die Kirche der Zukunft existieren wird; er weiß aber, wie es dazu kommen könnte; nämlich nach einer „Kulturrevolution“ in der jetzigen Kirche.

Werbung
Werbung
Werbung

Untrügliche Anzeichen dieser Revolution beschreibt Steinbuch in seinem eben erschienenen „Programm 2000“ (laut „Der Spiegel“ Bestseller Nr. 1) wörtlich folgendermaßen:

• Die zunehmende revolutionäre Gesinnung vieler Priester, vor allem in Südamerika;

• der Ungehorsam vieler Priester bis zum Kirchenaustritt und zur Eheschließung; der fehlende Nachwuchs für den Priesterstand;

• die Zurückweisung päpstlicher Belehrungen, zum Beispiel durch den holländischen Katholizismus;

• die Aufsässigkeit selbst hoher kirchlicher Würdenträger, unter anderem Befehlsverweigerung von Jesuiten-Oberen;

• der öffentliche Widerstand gegen päpstliche Äußerungen, zum Beispiel anläßlich des letzten deutschen Katholikentages;

• die Protestbewegungen führender Theologen usw. usw.

Ob derartige revolutionäre Akte eine neue und vor allem eine verstärkte Glaubensgesinnung zugunsten der „ursprünglichen Absichten des Christus“ herausfordern werden, wird nicht gesagt. Steinbuch und Konsorten geht es bei derartigen pseudowissenschaftlichen Verallgemeinerungen auch nicht um die Kirche, sondern um die Ausbreitung der Revolution: Dort wo bisher religiöse Gläubigkeit bestanden hat, soll Platz gemacht werden für die Ideologie dieser Revolution, in der die Gesellschaft zerstört und noch einmal der Versuch unternommen werden soll, Programme im Anschluß an Marx zu verwirklichen. Es ist bekannt, daß schlechte Nachrichten vom „Sterbebett der Kirche“, wie man sie jetzt wieder hört, in regelmäßigen Abständen immer wieder auftauchen. Bisher wurden derartige Auslassungen denen zugeschrieben, die man etwas summarisch „Gegner und Feinde der Kirche“ nannte und die sich meistens auch selbst als solche auswiesen; in dem jetzt üblichen Sprachgebrauch werden drastische Unterscheidungen vermieden; man spricht von „Fern-nerstehenden“ und erweckt so den Eindruck, als wollten Steinbuch und Konsorten die Kirche nicht umbringen, sondern „umfunktionieren“. Wenn jetzt so viele eifrige Katholiken ihre Kirche umfunktionieren möchten, warum sollte dasselbe nicht jedermann gestattet sein, zumal dann, wenn Herr Jedermann vielleicht noch einen Taufschein im Dokumentenkoffer hat?

Die Pforten der Hölle stehen am Ende des 20. Jahrhunderts noch eben so weit offen wie an seinem Beginn. Die prinzipiellen Verneiner der Kirche bleiben bei der Annahme, das „Depositum der wissenschaftlichen Forschung seit Descartes“ (1596 bis 1650) sei jeder über-natür-lichen Religion und ihrer Autorität zum Verhängnis geworden“. Zu dieser Ansicht gehört der regelmäßige Rhythmus des Atheismus: Zuerst „totale Desillusionierung“, dann neues Engagement für Ersatzreligionen, nachher wieder Absage an alle Ersatzreligionen; nach Verfall der Ersatzreligionen wieder neue Desillusionierung usw. usw.

Den Anfang des 20. Jahrhunderts markieren die Standardwerke der damaligen „Desillusionierung“ und die Verkündung der Ersatzreligionen. 1899 erschienen Houston Stewart Chamberlains zwei Bücher „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Zahlreiche Lesespuren davon rinden sich nicht nur in der Mentalität Adolf Hitlers und im „Mythos des 20. Jahrhunderts“ von Alfred Rosenberg; bereits bei Erscheinen war dieses Werk, zusammen mit Haeckels „Welträtsel“, das unter gebildeten und halbgebildeten Antiklerikalen am meisten gelesene. Chamberlain sagte der Kirche ein Ende voraus, das ihr nachher Hitler und andere bereiten wollten. Daneben gab es, so wie heute, zahlreiche pseudowissenschaftliche „Enthüllungen geschichtlicher Verfehlungen der Kirche“; die Chronique scandaleuse des Paul Reichsgrafen von und zu Hoens-broech, ehedem Jesuitenpater, wurde Bestseller; erste Vorgriffe auf die heutige Pornoliteratur nutzten eine neue Geschmacksrichtung aus.

Im Gegensatz zu derartigen Produkten bleibt und wiegt das wissenschaftliche Werk des Kirchenhistorikers Alfred von Harnack. Führend als Vertreter einer liberalen protestantischen Theologie, wirkt er auf viele geistige Bewegungen des 20. Jahrhunderts ein. Auf dem Höhepunkt seines Lebens wird er 1911 Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (jetzt: Max-Planck-Gesellschaft), deren Gründung er selbst angeregt hat. Harnacks wissenschaftlicher Rang scheint den Standard der katholischen Theologie zu distanzieren. In seiner „natürlichen Religiosität“ und in seiner Ethik auf Grund der Bergpredigt lösen sich Bestandteile christlicher Offenbarung und die Offenbarung selbst auf; es verschwinden die Gottheit Christi, die göttliche Stiftung der Kirche, die Sakramente. Während aber der Protestantismus, wenn auch unter Opfern und Verlusten, diese beginnenden Substanzveränderungen des Christlichen unter Kontrolle bekommt, reproduzieren nicht wenige katholische Theologen und Intellektuelle Teile der Denkvorstellungen Harnacks bis auf den heutigen Tag; ein gewisses „Inferioritätsgefühl“ richtet sich am Aufblick zu dieser Höhe evangelischer Geistigkeit wieder empor. Die Thematik der jetzt in katholischen Kreisen üblichen generellen In-Frage-stellung realisiert diese Zusammenhänge: Entsakrali-sierung. Religionsloses Christentum, Religion nach dem Tode Christi und vieles andere. Solche „knallige Aufhänger“ werden im Dialog der Intellektuellen meistens auf den wirklichen Wert ihrer theoretischen Relevanz reduziert; indessen bleiben sie im Jargon der Tagespublizistik hängen; die Massenmedien textieren damit ihre Versionen; Menschen, die in ihrer Kirche nicht nach mehr Intellektualismus, sondern nach Glaubensstärke suchen, werden abgestoßen.

Mitten in der um die Jahrhundertwende anschwellenden Polemik erschien 1901 die kultursoziologische Analyse des Wiener Kirchenhistorikers Albert Ehrhard „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert“. Das Werk schlug ein und erlebte innerhalb eines Jahres zwölf Auflagen. Wer aber ist Ehrhard? Ehrhard (1862—1940) war Elsässer und 1898 als 36jähriger an die Wiener Theologische Fakultät berufen worden. Er war Inbegriff aller Hoffnungen der jüngeren Generation katholischer Gebildeter und ihres Mentors Franz Schindler (Professor für Moraltheologie, Generalsekretär der wissenschaftlichen „Leo-Gesellschaft“ und geistiger Mittelpunkt der katholischen Volksbewegung und ihrer Sozialreform). Schindler gelang es, die Prominenz der Fakultät davon zu überzeugen, daß die Theologie und die katholischen Wissenschaftler mit neuen Methoden und Kriterien in die Auseinandersetzungen mit den gegen Kirche und Glauben gerichteten Polemiken eintreten müßten. Das Professorenkollegium ließ sich auf das Wagnis des Neuen ein und schlug (unter Umgehung der inländischen Konkurrenz) Ehrhard und keinen anderen vor. Schärfer als die „Bodenständigen“ spürte der Rheinländer den geistigen Umbruch, den die Moderne gerade im Wien der Jahrhundertwende bewirkte. Nicht umsonst hatte Chamberlain das Vorwort seiner „Grundlagen“ in Wien datiert und das Gesamtwerk dem antiklerikalen Rektor der Wiener Universität gewidmet. Kurz vor Ehrhard war Friedrich

Albert Ehrhard: „Produzieren Jodl nach Wien gekommen, eindrucksvoller Vertreter eines natürlichen Monismüs, der jede Metaphysik ablehnt. Ohne Jodls „Ethische Kulturbewegung“, ohne seine Anstrengungen um einen areligiösen Moralunterricht wäre die spätere Wirkung liberaler und sozialistischer Volksbildungseinrichtungen nicht denkbar. Jodls Ablehnung der Metaphysik teilte Ernst Mach, dessen Empiriokritizismus Lenin zur Abfassung seines einzigen philosophischen Werkes herausforderte. In einem geistigen Klima, dessen belebende Wirkung heute unvorstellbar ist, wirkte unter anderem als Bahnbrecher Einsteins neben Mach und dem jung im Krieg gefallenen Ha-senöhrl der große Boltzmann; wuchsen die Koryphäen und Nobelpreisträger der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fächer heran. Ehrhard spürte wie wenige, daß in Wien eine aufs großartigste gesteigerte Kunst der Moderne die Menschen aus ihren bisherigen Befindlichkeiten und Kategorien herausstieß; daß hier die Intellektuellen ihre Proben der späteren Weltkatastrophe des Jahrhunderts abhielten; daß sich der Horizont plötzlich in eine Landschaft voll unbeschreiblicher Absurditäten weitete. Inmitten eines Pandämoniums zwischen Lehrkanzel und Parlamentstribüne, Salon und Psychiatrie tat Ehrhard etwas, das viele seiner wienerischen Freunde erschreckte und mißtrauisch machte: er entwickelte kein Minderwertigkeitsgefühl; er entwik-kelte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse; und er trat auf Grund dieser mit aller Entschiedenheit in die Auseinandersetzungen ein.

Ehrhard sieht drei bedeutsame Motive, die im 20. Jahrhundert die konkrete Lage der Kirche und die eines jeden Katholiken angehen:

• Erstens die These, wonach der Katholizismus der große Gegner der modernen Kultur sein soll, zweitens die wachsende Entfremdung der Gebildeten von der katholischen Kirche; und drittens die Unzufriedenheit mit einer Reihe von bestehenden Verhältnissen in der Kirche. Ehrhards Analyse des Ganzen ist nicht ideologisch, sondern kultursoziologisch. Indem er von einem Kulturbegriff ausgeht, der außer der Geisteskultur auch die Bereiche des Religiösen und des Sittlichen miteinschließt, stellt er folgende Hauptaufgaben zum Beweis einer vollen Kulturmächtigkeit des Religiösen und des Kirchlichen heraus:

• Die Wiedergewinnung der theoretischen Relevanz der Theologie im ganzen Geistesleben, besonders auch der Laien und an der Universität.

• Die Pflege der Philosophie durch die Katholiken. Das metaphysische Bedürfnis des Menschen muß in einen Zusammenhalt mit der Erfassung neuer wissenschaftlicher Methoden gebracht werden. •? Die Gewinnung eines zeitgemäßen Einblicks in das Leben der Menschheit auf Grund eines übersichtlichen philosophischen und soziologischen Geschichtsverständnisses.

• Die Überwindung einer Inferiorität angesichts von Kunst und Literatur.

• Die Schaffung eines leistungsfähigen katholischen Volksbildungswesens.

Ehrhards Devise: Produzieren ist besser als diskutieren ließ ihn nicht am Rand theoretischer Erwägungen stehen bleiben. Gewiß war er nicht die zentrale Figur im „katholischen Wien“; aber er war die „neue Unruhe“ im Uhrwerk und er war als Priester und Universitäsprofessor in der Tat das gerade Gegenteil des Propanz' eines „rückständigen, bildungsfeindlichen Katholizismus'“. Die Wende, in der er voranging, kam nie zu Ende; aber es blieben die Marksteine:

• Die Erneuerung der ganzen religiösen Bildung bekommt mit einer gründlichen Reform des Theologiestudiums das Fundament.

• Katholische Wissenschaftler gehen den verengenden Wissenschaftsbegriff des Positivismus an und gehen gleichzeitig ohne Scheu auf die Methoden der modernen Naturwissenschaften ein.

• In neuen katholischen Studentenverbindungen und -vereinen weitet sich sozialstudentische Arbeit in das Engagement für die christliche Sozialreform. (Wien ging hierin dem 1907 von Karl Sonnenschein geschaffenen Sekretariat Sozialer Studentenarbeit, SSS, voran)

Künstler, als erste Herman Bahr und Hugo von Hofmannsthal, gehen durch die um den Katholizismus errichteten Sperrzonen. • Einrichtungen katholischer Volksbildung gelangen auf die Höhe der Zeit.

Ehrhard selbst scheiterte; beileibe nicht am Antiklerikalismus der Liberalen. In der Ära des Antiklerikalismus wurde er als einziger seiner Fakultät ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften; in dem damals stockliberalen Unterrichtsministerium galt er als Experte in Hochschulangelegenheiten; und daran änderte sich auch nichts, als Ehrhard päpstlicher Hausprälat wurde. Er wurde aber dem zuwider, was Friedrich Funder in diesem Zusammenhang noblerweise „alt-konservativ“ nennt, um nicht „reaktionär“ schreiben zu müssen. Vor allem neigte man im Wiener Ordinariat dem Verdacht zu, Ehrhard sei bei seinen kritischen Analysen der Mangelzustände katholischer Geistigkeit selbst auf den Boden des „liberalen Katholizismus“ abgeglitten. Ein bei der Berufung Ehrhards an die Wiener Universität zu kurz gekommener Fachkollege übernahm es, das vom Ordinariat inspirierte nein publizistisch zu artikulieren. Ehrhards Stellung wurde unhaltbar; als er Wien nach knapp vierjähriger Tätigkeit verließ, schrieb er: „Wien war mein Ideal und Österreich das Land meiner Sehnsucht, und nun stehe ich da und habe beides verloren. Das ist ein Geschick, das wohl nichts an Tragik übrig läßt.“

Erst in unseren Tagen hat Friedrich Engel- Jänosi in seinem Werk „Österreich und der Vatikan“ die „edle Gestalt Ehrhards, den die Wiener Universität infolge seiner Schrift ,Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert' verlor“, vollends ins richtige Licht rücken können. Größer als die persönliche Tragik Ehrhardts, die trotz nachhaltiger Diffamierungen niemals an seine priesterliche Existenz herankam und die ihn in die Einsamkeit überragender Fachgelehrsamkeit führte, ist die Tragik seiner Hinterbliebenen in Wien und Österreich.

Einem eindrucksvollen Auftakt folgte ein kurzer, sehr heftiger Schlagwechsel zwischen den „Konservativen“ und den „Progressisten“ und dann kam schon als Finale jene gewisse Situation in der „nix mehr passieren kann“, in der aber nur mehr selten das Wagnis des Neuen unternommen wird. In der Einleitung seines schicksalhaften Werkes geht Ehrhard auf die Unzufriedenheit mit einer Reihe von kirchlichen Verhältnissen ein, die „in verschiedener Weise in theologischen Broschüren, in kirchenpolitischen Briefen, in Reformschriften und Reformvereinen, in separatistischen und national-partikularistischen Bewegungen und Bestrebungen“ zutage tritt. Ehrhard untersucht diese Erscheinungen kritisch, und er tröstet über untrügliche Anzeichen des Verfalls nicht hinweg. Kritik und Aiternati worschlag gehören bei ihm zusammen. Nie geht es ihm aber um eine Reform um der Reform willen und um eine andere Kirche, sondern um die Kirche für Menschen, die „katholisch sein und bleiben wollen“. Darin unterscheidet sich die Diagnose des Priesters von Prognosen, wie sie etwa in den Zukunftsvisionen des Professor Steinbuch vorkommen. Auch in unseren Tagen geht es nicht darum, den zeitlich gebundenen Ideologien der Revolution eine zeitlich gebundene ideologisierende v Metaphysik der Kirche an die Seite zu stellen. Wir müssen die Offenbarung behalten, denn nur sie ist die „Brücke des Reiches Gottes, die vom Aufgang bis zum Niedergang reicht“. (Bischof Johann Michael Sailer)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung