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Der konkrete Mensch als zentrales Problem

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Wir möchten in diesem Zusammenhang etwas unterstreichen, was besonders in der Marxismusdiskussion lange Zeit von Gegnern und von Anhängern dieser Geistesströmung bewußt oder aus mangelnder Kenntnis des Marxismus übersehen wurde: Marxistischer Sozialismus und die unter dem Eindruck dieser Idee sich organisierende Arbeiterschaft war von Anfang an untrennbar mit der Idee des Humanismus verbunden. Es soll nicht bestritten werden, daß der Marxismus insbesonders im Stalinismus der kommunistischen Diktaturen zu einem Vulgärökonomismus entartete. Aber gerade weil es diese tragische Entwicklung im Sozialismus gibt, muß heute um so mehr festgehalten werden: Niemand kann Marxist sein und noch viel weniger Sozialist, der nicht durchdrungen ist von der Idee des Humanismus. Adam Schaff, der vielzitierte polnische Philosoph und Soziologe, schreibt in seinem 1965 erschienenem Werk über „Marxismus und das menschliche Individuum“ mit Recht: „Das zentrale Problem eines jeden Sozialismus — sowohl des utopischen wie des wissenschaftlichen — ist der Mensch in allen seinen Angelegenheiten. Und zwar nicht ein abstrakter Mensch, nicht der Mensch überhaupt, sondern das konkrete menschliche Individuum. Sozialistische Strömungen erwuchsen immer aus Protest gegen eine unmenschliche Wirklichkeit, gegen Ausbeutung des Menschen durch Menschen, gegen den Haß in den zwischenmenschlichen Beziehungen, und eben deshalb ist jeder Sozialismus eine Theorie des Glücks, wenn auch nicht jede Form des Sozialismus eine Theorie des Kampfes um dieses Glück ist. Wer jedoch nicht den Menschen im Mittelpunkt der sozialistischen Idee sieht, übersieht, was an ihr das Wichtigste ist, und versteht sie nicht.“

Der Ruf von Karl Marx an die Proletarier aller Länder dieser Erde war nicht vergeblich. Das Proletariat begann sich zu organisieren in der politischen Arbeiterbewegung, in den Gewerkschaften und in den Genossenschaften. Es begann der gewaltigste soziale Strukturwandel Europas der letzten 150 Jahre. Aus den Entrechteten und Ausgebeuteten wurden Mitträger und Mitgestalter der bestehenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Es begann die Integration des Arbeiters in den Staat, der Aufstieg des Proletariers zum Menschen.

Der Intelligenz und der Freiheit Die moderne Arbeiterbewegung wird von ihren Kritikern so gerne ob ihrer materialistischen Einstellung gerügt, die angeblich dazu verleitet, rücksichtslos über das menschliehe Individuum hinwegzugehen. Man kümmere sich nur um Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, nicht aber um den einzelnen Menschen. Was ist aber diese soziale und politische Durchbruchsschlacht anderes als ein einziges Ringen darum, einer ausschließlich von Profitstreben gelenkten Wirtschaftsordnung eine Gesellschaftsordnung gegenüberzustellen, deren Mittelpunkt der Mensch sein sollte. Die Gewerkschaftsbewegung darf sich heute auf die letzte große Enzyklika Papst Paul VI. über den Fortschritt der Völker berufen, in der es über die Industrialisierung und über den Kapitalismus heißt:

„Notwendig für das wirtschaftliche Wachstum und den Fortschritt der Menschen ist die Industrialisierung, Zeichen und teilweise Ursache der Entwicklung. Durch die zähe Anwendung seiner Intelligenz und seiner Arbeit entreißt der Mensch Schritt um Schritt der Natur ihre Geheimnisse, zieht aus ihren Reichtümern größeren Nutzen. Zum Unglück hat sich mit diesen neuen Formen des Lebens ein System verbunden, das den Profit als den eigentlichen Motor des wirtschaftlichen Fortschrittes betrachtet, den Wettbewerb als das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsgütern als ein absolutes Recht ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber. Dieser ungehemmte Liberalismus führte zu jener Diktatur, die Pius XII. mit Recht als die Ursache des internationalen Kapitalismus der Hochfinanz brandmarkte. Man kann diesen Mißbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, daß die Wirtschaft im Dienst des Menschen steht.

Die Arbeit ist nur dann menschlich, wenn sie der Intelligenz und der Freiheit Platz läßt. Johannes XXIII. hat an die dringende Aufgabe erinnert, dem Arbeiter seine Würde zu geben, ihn wirklich am gemeinsamen Werk teilnehmen zu lassen.

Jedes Programm zur Steigerung der Produktion hat nur so weit Berechtigung, als es dem Menschen dient.“

Ein Einwand, den wir heute in Österreich und anderen Industriestaaten oft hören, lautet: Alle Demonstrationen für eine gerechtere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind doch sinnlos, denn gegen wen wollen die Arbeiter und Angestellten heute marschieren? Es gibt kein Proletariat mehr in Österreich, es gibt keine Klassengesellschaft. Daher laßt uns doch alle gemeinsam als große Familie Österreich feiern. Wir dürfen auch zu diesem Problem einen bedeutenden katholischen Sozialwissenschaftler zitteren, Herrn Universitätsprofessor Oswald von Nell-Breuning, der in einem Vortrag vor Gewerkschaftsfunktionären in Wien die Frage stellte: „Was sind die Gewerkschaften in der freien Gesellschaft? Sind sie Klassenorganisationen, sind sie speziell Klassenkampforganisationen? Die erste Frage ,Sind sie Klassenorganisationen?' beantworte ich für die Klassengesellschaft mit einem eindeutigen Ja. In einer klassenfreien Gesellschaft würden sie es nicht sein. Es liegt also nicht an den Gewerkschaften und am allerwenigsten am bösen Willen der Gewerkschaften, daß sie Klassenorganisationen sind, sondern in dem bestehenden Zustand der Gesellschaft ist dies mit Notwendigkeit gegeben.

Von den Gewerkschaften und ihrem eigenen Willen, ihrem eigenen selbstbestimmten Verhalten hängt es dagegen ab, ob sie als Klassenorganisation einen gehässigen, vom Willen zur Vernichtung der anderen Klasse getragenen Klassenkampf, oder eine ehrliche Klassenauseinandersetzung betreiben. Die Klassenauseinandersetzung ist solange eine Notwendigkeit, als die Tatsache einer Klassengesellschaft besteht.“

Betrachten wir die Einkommensstruktur 1967 in unserem Land, so muß es für tausende Rentner und Pensionisten, die ein Monatseinkommen von etwas über 1000 Schilling haben, wie Hohn wirken, von einer Wohlstandsgesellschaft zu sprechen. Schauen wir die österreichische Volkseinkommensrechnung und das Prokopfeinkommen der österreichischen Arbeitnehmer an, so wird auch da der unvoreingenommene Beobachter feststellen, wie groß der Lebensstandardunterschied zwischen Österreich und anderen westeuropäischen Staaten noch ist.

Aber entscheidend scheint uns heute eine ganz andere Frage zu sein. Marx prägte für das Proletariat den Begriff der Selbstentfremdung. Dieses Anliegen wird für die moderne Arbeiterbewegung zum zentralen Problem. Der Mensch droht immer stärker vom Subjekt zum Objekt der Geschichte zu werden. Wir haben materiell gewaltige Erfolge erzielt. Ist aber mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der geistige Fortschritt Hand in Hand gegangen? Oder ist es eine Übertreibung, festzustellen, daß wir in allen sozialen Schichten eine noch nie dagewesene Verproletarisierung feststellen können? Will die Gewerkschaft an ihrem Ziel der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit festhalten, dann ergeben sich im 20. Jahrhundert ungeheure neue Aufgaben für die Arbeitnehmerorganisationen. Es geht nicht nur darum, mit allen Kräften weiter für die Verbesserung des Lebensstandards der Arbeitnehmer zu kämpfen, so sehr auch das in Österreich noch eine große Aufgabe ist. Heute spielt sich der Kampf für den Menschen, um das Mensch-Sein nicht nur auf diesem ursprünglichen Gebiet der wirtschaftlichen Interessenvertretung ab, sondern erstreckt sich immer mehr auf das Gebiet der Kultur, der Bildung, der Freizeit. Die freie Gewerkschaftsbewegung errichtet Kulturhäuser, baut Bildungsstätten, trägt bei zur Schaffung von Volksbibliotheken, organisiert Theaterbesuche, schafft Urlaubsmöglichkeiten.

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