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Der Mann mit dem Besen

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Was vor wenigen Jahren in Brasilien noch aussichtslos schien, wurde am 3. Oktober Wirklichkeit: der von der Partei der „Trabalhadores“, der nach faschistischem Vorbild gegründeten Arbeiterpartei, geführte Block ist gesprengt. Die Opposition übernimmt die Macht zum erstenmal seit 30 Jahren. Der Sieger ist der 43jährige Geschichtsprofessor Janio Quadros, beheimatet im größten Urwaldstaat Mato Grosso. Schon als Stadtrat des größten Handels- und Industriezentrums Südamerikas, Sao Paulo, mit 3,6 Millionen Einwohnern, machte er sich im Volke einen Namen durch seine unerbittlichen Brandreden gegen die erbarmungswürdigen sozialen Zustände, die Korruption der „alta sociedade“, der obersten Schicht, und den Egoismus der verantwortlichen Staatsmänner. Solche Eiferer gab es schon immer während der Wahlzeiten, doch das Volk rief ihnen zu: „Wascht zuerst mal selber eure schmutzige Wäsche, alte Gauner!“

Janio — es ist Brauch, auch die Großen mit dem Vornamen zu nennen — fiel zwar schon als Professor durch seine nachlässige Kleidung auf; Kamm und Schere und Rasierklinge schonte er, aber seine Wäsche war blütenweiß, wenn er, zu jeder Tages- und Nachtzeit, als Präfekt der Stadt Sao Paulo und später als Gouverneur des Staates Sao Paulo Audienzen gab. „Zum erstenmal in der neuen Geschichte Brasiliens“, schrieb der „Correio“, „übernimmt eine Persönlichkeit die Macht, die weder eine große Partei noch eine gefüllte Börse in die politische Bahn brachte, die uneigennützig war und es blieb.“ Er fiel gänzlich aus der Rolle seiner Vorgänger, als er es sogar fertigbrachte, die Staatsfinanzen zu sanieren, dazu noch mit einem Überschuß. „Ist er ein Narr oder ein Heiliger?“ Auf seinem Schreibtisch liegt das Neue Testament, aber auch — aber das sagen seine Gegner — das „Kapital“ von Karl Marx.

Was Janio von Anfang an populär machte, war nicht seine Unbestechlichkeit, vielmehr die Überraschung darüber, daß er seine Wahlversprechungen hielt. Er hatte gelobt, der Drohnenwirtschaft der Großen und dem aufgeblähten Beamtenkörper zu Leibe zu rücken. Jeder Beamte versucht, auch seine Verwandten an die Futterkrippe zu bringen, die dann sein Ressort bearbeiten. Noch nie wurde in den Kanzleien so schrecklich geflucht wie unter Janios Besen. Auf den entferntesten Arbeitsplätzen tauchte er auf. Es war Mode, die doppelte Anzahl Arbeiter in der Liste zu führen, als tatsächlich arbeitet. Die Zahl seiner Feinde wuchs von Jahr zu Jahr. Aber die kleine Christlich-Demokratische Partei stand hinter ihm, und alle, die einsahen, daß die Schwierigkeiten und Übelstände in Brasilien im Grunde eine moralische Krise sind. Die moralische Aufrüstung war von Anfang Janios innerstes Anliegen. Dieses war auch immer das Ziel der Partei, die ihn als Kandidaten aufstellte, der größten Oppositionspartei, der Nationaldemokratischen Union, einer ausgesprochen konservativen Partei. Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Brasilien hatte auffallenderweise in manchen Staaten Europas keine sehr gute Presse. Janio hat sich wiederholt für eine schärfere Kontrolle des ausländischen Kapitals ausgesprochen. Die Kommunisten nannten ihn einen Kandidaten der Standard Oil. Die Hochfinanz und Großindustrie warnte vor ihm, als er Fidel Castro in seinem Kampf gegen die „amerikanischen Dollarimperialisten“ ermutigte, wobei er sich auf Salvador de Madariaga berufen konnte, der seit Jahr und Tag die Vereinigten Staaten, vor allem deren Trusts, beschuldigt, die lateinamerikanischen Länder zu versklaven.

Der Erdrutsch, den die Wahl bedeutete, wurde zu einer gewaltigen Demonstration des brasilianischen Volkes dafür, daß es entschlossen ist, seiner Ausbeutung und Verelendung, die für Millionen Menschen bis zur chronischen Hungerdiät geht, ein Ende zu machen. Eines der reichsten Völker der Erde erstickt in seiner Armut, seine Schätze nützen ihm nichts. Für gewisse Gruppen ist schon seine hinreißende Beredsamkeit verdächtig, in Wirklichkeit fürchten sie ihn, da er ihr Konzept verdirbt. Die staatliche Autorität hat in den lateinamerikanischen Ländern wenig Kredit, ihr Ruf ist schlecht. Wie sehr der Staat ihn verdient, zeigt Brasilien, das sich mit den Geldern, die den Lohnempfängern allmonatlich abgezogen werden, bereichert. Nicht um den Haushalt auszugleichen, das ist Sache der Nachfolger der Regierung, vielmehr um Projekte durchzuführen, deren Ruhm die Jahrhunderte überdauern soll. Brasilia hat Milliarden verschlungen, indes ein großer Teil des Volkes noch wie Höhlentiere haust.

Nichts erwartet der Steuerzahler vom Staat, er fleht nur die Heiligen an, daß seine Fiskale ihn verschonen. Vergebens ruft er nach Ord-' nung und Sicherheit. Im Urwald ist der Bürger seines Lebens sicherer als in den beiden Millionenstädten Rio de Janeiro und Sao Paulo. In dem von deutschen Siedlern stark bewohnten Staate S. Catarina mußten die Bewohner eine eigene Heimwehr bilden, um sich vor den von Polizisten angeführten Räuberbanden zu schützen. In der Großstadt fallen dem Ausländer die schwer vergitterten Fenster und gepanzerten Haustüren auf. Er lächelt über die Furchtsamkeit. Doch wenn des Nachts die Kugeln pfeifen, lobt er die dicken Eisenstäbe. Der fortschrittsgläubige Pakistaner war nicht wenig erschrocken, als vor kurzem die Bewohner einem regelrechten Mordsyndikat einer spiritistischen Sekte auf die Spur kamen. Kopfpreis: 60.000

Cruzeiros (etwa 10.000 Sf). Die Zeitungen, fragten: Sind wir ein zivilisiertes Volk? Und trösten die Leserschaft mit Erinnerungen aus der jüngsten europäischen Geschichte.

Die Furcht wirkt krankhaft. Angesichts solcher Bedrohungen baute ein weitsichtiger Abgeordneter seine Villa bei Rio in eine Festung aus. Senhor Tenorio war bereits bekannt, daß er sich bei der Wahlpropaganda mehr auf sein Schießeisen verließ als auf Stimmzettel. Nichts fehlte an der Villa: Maschinengewehre, Schießscharten, atomsichere Kasematten. Sein Wagen ist kugelsicher wie ein Tank. Bekannte Bandenführer schlössen Wetten ab: Wer zuerst in das Fort eindringt und es ausräumt, erhält eine halbe Million Cruzeiros. Und die Gazetten riefen plötzlich: Wo ist die Kirche? Haben wir kein Gewissen mehr?

Vergangenes Jahr bezifferte der „Estado“ die Anzahl der Verbrecher, die frei im Staate Sao Paulo umherlaufen, auf rund 26.000. Das Volk hat sein Vertrauen zur Justiz schon lange verloren. Es hält selber Gericht, selbst in der Stadt. Kürzlich ergriffen Einwohner einen Lustmörder, Übergossen ihn mit Benzin und legten Feuer. Es wäre ihm nichts geschehen, denn sein Vater war einer von den „Großen“.

Janio wird zuallererst, heißt es, den Polizeiapparat ausputzen. Es müßte schon Schwefelsäure sein, um ihn zu reinigen. Auf manchen Regierungsprogrammen stand schon ihre Reform, aber sie durchzuführen hat noch keiner gewagt. Der Kardinal von Rio gab das richtige Rezept: Gebt den Kindern in den Schulen eine religiöse Unterweisung, damit sie die Zehn Gebote lernen! Aber die brasilianischen Schulen stecken noch in der Tradition der einstmals allmächtigen Freimaurerei. Die Hochschulen sind Pflanzstätten der Freigeister.

Moskau braucht sich um die brasilianischen Studenten keine Mühe zu machen, sie werden hier ganz im Lichte des Materialismus erzogen, und die Kirche, die allzu lange ihre Reform verschoben hat, hat dazu geholfen, indem sie abstieß und verdammte. Auch sie hat keinen Kredit, am wenigsten bei den Intellektuellen, indes die Arbeiterschaft langsam wieder den alten Boden gewinnt dank der christlichsozialen Bewegung. Das Volk — nur vier von 64 Millionen bekennen sich nicht zur katholischen Kirche — sieht in dem neugewählten Präsidenten Janio Quadros seinen Anwalt und Vorkämpfer.

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