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Der Marsch nach Washington

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Als vor einigen Monaten amerikanische Negerführer wissen ließen, daß sie die Absicht hätten, als Protest gegen Polizeibrutalität, Mißachtung verfassungsmäßig garantierter Rechte der farbigen Staatsbürger und in Unterstützung des Kennedyschen „Zivilrechtprogramms“ als ersten Schritt zur völligen Gleichberechtigung der Rassen in Washington 100.000 Demonstranten zu versammeln, waren drohende Untertöne unverkennbar. Man sprach von der fälligen „Revolution", erklärte, daß man „am Ende seineT Geduld“ sei und verlangte „allumfassende und sofortige Aktion". Zusammenstöße zwischen Anhängern der Integrationsbewegung und weißen Opponenten, Verhaftungen, Lahmlegung von Geschäften und Arbeitsstätten, passive Resistenz mannigfacher Art gegen örtliche oder .einzel- staatliche Behörden schienen den Vorabend einer bürgeikriegsähnlichen Situation anzudeuten.

Der Kreis erweitert sich

Der „Marsch der Hunderttausend auf Washington" sollte die Geschlossenheit, die Militanz, das politische

Gewicht der Zivilrechtsgruppen und ihrer Freunde deutlich machen.

Nicht nur 100.000, sondern mehr als 200.000 — darunter zirka ein Drittel Weiße — sind dem Ruf gefolgt: Am Denkmal Lincolns haben ihre Sprecher der Nation — vor allem dem Kongreß, der im Laufe des Jahres über den ihm vom Weißen Haus zur Ratifizierung vorgelegten Gesetzesentwurf entscheiden wird — in leidenschaft liehen Worten ihre Forderungen zugerufen.

Aber es waren keine in Sturmabteilungen marschierenden Revolutionäre, die — zur Enttäuschung manches Gegners, der auf die Selbstdiskreditierung der Bewegung durch Gewalttätigkeiten gehofft hat —, alte christliche Negerlieder singend, „für Arbeit und Freiheit“ demonstrierten.

Der Radius der Bewegung hatte sich vergrößert. Zusammen mit den führenden (vorwiegend farbigen) engeren Integrationsorganisationen (Congress of Račiai Equality, National Association for the Advancement of ColoTed People, Southern Christian Leadership Conference, Student Non Violent Co- ordinating Committe, National Urban

Leane und dem Negro American Labor Council) haben als mitverantwortliche Veranstalter gezeichnet: der American Jewish Congress, der National Council der (protestantischen) Churches of Christ in America und die National Conference of Catholics for Interracial Justice. Und obwohl die Gesamtorganisation der Gewerkschaften (AF1- CIO) sich nicht entschließen konnte, ihren Namen zur Verfügung zu stellen, hat das — stets auf Unabhängigkeit bedachte — „Industrial Union Department AFL-CIO“ nicht nur unterzeichnet, sondern in seinem Chef Walter R e u t h e r, dem Vorsitzenden der mächtigen Automobilarbeitergewerkschaft, neben A. Philip Ran- d o 1 p h, dem Führen des Negro American Council, den eindrucksvollsten Sprecher der Veranstaltung gestellt.

Die sanften Rebellen

Die Ausweitung der Basis hat dem Marsch einerseits etwas genommen! 1500 freiwillige Negerpolizisten (extra in New York beurlaubt) halfen der zum erstenmal in ihrer Geschichte Negern gegenüber höflichen Washingtoner Polizei, darauf zu achten, daß niemand „auf den Rasen trat“, man sich nicht in „donnerndem Marschtritt“, sondern in legeren Spaziergängerrhythmen bewegte, nur vorher genehmigte Lieder sang und nur von der Leitung zugelassene Transparente zeigte: Aus der Kampfansage wurde unter der Hand — von den Integrationsleitern und der Administration gleicherweise gewünscht und erreicht — ein im Stil eines grandiosen Picknicks abgehaltenes Gemeinschaftsfest. Was dabei an sichtbarer Militanz verlorenging — der sich in Liedern, in den Gesichtern der Teilnehmer und in den Reden widerspiegelnde unerschütterliche Glaube an den letztlichen Sieg der gerechten Sache sich tausendfach bestätigt sehend im ganz neuen Gefühl des Nichtmehrisoliertseins —, wog das auf.

Der Aufmarsch in Washington hat zweifellos seinen Eindruck auf die Nation nicht verfehlt: Von den Kanzeln aller religiösen Bekenntnisse hat man sich zu ihm bekannt. Das Fernsehen hat fast ununterbrochen einen Tag lang seine Einzelphasen auf den Bildschirm geworfen. Die Presse kommentierte unaufhörlich, fast ausnahmslos zustimmend und die „Gewaltlosigkeit“ hervorhebend, mit der 200.000 „Rebellen“ ihre legitime Vertretung in Exekutive, Legislative und in der Jurisdiktion um nichts anderes ersuchten, als der Verfassung zu folgen! Kennedy empfing schließlich — den Ausgehungerten improvisierte Butterbrote servierend — die Repräsentanten der sechs farbigen und vier weißen „Schirmherren" des Aufmarsches und versicherte sie seiner völligen Sympathie ...

Was war letztlich geschehen? Unter gespannter Anteilnahme der Nation hatten 200.000 Freunde seiner Politik in der Hauptstadt des Landes für den Präsidenten demonstriert und von einem skeptischen Kongreß verlangt,

er solle ihm und ihnen das grüne Licht für „neue Ufer“ geben: Aufhebung tief eingefressener rassischer Benachteiligungen für ein Zehntel der Nation...

Was nun?

Was sind nun die Konsequenzen des Marsches?

Der zum Widerstand entschlossene Block der südstaatlichen Parlamentarier dürfte kaum durch ihn von der Richtigkeit der Zivilrechtsgesetzgebung überzeugt worden sein: Sie und die Gouverneure im „tiefen Süden“ haben mehr oder minder deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht die Absicht hätten, sich „dem Druck der Straße" zu beugen.

Aber es gibt im Kongreß (wie im Lande überhaupt!) nicht nur entschiedene Freunde oder Gegner der

Integration: Unentschieden, das Für und Wider der einzelnen Bestimmungen des Gesetzentwurfs teilweise verschieden beurteilend, bleibt diese Gruppe der „Nichtfestgelegten“ ein Fragezeichen ...

In ihren Reihen mag sich eine Wendung vollziehen, vor allem angesichts der Tatsache, daß die christlichen Kirchen unerwartet militant zugunsten der Aufhebung aller rassischen Barrieren herausgekommen sind. Nicht allzu viele Politiker sehen sich gern als „unchristlich“ gekennzeichnet.

Dazu kommt, daß die „gewaltlose Disziplin der Demonstration dazu beigetragen hat, die Furcht vor dem immer wieder an die Wand gemalten „schwarzen Terror“ in der Öffentlichkeit einzudämmen.

Zumindest für den Augenblick. Das kann sich wieder ändern, wenn im Zusammenhang mit dem verständlicherweise gewachsenen Selbstbewußtsein der Integrationsbewegung von hier die sofort angekündigten weiteren örtlichen und einzelstaatlichen Demonstrationen zu ernsthaften Zusammenstößen führen sollten.

In gewisser Beziehung steht die Integrationsbewegung vor einem Dilemma: Geschieht nicht bald etwas Endgültiges — und es ist ja keineswegs sicher, daß die Zivilrechtsvorlage beide Häuser des Kongresses passiert —, kann sich nur zu leicht der Überschwang der über Erwarten eindrucks vollen Kundgebung zu Füßen Lincolns bei ihren Anhängern in Enttäuschung verwandeln, die sich dann nicht nur gegen die Befürworter der „white supremacy“ wenden mag, sondern auch gegen die eigene Führung und — gegen die Administration! Dennoch darf von der Bewegung aus nichts geschehen oder zugelassen werden, was sie diskreditiert und dem Weißen Haus damit indirekt in den Rücken fällt.

Was nun? Die Frage muß manchem Teilnehmer des Washington-Marsches des öfteren im Ohr klingen.

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