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Digital In Arbeit

Der Mensch lebt nicht vom Lohn allein

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Generalsekretär des Studienbüros der Betriebe für soziale Forschungen der anderen Seite durch die allgemeine Entwicklung der industriellen Gesellschaft beeinflußt.

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Generalsekretär des Studienbüros der Betriebe für soziale Forschungen der anderen Seite durch die allgemeine Entwicklung der industriellen Gesellschaft beeinflußt.

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In den Betrieben sind die Aufgaben und Funktionen sehr selten klar definiert. Die Hierarchie der Löhne wird dadurch kompromittiert. Durch das Fehlen von Informationen, die das Personal über die Lohnpolitik erwartet, entstehen Verwirrungen, aus denen oft sehr irrationelle Reaktionen resultieren. Alles, was im Lohnsektor gerecht ist, wird verstanden. Alles, was nicht verstanden wird, ist ungerecht. Sobald man diese Grenze verläßt — möge man sich auch den raffiniertesten Berechnungen ergeben — entstehen emotionelle Gewalten, die jede objektive Haltung zerstören.

Eine weitere Folge der Veränderung des täglichen Lebens besteht im Wuchern immer neuer Bedürfnisse. Der Lohnempfänger mißt seine eigene Situation nicht im Vergleich mit einer ferneren oder näheren Vergangenheit. Er will lediglich wissen, daß er an einem bestimmten Zeitpunkt alle jene sozialen Güter, die durch die Arbeit entstehen, auch erlangen kann. Er hat das Gefühl, daß sich sein Lebensniveau nicht erhöht, da er sich steigernden Schwierigkeiten gegenübersieht, um die neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Schließlich entsteht eine Opposition zwischen den Möglichkeiten, die der technische Fortschritt zu bieten weiß (Möglichkeiten, die im allgemeinen erkannt und akzeptiert werden), und den Resultaten dieses Fortschrittes in unserem wirtschaftlichen und sozialen System. Daraus resultiert die Angst vor einer technologischen Arbeitslosigkeit. Der soziale Fortschritt entspricht nicht dem technischen.

Der technische Fortschritt übt einen dreifachen Einfluß aus: ein gesteigertes Interesse für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, Erhöhung der Bedürfnisse der Sicherheit aus Angst vor einer technologischen Arbeitslosigkeit, den Eindruck, nicht genügend am Fortschritt zu partizipieren.

Schließlich hat die Inflation, abgesehen von der Unordnung in den Lohnstrukturen, die Geister der Arbeiter in Erregung gebracht: Sie hat die Unsicherheit erhöht und den Sparwillen zerstört. Die Lohnforderungen sind permanent geworden. Die Löhne laufen immer hinter den Preisen her. Zu gleicher Zeit hat die Schwächung des Geldes das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Frage gestellt, man lebt in den Tag hinein, das Budget der Familie wird verändert und nicht mehr fest disponiert.

Wir halten fest, daß die psychologische Seite der Entlohnung durch die allgemeine Entwicklung der industriellen Gesellschaft verstärkt wurde. Lohnforderungen oder Lohnkonflikte haben einen ganz anderen Charakter angenommen und scheinen häufig ihre Grenzen nicht zu kennen. Diese Forderungen werden oft heftig vorgebracht und machen das Lohnproblem zur Sozialen Frage Nr. 1. Gute Entlohnung müßte darnach eine Art magische Formel sein, mit der alle sozialen Schwierigkeiten im Betriebe gelöst werden können.

Demgegenüber sind umfangreiche soziologische Arbeiten, die in den vergangenen Jahren in zahlreichen europäischen Staaten durchgeführt wurden, zu folgenden Resultaten gelangt:

a) Eine systematische Analyse der Forderungen der französischen Betriebsräte zeigte, daß ein sehr großer Prozentsatz der Forderungen nicht die Löhne betrafen (so wies ein Pariser Betrieb 50 Prozent von Forderungen auf, die mit der Lohnfrage nichts zu tun hatten).

b) Eine Analyse der Lohnforderungen an sich bewies, daß eine große Anzahl unter ihnen nur der Vorwand oder, besser gesagt, der bevorzugte Kanal war, um eine Fülle anderer Forderungen zu stellen, die durch die Schwierigkeit, sich auszudrücken, diesen Weg gesucht hatten. „Wir stellen immer nur Lohnforderungen, aber es gibt viele andere Punkte, die uns interessieren. Das Unglück besteht darin, daß wir uns nicht entsprechend auszudrücken wissen.” (Worte eines Arbeiters, zitiert von Herrn Migeon, Generalsekretär der Telemecanique Electrique.)

c) Soziologische Untersuchungen über das soziale Klima in Deutschland bei Mannesmann, in der belgischen Glasindustrie, in der holländischen Textilindustrie und in Frankreich bei Renault zeigten, daß die Löhne nur sehr relativ die allgemeine Haltung des Personals im Betrieb bestimmen. Die Höhe des Lohnes beeinflußt das Lebensniveau und ist absolut wichtig für den Arbeiter außerhalb seines Betriebes. Die Reaktionen aber gegenüber dem Lohn hängen sehr oft von anderen Faktoren ab: von der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Organisation und den allgemeinen Arbeitsbedingungen des Betriebes, dem Verhalten der Vorgesetzten usw. Lohnerhöhung allein reicht also nicht aus, um -ein Klima der Zusammenarbeit zu erzielen.

d) Diese These wurde besonders durch zwei Untersuchungen über die Entlohnung und ihre psychologischen Auswirkungen unterstrichen.

Die erste dieser Untersuchungen wurde in zwanzig belgischen Betrieben durchgeführt. Sie ergab, daß in Betrieben gleicher Größenordnung und mit gleichem Lohn die psychologischen Resultate durchaus verschieden waren, je nach der sozialen Atmosphäre, die in diesen Betrieben herrschte. Ein Akkordlohn, ausgezeichnet ausgebaut, gestattet es, sehr hohe Löhne auszuwerfen. Trotzdem wurden in einem solchen Betrieb ständig Forderungen gestellt, und die Unzufriedenheit machte sich außergewöhnlich stark bemerkbar. Das gleiche Lohnsystem zeitigte in einem anderen Betrieb ganz andere Resultate:- die soziale Organisation war eben besser! Andere Betriebe, die sich weigerten, dem Lohn eine stimulierende Wirkung anzuerkennen, verwendeten mit gutem Erfolg den gewöhnlichen Stundenlohn, aber sie beschäftigten sich mit sämtlichen übrigen Aspekten des sozialen Lebens (Organisation, materielle Arbeitsbedingungen, ständige Informationen, allgemeine Fortbildungskurse, Pflege der individuellen Beziehungen, Belebung der Hierarchie u. a.).

Die zweite Untersuchung wurde in einer bedeutenden Petroleumfirma in Frankreich durchgeführt find sollte die psychologischen Auswirkungen eines Produktivitätssteigerungsversuches feststellen, der vor zwei Jahren gestartet wurde. Es handelte sich dabei um ein kollektives Prämiensystem, das auf sämtliche Mitglieder dieser großen Gesellschaft ausgedehnt war. Die Belegschaft erklärte sich in ihrer überwältigenden Mehrheit für diese kollektive und nicht für die einstige individuelle Prämie, die zu Beginn des Versuches abgeschafft worden war. Die psychologischen Resultate waren durchaus positiv: Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen, stimulierende Wirkung in der Arbeit, Entwicklung der Initiative und des Gemeinschaftsgeistes, Verbesserung der gegenseitigen Kontakte. Am Ende der Untersuchung wurde das Personal noch gefragt, in welcher Rangordnung es die einwirkenden sozialen Faktoren bewerte. Das Prämiensystem erhielt den 5. Platz, während die Sicherheit des Arbeitsplatzes an die erste Stelle rückte.

Man kann also sagen, daß die Entlohnung wohl ein Schlüsselfaktor des sozialen Klimas ist, sehr eng aber mit allen anderen sozialen Maßnahmen im Betrieb zusammenhängt.

Das Problem der Löhne mit seinen verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten nimmt eine zentrale Stellung im Leben eines Betriebes ein.

Die Häufigkeit der Konflikte, die Lohnforderungen und die Rückwirkungen auf die soziale Struktur eines Betriebes unterstreichen die Wich- figkeit des psychologischen Faktors der Entlohnung. Natürlich sind diese Faktoren den Lohnempfängern nicht immer klar und verständlich, wenn sie ihre Unzufriedenheit ausdrücken. Eine genaue Analyse des Lohnempfängers — das heißt also: „der Mensch und sein Lohn” — läßt einige Leitlinien sichtbar werden. Vier Grundbedürfnisse spielen beim Lohnempfänger eine Rolle, sobald er sich mit seiner Entlohnung beschäftigt:

Das Bedürfnis der Gerechtigkeit: Der gerechte Lohn entspricht der Wichtigkeit der geleisteten Arbeit. Der Lohn ist eine Verpflichtung des Betriebes, es gibt daher eine echte Beziehung zwischen der Leistung und der Entlohnung.

Das Bedürfnis des Prestiges. Mit der Entlohnung hängt der Gedanke zusammen, daß man auf eine sozial höhere Stufe gelangen kann. Man beginnt zu vergleichen, man sieht seine Situation in einer Hierarchie. Es entsteht also eine Beziehung zwischen der Persönlichkeit und der Entlohnung.

Das Bedürfnis der Sicherheit ist wohl das Wichtigste. Ein Lohn soll den daran Interessierten ihren Lebensunterhalt gewähren, und er muß genügend gesichert sein. Dadurch entsteht eine Beziehung zwischen einer lebenswichtigen Notwendigkeit und der Entlohnung.

Schließlich das Bedürfnis des Fortschrittes. Der Lohnempfänger muß wissen, daß er nicht für immer in derselben Lohnskala steckenbleibt und daß sich in seinem Lohn die persönlichen Fähigkeiten und die allgemeine Prosperität ausdrücken. Es entsteht dadurch eine Beziehung zwischen dem,Bedürfnis einer persönlichen Entwicklung und der Entlohnung.

Diese vier Elemente sind auf das engste untereinander verbunden. Sie werden aber auf

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