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Der österreichische Staatsvertrag

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Zum ersten Male nach mehr als zehn Jahren wird mir wieder die Ehre zuteil, in einem österreichischen Blatt das Wort nehmen zu können. Nicht ohne Bewegung ergreife ich die Feder. Ich rufe mir diese elf Jahre, die seit dem 12, Februar 1938, der Zusammenkunft in Berchtesgaden, verflossen sind, in Erinnerung. Diese Jahre, die mir nun wie Dekaden erscheinen und in denen sich Ereignisse abgespielt haben — auch für Österreich —, die einstmals ein Jahrhundert ausgefüllt hätten. Nun ist es aber doch so weit, daß in nädister Zeit die Verhandlungen — Dii foveant — um den österreichischen Staatsvertrag wieder aufgenommen werden sollen. Welches werden seine Grundsätze, seine Grundlagen und seine Bestimmungen sein?

Sogleich wird vor meinem geistigen Auge das berühmte und so vergessene Kommunique vom 1. November 1943, verfaßt auf der Alliiertenkonferenz von Moskau, lebendig. Den drei Unterzeichnern erschien Österreich als „ein Opfer“ der Hitleredien Angriffslust, mehr noch, als „das erste Opfer“. Im Hinblick darauf erklärten sie es als Pflicht, dieses Land zu befreien. Für sie war die Annexion „nichtig und niemals geschehen“, mit einem Wort, sie existierte für sie weder dem Recht noch der Tatsache nach. Sie führten den Beweis und zogen daraus die logische Folgerung, indem sie erklärten, daß alle aus der Annexion sich ergebenden oder durch sie hervorgerufenen Veränderungen niemanden „verpflichteten“. Ein freies und unabhängiges Österreich „auf der einzig dauerhaften Grundlage des Friedens“, nämlich der „politischen und wirtschaftlichen Sicherheit“ — das waren ihre Kriegsziele in bezug auf Österreich.

Man möge sich nun vorstellen, ein Politiker, der am Abend des 2. November 1943 nach der Ausgabe des Moskauer Kommuniques durch magischen Zauber ein- geschlafen wäre,- würde erst heute erwachen und den heutigen wirklichen Stand der Dinge — in Österreich wie bei den Alliierten — erfahren. Ihm würde jener-Text, den wir eben zitierten, als ein Betrug oder eine Farce erscheinen. Hätte er unrecht?

Zu jener Zeit, da das Kommunique erschien, sahen die unterdrückten Völker in den Alliierten die Verkünder des kommenden strafenden Gerichts und der Wiederherstellung ihrer Freiheit, die Streiter in einem rettenden und befreienden Kreuzzug. Dies verschaffte aber auch den Alliierten das nahezu blinde Vertrauen der Völker, die voll freudiger Hoffnung, trotz allen Gefahren, den Stimmen lausditen, die aus dem Äther zu ihnen in den alliierten Rundfunksendungen tönten.

Weldie Bewegung durchdrang mein Haus, als an diesem Novemberabend in demselben Raum, in dem ich jetzt arbeite, durch denselben Rundfunkapparat, den ich jetzt besitze, ich und meine Kinder über London den Wortlaut des Moskauer Kommuniques erfuhren. Die Alliierten hatten also Europa verstanden? Die harten Lehren der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen waren also nicht vergeblich gewesen? Man hatte die kategorisdien Lebensgesetze Mitteleuropas, des Donauraumes und die Mission Österreichs begriffen? Sie waren also über dessen Schicksal und die Rolle, die es zu spielen berufen war, einig? Welch glückliches Versprechen für die Zukunft! Welcher Zukunft? Einer Zukunft der Vorbereitung für ein neues Österreich, ohne Zweifel. Aber zugleich auch vernünftigerweise einer Ordnungskraft für den ganzen mitteleuropäischen Raum, die ein befriedetes, gesundes und freies Mitteleuropa vorausahnen ließe. Und dieser Donau- und Alpenraum, in dem harte Erfahrungen gereift sind, wäre nun befähigt, sich zu organisieren und den ersten oder einen der ersten „Regionalen Bünde“ des neuen Europa zu bilden, deren Gesamtheit einen europäischen Föderalismus möglich und lebensvoll machen würde.

Dies war meine optimistisch beschwingte Hoffnung und die vieler, vieler Menschen in der Welt, als ich im Jahre 1943 im Rundfunk jene Verlautbarung der Kriegsziele betreffend Österreich vernahm, welche die UdSSR, die Vereinigten Staaten und Großbritannien gemeinsam festgelegt und veröffentlicht hatten.

Heute erinnern sich die Völker mit Bitterkeit der aufwühlenden Sendungen, denen sie heimlich hinter verschlossenen Türen gelauscht hatten. War diese Kriegspropaganda wirklich nichts anderes als lügenhafte Ermunterungen, als eigensüchtige Schmeihe- leien, gerichtet an die Vaterlandsliebe der Unterdrückten, als Versprechungen, zum voraus schon gebrochen durch geheime Vorbehalte oder anmaßliche Formulierungen für kraftlose Allfälligkeiten und abenteuerliche Ideen? War nicht der Interessenausgleich, den man sich gegenseitig während des Krieges zugestanden — vor allem in Teheran und Jalta —, darauf gerichtet, unter den einander mißtrauenden Alliierten den unsicheren Zusammenhalt einer zweideutigen Koalition aufrechtzuerhalten? An diesen Kompromissen hatte doch wohl die momentane Bequemlichkeit für die Partner einen größeren Anteil als die Rücksicht auf das Recht und die höheren Interessen der Völker, welche man zu befreien und aus dem Sturz wiederaufzurichten vorgab. Der Idealismus der Kriegszeit war gleichsam ein „Mantel des Noah“, gebreitet über einen macchiavellistischen Zynismus.

Ohne Zweifel — idi gebe es zu — hatte die Deklaration von Moskau, so feierlich sie auch war, nicht im strengen Sinne die bindende Kraft eines Vertrags oder eines Abkommens. Sie war aber nichtsdestoweniger eine offizielle Stellungnahme, ausdrücklich genau Umrissen und kategorisch, angesichts der ganzen Welt, gefaßt durch die drei damals einmütigen Alliierten. Und wenn sie sich nun in streitende Sieger gewandelt hatten, so war das nicht die Schuld Österreichs und konnte nichts hinwegnehmen von der historischen Tatsache, ihrem offiziellen Charakter und ihrem inneren Gehalt. Sie drückte völlig deutlich — ich wiederhole es — die alliierten Kriegsziele in bezug auf Österreich aus. Zugunsten des „ersten Opfers“ Hitlers bedeutete sie — mit Logik und Treue angewendet — ein kommendes Regime des internationalen allgemeinen Rechtes und nicht einen verlängerten Ausnahmszustand für dieses Land. Sie bedeutete einen solchen Ausgleich der Rechnungen, der Österreich wirkliche Freiheit, Unabhängigkeit sowie politische und wirtschaftliche Sicherheit garantierte. Und damit folgerichtig als mindestes und erstes: den Abschluß des Vertrages.

Es sind mehr als fünf Jahre seit der Konferenz von Moskau verstrichen. Österreich und mit ihm Europa warten noch immer auf diesen Vertrag. Man möchte glauben — ohne allzu gewiß darauf zu rechnen —, daß alle Unterhändler sich vom Geiste und nicht vom Wortlaut der Deklaration vom 1. November 1943 erfüllen lassen werden, welche die Sowjetunion ebenso erwogen und unterzeichnet hatte wie Großbritannien und die USA.

Von Berchtesgaden bis heute über Moskau — ein langer und beschwerlicher Weg zum Frieden. Für Österreich ein Weg über Kalvaria. Man hatte ihm die Auferstehung versprochen und man kann es nun doch nicht kreuzigen!

Wollte man den Realisten und Skeptikern glauben, gäbe es in der Politik weder Gerechtigkeit noch Logik, und dann wäre es kein Wunder, wenn 6ie die Deklaration von Moskau für gebrechlich, weitabliegend und vergessen hielten. Wenn Worte einen Sinn haben sollen und wenn das Wärt dem Menschen nicht dazu gegeben wurde, um zu täuschen und Unaufrichtigkeiten zu verbergen, bleibt es trotz allen Einwänden wahr — und die Geschichte wird es bestätigen —, daß im November 1943 Großbritannien, die USA und die UdSSR in bezug auf Österreich feierliche Verpflichtungen eingegangen sind und ihm genaue Versprechungen gemacht haben.

Angesichts des Herannahens des elften Jahrestages der Aggression, die Österreich zum ersten Opfer Hitlers machte, und angesichts des Textes der Deklaration von Moskau wird die Welt sich Rechenschaft zu geben haben, ob Österreich, das Opfer Hitlers, schließlidi noch lang das Opfer seiner Besieger sein soll, Beute ihrer Uneinigkeit. Die Welt wird es bald wiesen, ob Österreich, einst von Hitler zu einer bloßen „Ostmark“ erniedrigt, nun endlich seine volle Verantwortlichkeit und wirkliche Unabhängigkeit wiedergefunden haben wird.

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