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Der Orientexpreß muß sterben
BUDAPEST OSTBAHNHOF. Die Uhr zeigt vierzig Minuten nach Mitternacht. Der „Orientexpreß“ aus Bukarest fährt ein. Leute steigen aus, Leute steigen ein. Ihrer Kleidung nach zu schließen, sind es kleine Angestellte, Arbeiter und Bauern. Sie pressen sich in die Waggons zweiter Klasse. Eine Frau hat in ihrem Korb zwei Hühner, die sie von ihrer Kusine geschenkt bekommen hat. Man geht als westlicher Reisender durch den Zug. Überall das gleiche Bild. Volle Abteile, rauchende Männer und tratschende Frauen. Ein Waggon ist wie ausgestorben. Der schon etwas altmodische, abgenützte Komfort soll andeuten, daß es sich bei ihm um einen Waggon erster Klasse handelt. Die Abteile sind fast leer. In einem sitzt ein politischer Funktionär der KP Ungarns, in einem anderen ein Vertreter, der in Bukarest zu tun hatte und nun nach Wien fährt. Der nächste Waggon ist der Schlafwagen. Wie der alte Schaffner klagt, sind gerade zwei Abteile besetzt. „Ja früher, da war’s halt ganz anders!“
Der Zug nähert sich der Grenze. Bis auf den Vertreter und die beiden Schlafwagenpassagiere steigen alle aus. Die Grenzkontrolle kommt. Man hört die schweren Stiefel durch den Zug. Zollformalitäten, Fragen, Kontrolle. Dann verschwinden die Männer wieder. Endlos ist die Wartezeit — und unverständlich, da der Zug ja praktisch leer ist. Ein Ruck, und die Reise geht weiter. Im Niemandsland ziehen die drohenden Wachtürme vorüber, und man ist direkt erleichtert, wenn die österreichischen Zöllner das Abteil betreten. Diese Kontrolle ist kurz, und der Zug rollt gegen Wien.
Jetzt kommt die große Überraschung. Der „Orientexpreß“ wird als Eilzug geführt und bringt es fertig, auf den kurzen Strecken zwischen Hegyes- halom und Wien dreizehnmal stehenzubleiben. Die Stationen führen klangvolle Namen, wie Lanzendorf- Rannersdorf und Gramatneusiedl. Der ehemalige Luxuszug, in dem das Beste gerade gut genug war, wurde zu einem Bummelzug degradiert…
Orientexpreß. Ein klangvoller Name, der in Zukunft oder, genauer gesagt, ab Ende Mai. nicht mehr in den internationalen Fahrplänen erscheinen wird. Der Grund ist die mangelhafte Frequenz an Reisenden nach den Ländern hinter dem „Eisernen". Damit wird ein Zug sterben, der fast achtzig Jahre lang einer der Züge Europas war Von Paris bis Istanbul brachte der Zug die Reisenden. Adelige, reiche Kaufleute, weltbekannte Künstler, Diplomaten, Gangster, Spione - sie alle saßen in den Abteilen und lieferten die Geschichte des Zuges, die so lang ist wie die Strecke, die der Zug durcheilt. Liebestragödien, politische Affären, Skandale ersten Ranges, Agentenkämpfe und Attentate gaben Stoff zu Abenteuerromanen, Filmen und sogar zu Theaterstücken.
DER „ORIENTEXPRESS“ lebt eigentlich schon lange nicht mehr, und seine auf der internationalen Fahrplankonferenz in Leningrad beschlossene Einstellung war nur die formelle Todeserklärung für einen Zug, der als erster der großen europäischen Expreßzüge den Kontinent von West nach Ost und umgekehrt befuhr. Am 5. Juli 1883 verließ ein Luxuszug mit ein paar Schlafwagen und einem Speisewagen Paris. Großer Trubel herrschte, denn man feierte die Geburtsstunde des ersten Zuges dieser Art. Ein knappes Jahr zuvor, am 10. Oktober 1882, hatte der „Train Eclair“ ebenfalls die französische Hauptstadt verlassen, um von der Seine an die Donau zu „rasen". Es war der Vorläufer des „Orientexpreß“, der ausprobierte, ob sich so ein transkontinentaler, ständig geführter Zug überhaupt lohne. Am 13. Oktober kam dieses „Zügchen“ in Wien an.
Paris—Giurgiu war die Strecke, die der „Orientexpreß“ die erste Zeit ständig befuhr. Der Donauhafen war die vorläufige Endstation, da es damals noch keinen durchlaufenden Schienenstrang nach Konstantinopel gab. Reisende, die in die Stadt am Bosporus wollten, mußten mit einem Schiff die Donau übersetzen und von Rustschuk nach Varna am Schwarzen Meer — übrigens die älteste Bahnstrecke auf dem Balkan — fahren. Von dort ging der österreichische Lloyddampfer nach der Kalifenstadt. 1885 eröffneten die Staatsbahnen eine Strecke von Buda pest über Belgrad nach Nisch, und vier Jahre später, 1889, konnte man bereits von Paris direkt nach Konstantinopel fahren. Der Donauhafen Giurgiu wurde aufgelassen, dafür aber eine Verbindung mit Constanza geschaffen.
In dieser Zeit mußte der erste Überfall auf den Zug in der Chronik vermerkt werden. In der Nähe der thrazischen Stadt Tscherkeskeni wurde 1891 der Orientexpreß von der Bande des damals berüchtigten Räubers Athanasos zum Entgleisen gebracht. Vier Herren einer Reisegesellschaft fielen den Männern in die Hände und wurden erst gegen 600.000 Schilling Lösegeld freigegeben.
Der Startschuß zu den Skandalen und aufsehenerregenden Affären, die von nun an den Orientexpreß zum Schauplatz ihrer Handlung hatten, war gegeben. Und es dauerte nicht lange, da gab es kaum mehr Leute, die den „Orientexpreß“ nicht kannten, der zum Inbegriff des luxuriösen Reisens geworden war. Bis in die entferntesten Winkel Thraziens und Mazedoniens drang sein Ruf, und jeder, der etwas auf sich hielt, fuhr nur mehr mit diesem Zug.
DER „OSTENDEEXPRESS“, . der 1894 seine erste Fahr' zwischen Ostende und Wien mach e, brachte die Reisenden aus England, Belgien, Mittel- und Norddeutschland zum „Orientexpreß“. Viermal wöchentlich verkehrten diese fahrenden Luxushotels, in denen man alles bekam, was an Delikatessen nur zu haben war. Nach den Balkankriegen beantragten die bulgarischen Bahnen eine tägliche Führung des Zuges, weil sie einen verstärkten Fremdenverkehr zu den historischen Städten erhofften. Die politische Lage spitzte sich zu, ein Sonderbauftragter der französischen Regierung wurde im Zug erstochen, der erste Weltkrieg begann, und der berühmt-berüchtigte Zug mußte einem sogenannten „Balkanexpreß" Platz machen.
Nach dem Krieg wurde der „Orientexpreß“ ein Jahr lang als „Train de luxe militaire“ geführt, der hohe Militärs und Diplomaten von Paris nach Warschau und Bukarest brachte. 1920 mußte der „Orient“ in „Paris-Prag- Wi en-W arschau-Expreß“ umgetauf ?
werden, da in Ungarn das Regime Bela Kun herrschte und alles drunter und drüber ging, so daß man vermied, den Luxuszug durch dieses Gebiet fahren zu lassen. Als 1921 wieder der „Orientexpreß“ verkehrte, war sein Name bereits nur mehr Tradition und seine Endstation Bukarest. Die Verbindung Paris—Konstantinopel hatte sich während der Wirren in Ungarn 1920 der „Simplon-Orient-Expreß“ zunutze gemacht.
Tradition ist Tradition, sagte man damals, und der „Paris-Bukarest-Expreß“ behielt seinen berühmten Namen weiter. Die Spionage war im Krieg modern geworden, und die Herren Agenten hatten neuen Boden für ihre zwielichtigen Geschäfte gefunden: den „Orientexpreß". In dieser Epoche verzeichnete die Chronik viele tragische und auch heitere Ereignisse. Eines davon sei herausgegriffen,
UNGARISCHE GRAFEN pflegten unter anderem auch extravagant zu sein, wie eben jener Geschäftsmann, der eine Vorliebe für auffallende Pyjamas hatte und mit dem „Orientexpreß“ von Budapest nach Paris zu Besprechungen fuhr. Nach Straßburg wurde ihm aus seinem Abteil das gesamte Gepäck gestohlen, und der Graf, der mit einem Freund gefeiert hatte, bemerkte den Diebstahl nicht. Er schlief fest. Knapp vor Paris weckte ihn der Schaffner. Vergeblich suchte der Geschäftsmann seinen Anzug und seine persönliche Habe. Alles war weg, nur das Geld nicht, das er vorsichtigerweise in einem Gurt um den Leib trug. Mittlerweile war der Zug in Paris angekommen, und er hatte zu Überlegungen und zu einer Anzeige keine Zeit, da eine wichtige Besprechung auf ihn wartete. Kurz entschlossen, stieg er aus und ging in seinem knallorangen Pyjama würdevoll zum Taxistand. Der Fahrer, dem er die Adresse nannte, machte ein erstauntes Gesicht, und noch verblüffter sahen die Geschäftsfreunde drein, als der Graf unrasiert und in diesem Aufzug zur Besprechung erschien.
Seinen Ruf als Luxuszug — es fuhren in der Garnitur nur Schlafwagen und der Speisewagen — konnte der „Orientexpreß" bis zum Frühjahr 1940 verteidigen. Im Inferno des Weltkrieges wurde der Zug wieder einmal eingestellt, und diese Einstellung bedeutete die letzte Stunde dieses
Luxuszuges. Wohl fuhr er knapp nach Kriegsende wieder. Im Anfang zwar nur bis Linz, da das Gebiet östlich der Enns von den Sowjets besetzt war. 1946 47 besserte sich die Lage, und zwei Wagen rollten, an einen Personenzug gekoppelt, bis Wien. Damit begann in der Geschichte des „Orientexpreß“ das armseligste Kapitel, das der Zug in all den Jahrzehnten seines Bestehens zu verzeichnen hatte. Alle Pracht und Herrlichkeit war vorbei. Statt der Schlafwagen, die nur von Offizieren der Alliierten benützt wurden, gab es zu dieser Zeit vorwiegend Waggons zweiter und dritter Klasse, und es waren nicht mehr Größen, die reisten, sondern ganz „normale“ Menschen.
SO WIE IN DER VORKRIEGSZEIT war der „Orientexpreß“ jetzt auf dem Boden des besetzten Österreichs wieder ein Schauplatz für Agentenkämpfe. 1950 wurde ein Militärkurier aus dem Zug gestoßen und seine Dokumente geraubt, Leute wurden entführt, kurzum, hinter den Kulissen tobte ein erbitterter Kampf So lange, bis die Besatzungsmächte Österreich verließen.
Die provisorische Endstation Wien war aufgelöst worden, und der „Orientexpreß“ fuhr schon längst wieder nach Bukarest. Aber, das internationale Reisepublikum hatte scheinbar kein Interesse mehr, die Länder hinter dem „Eisernen Vorhang“ zu besuchen, ganz wenige Reisende ausgenommen. Diejenigen, die den einstmals so berühmten Zug jetzt noch benützten, waren Diplomaten, Politiker, Geschäftsleute und hie und da ein Besucher. Als das Flugzeug in solchem Maße den Verkehr an sich riß, die Kontrollen am „Eisernen“ auf die Nerven fielen und der Komfort so spärlich wurde, blieben auch diese Reisenden aus. Es kam sogar in letzter Zeit öfter vor, daß nur eine einzige Person im Kurswagen Paris—Bukarest die Grenze zu einer anders ideologischen Welt überschritt.
DIE REISE VON WIEN NACH BUDAPEST dauerte in den dreißiger Jahren weniger als vier Stunden, heute fährt man mehr als sechs — die Verspätungen nicht eingerechnet. Und von einem Komfort, wie ihn zum Beispiel der heute noch verkehrende „Train bleu“ oder der „Mistral“ (beide sind Luxuszüge in Frankreich) bietet, ist schon seit den vierziger Jahren keine Spur mehr vorhanden. Sein Nachfolger, der „Paris-Wien- Expreß“, wird infolge der Elektrifizierung . der französischen Staatsbahnen für die gleiche Strecke eineinhalb Stunden weniger benötigen, und die Verbindung mit Budapest und Bukarest stellt ein Triebwagenschnellzug, der „Budapest-Expreß“, her.
Wenn nun Ende Mai die letzte Stunde für den „Orientexpreß“ schlägt, bedeutet dies viel mehr als die bloße Einstellung eines Zuges. Es bedeutet auch, daß ein Stück Geschichte tatsächlich in die Chronik verbannt wird.
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