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Der Panslawismus - liquidiert

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Das Tagebuch des tschechisch-russischen Verhältnisses des ersten Halbjahres 1968

Der Panslawismus der Tschechen zeigte eigentlich nur im alten Österreich ein wenig Leben. Damals war es auch weniger die Anziehungskraft Moskaus oder Belgrads — die Tschechen im alten Österreich waren zu emanzipiert, um völlig messiani- schen Ideen zu verfallen oder gar an Minderwertigkeitskomplexen zu leiden —, sondern meist mancherlei Fehler verschiedener anderer Seiten.

Vor allem Palacky war es damals, der Ideen von Rousseau und Herder geschickt wedterentwickelte. Bald 6ah man in der Wiedererweckung der Tschechen und übrigen Slawen durch die Aufklärung eigentlich nur eine

Verlebendigung uralter tschechischer Traditionen; die Hussiten wurden jetzt Vorkämpfer der ganzen Menschheit im Kampf gegen die obrigkeitliche Autorität und Hierarchie, für Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung der Menschen, Demokratie und sozialen Fortschritt.

Wie immer man diese Geschichtsbetrachtung werten mag, ihre Wirkung auf das tschechische Volk vermochte sie sehr wohl auszuüben. Hinzu kam, daß PalaOky es im Gegensatz zu anderen slawischen Völkern zustande brachte, diese Entwicklung nicht in einen Gegensatz zur westlichen Liberalität zu bringen, sondern daß er als ihr Vorkämpfer und Bundesgenosse erschien. Durch diese seine Geschichtsinterpretation versuchte er mit Erfolg, die Tschechen nicht zum westlichen Vorposten des östlichen Slawentums zu machen, sondern zum östlichen Exponenten des liberalen, des demokratischen Westens. Palackys wenig befriedigende „Pilgerfahrt“ nach Rußland scheint dabei mit Pate gestanden zu haben.

Neben dieser Geschichtsbetrachtung und geistigen Haltung scheinen mancherlei panslawistische Argumente und Aktionen tschechischer Politiker in den letzten 30 Jahren der alten Monarchie kaum ins Gewicht zu fallen oder wurden überbewertet.

Der erste Weltkrieg brachte ein neues, starkes Aufflackem des Nationalismus, bezeichnenderweise aber auch gleichzeitig ein Auslaufen des Panslawismus. Man versuchte wohl noch, diesen Panslawismus zum Motor der tschechischen Legionen in Rußland zu machen (es gab allerdings auch solche tschechische Legionen in Frankreich, England, Italien und in den USA!), die keineswegs nur aus Überläufern, sondern überwiegend aus Kriegsgefangenen bestanden, die der Kriegsgefangenschaft entgehen wollten. Die Auseinandersetzungen und kriegsähnlichen Handlungen zwischen den tschechischen Legionen und den bolschewi stischen Einheiten in den Jahren nach 1918 in Rußland waren ja bezeichnenderweise heftiger als der Zusammenprall von „Weiß“ und „Rot“. Dann aber war es auch der Kommunismus, der international sein wollte und der nur gelegentlich Wert auf eine panslawistische Tar- ‘ nung legte.

In der 1918 neubegründeten Tschechoslowakei selbst war die in verschiedenen Varianten sichtbare prowestliche Einstellung vor allem unter dem Eindruck Masaryks so stark, daß panslawistische Reminiszenzen bestenfalls auf einem außenpolitischen Teilgebiet, bei der „Kleinen Entente“ sichtbar wurden. In Prag selbst schwand die Bedeutung der letzten Slawophilen rasch dahin, und als 1937 der einstige Ministerpräsident Karel Kramar, den Johannes Urzidil als „zwar russophiil, doch nichtsdestoweniger austro-slawisch“ charakterisierte, siebenundsiebzigjährig starb, da schien es, als würde die tschechische Russophilie und ihr Panslawismus zu Grabe getragen werden.

Die Slawophilen sterben

Die Jahre 1938 und 1939, dann vor allem 1944 und 1945 brachten neue Phasen der tschechisch-russischen, der tschechisch-sowjetischen Beziehungen. Gewiß wurde noch gelegentlich das gemeinsame slawische Erbe

— mehr von tschechischer Seite her

— betont, vom Panslawismus konnte kaum noch gesprochen werden — es sei denn auf dem Teilsektor der orthodoxen Kirche, ohne daß auch diese Bestrebungen von Dauer waren.

Der Haß gegen alles Deutsche nach der sogenannten Protektoratszeit ließ die Sowjetunion wieder in einem eher rosigen Licht erscheinen. Immerhin hatte die Anwesenheit sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der wiedererrichteten Tschechoslowakei nach Ende des zweiten Weltkrieges unterschiedliche Folgen. Zum Teil benahmen sich diese

Truppen so wie anderswo und wie sich Besatzungstruppen normalerweise benehmen; zum Teil waren sie aber auch die einzigen Ordnungshüter in einer chaotisch gewordenen Umwelt. Doch war der verhältnismäßig rasche Abzug der Sowjettruppen aus der Tschechoslowakei alles in allem für das Ansehen der Sowjets von Vorteil.

Um so mehr war es die Zeit nach der kommunistischen Machtübernahme vom Februar 1948, die die immer wieder penetrant betonte tschechisch-sowjetische Freundschaft als Zwangsfreundschaft erscheinen ließ und in der Moskaus Anziehungskraft zusehends verblaßte. Verständ licherweise wurde darüber wenig gesprochen und geschrieben, aber das Frühjahrsgeschehen 1968 ließ alle aufgespeicherten Ressentiments in ungeahnter Weise hervorbrechen, obwohl man nicht außer acht lassen darf, daß hier zahlreiche Probleme ineinander übergehen und das Bild verwirren.

In erster Linie sind es innerkommunistische Differenzen, die zutage traten und die ziemlich genau vor zwanzig Jahren mit der Rebellion Titos gegen das damals noch stalini- stische Rußland im Jahre 1948 virulent wurden. In zweiter Linie war es zweifellos die erstarkende Aversion der seit eh und je auf ihre Emanzipation stolzen Tschechen gegenüber der Sowjetunion, aber auch gegenüber anderen Ostblockländern. Bezeichnenderweise war die Reaktion vom Frühjahr 1968 gerade gegen jene Männer am heftigsten, die als simple Jasager und Nachbeter Moskaus galten, wie etwa Außenminister David; auf wirtschaftlichem Gebiet fürchteten die Tschechen — und Minirebellionen auf Teilgebieten gab es bereits in der Novotny-Ära — nicht nur von den Sowjets, sondern auch von den anderen, bisher weniger industrialisierten Ostblockländern ausgenützt zu werden. So geschickt etwa Moslkau den Tschechen weite Teilgebiete der Wirtschaftsbeziehungen des Ostblocks mit den Entwicklungsländern überließ, so rasch folgte doch eine sichtbare Verbitterung der ursprünglichen Freude und Genugtuung, als man sah, daß es ein Faß ohne Boden war, das man laufend zu füllen hatte.

All dies, dazu vielerlei kleine Ungeschicklichkeiten, schuf ein Klima, in dem weder ein Panslawismus noch ein Zusammengehörigkeitsgefühl slawischer Völker gedeihen konnte.

So kam es zu ungewohnt starken Explosionen im Bereich der tschechisch-sowjetischen Beziehungen, die auf verschiedensten Ebenen stattfanden. Insgesamt gab es folgende Schlachtfelder:

• das der Presse, wo die schärfsten Waffen geführt wurden;

• das Mittel der organisierten Protestversammlungen und manipulierten Resolutionen in der Sowjetunion, mit denen man allerdings nicht in der Lage war, eine innertschechische Bewegung und Auseinandersetzung hervorzurufen, bei der sich Moskau dann als Schiedsrichter betätigt hätte;

• über die Bruderparteien des Ostblocks, die die Tschechen zu teilweise erfolgreichen Abwehrmaßnahmen zwangen;

• schließlich auf höchster Ebene, durch Erklärungen und Aussprachen zwischen den Zentralkomitees der beiden Parteien.

Das Tauziehen zwischen Prag und Moskau begann verständlicherweise schon vor dem Sturz Novotnys. Erst wesentlich später wurde von den neuen Männern Prags das damals neutrale Verhalten des sowjetischen KP-Chef s L eonid

Breschnjew hervorgehoben, der Ende 1967 in die Tschechoslowakei geholt wurde, als sich die Spannungen um Novotny zuspitzten. Breschnjew tat zumindest nichts, um den Sturz Novotnys zu verhindern, was allerdings kaum geschehen wäre, hätte er die kommende Entwicklung vorausgesehen.

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