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Der Parteidief

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Das Gebiet von Charkow und Bjelgorod, aus dem Sowjetrußlands Parteichef, Nikita Sergejwitsch Chruschtschow, stammt, gehört ethnographisch zum ukrainischen Siedlungsgebiet. Politisch war es jedoch bis 1917 nie ein Teil der Ukraine, sondern seit vielen Jahrhunderten russischer Besitz, lange bevor 1654 die Großukraine zu Moskau kam. In diesem Gebiet fällt es schwer, zu sagen, was der einzelne eigentlich ist: Ukrainer oder Russe. Zu diesem Typus gehört auch Nikita Chruschtschow. Er kann genau so als russifizierter Ukrainer wie als des Ukrainischen kundiger Russe angesehen werden. Oder aber auch als ein personifiziertes Symbol der engen Verbundenheit zwischen Ukrainern und Russen.

Ueber den Vater Chruschtschows, über Sergej Chruschtschow, weiß man wenig. Fest steht nur, daß er aus dem Proletariat stammte. Er war jedoch ein Typ der niederen Volksmassen, der aus der Misere heraus wollte. Zeiten, in denen sich der alte Chruschtschow als Arbeiter durchbrachte, wechselten ab mit Zeiten, in denen er sich im Handel versuchte. Vater Chruschtschow wollte mit aller Gewalt reich werden. Aber, ob nun die Ellbogen Sergej Chruschtschows für das damalige Rußland nicht stark genug, er selbst nicht rücksichtslos und hart genug war, es gelang ihm nie. Seinem 1892 geborenen Sohn, der die Strebsamkeit des Vaters erbte, doch auch alles das hatte, was dem Vater noch fehlte, eine ungewöhnliche Schlauheit und Intelligenz und auch eine gehörige Portion Härte, wollte er die bestmöglichste Bildung geben. So kam der kleine Nikita in die Stadtschule seiner Heimatstadt Bjelgorod. Das war die höchste Abart der „niederen“ Schulen des alten Rußland, die den unteren Volksschichten Rußlands damals offenstanden. Diese Schulen wurden meist von Söhnen des Kleinhandels und der Handwerker besucht. Der strebsame junge Nikita lernte sehr gut und absolvierte die Schule mit Auszeichnung. Noch als Schüler kam er auch zur illegalen revolutionären Bewegung. Oppositionelle Gesinnung gegen den Zarismus, der Trieb zu revolutionärer Betätigung lag damals sozusagen in der Luft. Zu welcher dieser vielen revolutionären Richtungen der einzelne Jugendliche kam, hing nicht sosehr von Gesinnung oder gar Sympathie ab, sondern meist nur vom Zufall. Man kam damals zu einer revolutionären Partei meist durch den Nachbar auf der Schulbank, durch einen Kommilitonen auf der Hochschule, durch eine zufällige Bekanntschaft. Und man war dann durch die revolutionäre Disziplin für das ganze Leben dieser Partei verbunden. Man blieb ihr auch, durch zahlreiche persönliche Fäden verbunden, treu. Bis dann, als die Revolution endlich siegte, den einen das Schicksal zu den Höhen der Macht erhob, den anderen aber ins Exil, in die Verbannung trieb oder gar dem Henker auslieferte.

Der junge Nikita hatte Glück. Eine zufällige Bekanntschaft brachte den kaum Sechzehnjährigen zu den Sozialisten, und es war eine weitere günstige Fügung des Schicksals, daß die erste illegale Parteiorganisation, in die er eintrat, innerhalb der damals offiziell einheitlichen Sozialdemokratischen Partei sich zur bolschewistischen Richtung Lenins bekannte. Zweifellos war Nikita Chruschtschow ein überzeugter Revolutionär. Doch gab es auch noch eine andere Komponente der Wesensart Chruschtschows. Er vergaß über dem revolutionären Morgen keineswegs sein persönliches Heute, wie so viele andere russische Revolutionäre, die beinahe gar kein persönliches Leben mehr hatten und an eine bürgerliche Karriere im zaristischen Rußland nicht dachten. Solange in Rußland der Zarismus herrschte, wollte auch der junge Nikita für sein persönliches Fortkommen das Beste herausholen. Er wählte daher die für ihn günstigste Schule. Das Zeugnis der Stadtschule gab den Weg zu den „niederen“ technischen Schulen frei. Von diesen niederen technischen Schulen wählte er diejenige, welche die besten Zukunftsaussichten bot, die „Steigerschule“ in- Jusowka, dem Zentrum des Donezbeckens, damals das größte russische Kohlenbergwerksgebiet und das größte Zentrum der russischen Metallurgie. In dieser Schule wurden die „Steiger“, wie die Meister im Bergbau heißen, ausgebildet. Es war eine sehr gute Schule, die auch sehr gute Aufstiegsmöglichkeiten gab. Obwohl der talentierte Nikita Chruschtschow auch hier glänzend vorwärtskam, sollte doch die Schule zum „dunklen Punkt“ in seinem Leben werden.

Nikita war, eifriges Mitglied der illegalen Organisation der Sozialisten, in der Schule zeigte er jedoch in der Öffentlichkeit eine ganz andere politische Gesinnung. Die Ukraine und vor allem das Donez-Industriebecken waren damals besonders heißer Boden für die zaristische Regierung. Daher wurden insbesondere in das Donezbecken nur erprobte und fanatische Monarchisten als Beamte und Lehrer entsandt. In den technischen Schulen des Donezbeckens genügte es nicht, nur ein (leicht etftältliches) Zeugnis über „politisches Wohlverhalten“ zu haben. Dort wurde auf den Schulen aktive monarchistische Propaganda getrieben, an der sich alle Schüler beteiligen mußten, wollten sie auf der Schule bleiben. Viele Jähre später, als der Kampf zwischen Stalin und seinen Gegnern entbrannte, suchte jeder den Gegner zu diffamieren, man fand eines jeden „dunklen Punkt“ heraus. Als die Kämpfe in der Partei begannen, trat Chruschtschow, der damals schon ziemlich hohe Parteiämter bekleidete, sofort auf die Seite Stalins. Unter den vielen Gerüchten und- Erzählungen, die damals von der Opposition planmäßig gegen die Stalin-Leute in Umlauf gesetzt wurden (Stalin hatte dagegen die Möglichkeit, seine Gegner öffentlich anzugreifen), war auch die Erzählung vom Monarchisten Chruschtschow, der in Jusowka öffentlich den Zaren verherrlicht habe. Es wurde behauptet, daß selbst ein Akt darüber in den Archiven der Partei vorhanden gewesen wäre, den Stalin habe verschwinden lassen. Nun, die Wirklichkeit ist etwas weniger dramatisch. Tatsächlich hat Chruschtschow den ganzen monarchistischen Rummel mit Wissen und Genehmigung seiner Parteiorganisation mitgemacht — als Tarnung! Die Partei war sehr daran interessiert,' daß er diese Schule absolviere und dann als „Steiger“ (Meister) — später wurde er sogar Obermeister — in direkten Kontakt mit den Bergarbeitern komme. Man kann sich kaum einen Begriff davon machen, welche Bedeutung es iür eine revolutionäre Partei zur zaristischen Zeit war, einen der ihren in solcher Position zu wissen ...

Chruschtschow wurde also von der Anklage monarchistischer Betätigung „freigesprochen“ und blieb Mitglied der Partei. Gleichzeitig legte er freilich seih Mandat nieder. Man hielt das in den stürmischen Zeiten der Partei für opportun.

Bald darauf stieg der kluge und wendige Chruschtschow von Stufe zu Stufe. Schließlich kam er nach Moskau. Obwohl Stalin ihn nicht besonders liebte, hielt er große Stücke von seinen Fähigkeiten. Chruschtschow bekam immer wichtigere Parteiaufträge, wurde ins Zentralkomitee gewählt, arbeitete im Apparat Stalins selbst. Und schließlich kam der große Sprung. Die ukrainische kommunistische Partei war und ist die wichtigste Parteiorganisation in der Sowjetunion. In den dreißiger Jahren war die Ukraine besonders heißer Boden! Der Widerstand gegen die Kollektivisierung der Landwirtschaft war in der Ukraine besonders groß, der Kampf blutig. Noch gefährlicher war die Tatsache, daß die ukrainischen Kommunisten absolut unzuverlässig waren. In der ukrainischen kommunistischen Partei kämpfte gegen Moskau, abgesehen von den vielen Richtungen der Opposition, wie sie auch in Rußland selbst vorhanden waren, auch noch der ukrainisch-nationalistische Flügel.

Stalin sah in Chruschtschow den geeigneten Mann, die große Säuberung in der Ukraine durchzuführne. So wurde Chruschtschow gegen den Widerstand der ukrainischen Kommunisten Generalsekretär der ukrainischen Partei, also eigentlich der Vizekönig des Kreml in der Ukraine. Ueber die Tätigkeit Chruschtschows in Kiew sprach man auch in Moskau viel. Die Säuberung der ukrainischen Partei führte er mit einer kaum zu überbietenden Rücksichtslosigkeit durch. Ein großes polnisches Spionagenetz liquidierte er vollkommen. Viele Hunderte, wenn nicht Tausende, fanden durch ihn den Tod. Trotzdem wurde er bei der ukrainischen Intelligenz sehr populär. Er gab sich ganz als Ukrainer. Während er seine Parteigenossen mit rücksichtsloser Strenge anfaßte, behandelte er die ukrainischen Professoren, Künstler und akademischen Berufe nicht nur mit Milde, sondern spielte gewissermaßen ihren Schutzpatron. Er protegierte die ukrainische Sprache, das Theater und die Kunst. Es brauchte nur einer der nicht zur Partei gehörenden ukrainischen Intellektuellen zu ihm zu kommen und sich über die Geheimpolizei zu beschweren, schon nahm der allmächtige Generalsekretär gegen die Geheimpolizei Stellung. Er befreite Verhaftete, ließ Deportierte wieder zurückkommen und erreichte mit dieser Taktik das, was er wollte: die gefährlichen Gegner der Herrschaft Moskaus in der Ukraine waren vernichtet, das Kulturleben mit Moskau gleichgeschaltet, ohne daß ein Bruch mit den breiten Schichten der ukrainischen Intelligenz stattfand. Chruschtschow erwies sich hier, wie schon in Moskau, als Meister der politischen Intrige.

Es ist für Chruschtschow jedoch charakteristisch, daß er jetzt alles für sich persönlich Erreichte aufs Spiel setzte. Genau so wie in seiner Jugend, als er, um eine gut bürgerliche Karriere zu machen, in der Schule den Monarchisten mimte und gleichzeitig Mitglied der geheimen revolutionären Organisation war. In der Oberschicht der Partei sprach man zeitweise viel von der zweiten Ehe Chruschtschows. Auf dem so gefährlichen Posten in Kiew, auf dem man sich so leicht den Hals brechen konnte, tat er das, was sich zu dieser Zeit wohl selten ein Parteimitglied getraute. Chruschtschow war mit einer Russin verheiratet und Vater zweier Knaben. Er führte ein absolut einwandfreies Familienleben. Jetzt ließ er sich scheiden und heiratete zum zweitenmal. An dieser Ehe war buchstäblich alles dran, was jedem anderen Parteimitglied eine scharfe Disziplinierung und eine Degradierung in der Karriere eingetragen hätte. Schon die Scheidung als solche war damals für die höhere Parteischicht etwas sehr ungern Gesehenes. Gerade damals ging ja Stalin sehr scharf gegen lockere Sitten, gegen die Scheidungen vor und propagierte die „feste“ Familie- als Urzelle des sowjetischen Staates. An der zweiten Ehe Chruschtschows war aber auch sonst alles dran, was ein Parteimitglied zu vermeiden hatte.

Vor allem war die zweite, sehr schöne Frau Chruschschows Ukrainerin. Daß sich der Generalsekretär in der Ukraine von seiner russischen Frau scheiden ließ, um eine Ukrainerin zu heiraten, konnte damals schon als oppositionelle Demonstration, gewertet werden. Dazu kam noch, daß die zweite Frau unter dem Verdacht ukrainischem nationalistischem Separatismus verhaftet worden war. Dazu kam weiter, daß die Frau ältestem ukrainischem Adel entstammte und die Tochter eines Großgrundbesitzers war. Eine solche Ehe hatte schon wiederholt einem höheren Parteifunktionär den Hals gebrochen. Und zu allem Ueberfluß war sie noch — Schauspielerin. Ungerührt aber von Klatsch und Angriffen kämpfte Chruschschow seinen persönlichen Kampf siegreich durch.

Der Posten eines Generalsekretärs der Partei in der Ukraine gab natürlich Chruschtschow die Mitgliedschaft im Politbüro der Sowjetunion. Er war also an der Spitze der Partei.

Der Weltkrieg brachte Chruschtschow militärische Lorbeeren. Obwohl er nie Soldat gewesen war, wurde er zum Generalleutnant ernannt. Er übernahm das oberste Kommando über die ukrainischen Partisanen. Das war nur natürlich, denn der ehemalige Beherrscher der Ukraine kannte ja wie kein anderer Land und Leute. Man lobte allgemein seine militärischen Fähigkeiten und auch seinen persönlichen Wagemut. Aber in höchsten Parteikreisen wurde auch Kritik laut. Er führte seinen Partisanenkrieg ohne jede Rücksicht auf alle Kriegsgesetze. Dort, wo es ihm zweckmäßig schien, schreckte er auch vor Grausamkeiten nicht zurück. Nach dem Sieg begann eine Legendenbildung um seine militärischen Leistungen. Doch kam sie nicht zur Entfaltung, denn zu Lebzeiten Stalins mußte hier Maß herrschen. Nach dem Tode Stalins jedoch war jede Verherrlichung einzelner Personen verpönt.

Es nimmt natürlich nicht wunder, daß nach dem Tode Stalins Chruschtschow zu den Männern an der Spitze des Sowjetstaates rechnete. Schon bei Lebzeiten Stalins wußte man, daß er und niemand anderer an der Spitze des Parteiapparates stehen werde. Die Welt beschäftigt nun die Frage, ob Nikita Chruschtschow, ähnlich wie Stalin, Alleinherrscher des großen Rußland werden kann.

Dazu fehlen heute in der Sowjetunion alle Voraussetzungen. Auch die ganze Gestalt

Chruschtschows eignet sich nicht dazu. Als einflußreicher Mann innerhalb des Kollektivs fühlt er sich wahrscheinlich sicherer und wohler. Denn seine vielseitige Gestalt bietet auch Angriffsflächen. Uebrigens fehlen heute auch di Machtmittel, die einem einzigen die Möglichkeit geben würden, eine persönliche Diktatur zu errichten.

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