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Digital In Arbeit

Der Pg. iix te es wissen

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Die Szene in der „Zeit im Bild” griff ans Herz: Bei der Präsentation seines im Styria-Verlag erschienenen Buches „Verdammt ohne Urteil” erlag der Auschwitz-Überlebende Bert Linder am Vortragspult einem Herzschlag. Als Loter wurde er hinausgetragen.

Viele Überlebende schrieben Bücher. Keines ist unnötig. Hätten wir in den seither verflossenen 50 Jahren unsere Lektion gelernt, könnte es keine Auschwitz-Leugner geben. Ebensowenig all jene, die sagen, einmal müsse Schluß sein - obwohl es, wie sie wissen, nach wie vor Neo-Nazis und Auschwitz-Leugner gibt. Die Redundanz des Entsetzens ist ein wichtiger Teil der Authentizität dieser Rücher. Solche, die tatsächlich Neues zum Thema beitragen, sind freilich selten geworden. „Verdammt ohne Urteil” ist eines davon. Die Begegnung mit dem Werkmeister Fren-kel, die Linder schildert, zählt zu den erstaunlichsten Details der Auschwitz-Literatur. Einen, der kein SS-Mann war, aber immerhin NSDAP-Mitglied, „Pg.”, und Werkmeister im „Buna-Werk” der IG-Farben, und der nicht wußte, was in Auschwitz gespielt wurde, hatten wir noch nicht.

Linder hatte das Glück, zur Arbeit in diesem Werk eingeteilt zu werden. Dies ermöglichte ihm das Überleben. Die Alternative, Schwerstarbeit im Freien, bedeutete im Winter für die Häftlinge in ihren dünnen Uniformen, mit Holzpantoffeln, den Tod. Auch Linder bestätigt, daß die Hilfe einer jener Gruppen, die zusammenhielten, oft über Leben und Tod entschied. Sein Vater war Funktionär der SPÖ gewesen, wodurch er in Kontakt mit dem Häftling „Berndl” kam - keinem Geringeren als Benedikt Kautsky, der Bert Linder und dessen Bruder Willi unter seiner Fittiche nahm. Linder verdankte „Berndl” sein Leben - ebenso wie FlJRCHK-Gründer Friedrich Funder sowie der spätere Chefredakteur des „Neuen Österreich” und Concordia-Präsident Rudolf Kalmar ihr Überleben in Dachau Viktor Matejka verdankten.

Im „Runa-Werk” gibt es den polnischen Kapo Rollek, der, wie viele nichtjüdische polnische Häftlinge in Auschwitz, ein rabiater Antisemit ist und Linder nach dem Leben trachtet. Er hat schon mehrere mit bloßen Händen erschlagen. Zweimal zertrampelt er vor dessen Augen Linders Eßgeschirr. Wer kein Eßgeschirr hatte, starb in wenigen Tagen an Entkräftung. Kautsky zaubert jedesmal Ersatz herbei und eine Gruppe von Häftlingen, die das Treiben Bolleks beobachtet, unterschiebt diesem einen fingierten Fluchtplan und sorgt dafür, daß die SS diesen findet.

Frenkel will Linder in Privatgespräche verwickeln, denen er sich, dem Rat der Kameraden folgend, entzieht. Frenkel reißt Rollek zurück, der Linder erschlagen will, und läßt diesen täglich seinen Papierkorb entleeren, in dem er Rutterbrote hinterlegt. Eines Tages will er von Linder hören, daß die Behauptung, im nahegelegenen Birkenau würden systematisch Menschen ermordet, unwahr sei. Linder vergißt alleVorsicht. Er schildert die Trennung von seiner Frau und sei -nem Kleinkind, schildert, „wie man beide noch am Tag unserer Ankunft in Auschwitz, zusammen mit meiner Schwester, ihrer Tochter, meiner Schwägerin, deren dreijährigen Sohn und den anderen dreihundert Frauen und Kindern aus demselben Transport in die Gaskammer geschickt hatte ... Ich erklärte Frenkel, daß ich alles von einem Augenzeugen erfahren hätte, einem Häftling, der in den Gaskammern von Birkenau arbeitete ... Frenkel starrte mich wie versteinert an. Als ich noch hinzufügte, daß diese Morde praktisch täglich stattfänden, fiel er mir ins Wort. Das alles, behauptete er kategorisch, sei doch gelogen und bloß üble Propaganda.”

Während Linders Kameraden überzeugt sind, Frenkel werde ihn anzeigen, geht dieser der Sache auf den Grund: „Frenkel folgte mir auf die Toilette. Dort verriet er mir weinend, er wäre nicht zu seiner Familie nach Lübeck gefahren, sondern nach Birkenau ins Lager gegangen. Nun sei ihm klar, daß diese Gaskammern tatsächlich existierten ... Meister Frenkel hatte sich auch im Verhalten den anderen gegenüber völlig verändert. Beim Grüßen hob er nicht länger seine Hand zum deutschen Gruß ... Ich nahm mir vor, ihn zu warnen, doch leider hat sich diese Gelegenheit nie mehr ergeben. Wenige Tage danach verschwand er ... Von dem neuen Meister erfuhr ich etwas später, daß man Frenkel an die russische Front geschickt hätte.”

Diese Geschichte zeigt einmal mehr die Macht der Verdrängung -wer nichts wissen wollte, konnte sich diesem Wissen selbst in Auschwitz entziehen. Sie zeigt aber auch die Macht der Gegenkräfte: Irgendwann zerbrach Frenkels Selbstschutz, nun wollte er wissen. Das Kriegsende setzte die endgültige Zäsur für Wissen-wollen und Nichtwissenwollen, für die individuelle Entscheidung zwischen, hier sind die großen Worte gestattet, Gut und Böse.

Linder schrieb ein Buch von beeindruckender Ehrlichkeit. Das Bedürfnis der Befreiten nach Gewalttaten wird nicht ausgespart. Er erzählt seine drei Leben, seine drei Ehen. Erstes Leben: Vor 1938 in Wien. Zweites Leben: Flucht, Exil. Linders Frau weigert sich, dessen Eltern etwas von seiner Habe herauszugeben und läßt sich scheiden. Zweite Ehe, Kind, untergetaucht in Belgien und Frankreich. Deportation, Auschwitz. Drittes Leben - jenes nach der Befreiung. Mit der Frage eines zehnjährigen Enkelkindes: „Opa, was hast du da?” begann am Thanksgiving Day 1983 Bert Linders viertes Leben. Fast 40 Jahre nach der Befreiung zerbrach das Tabu. Linder begann zu erzählen, was es mit der eintätowierten Nummer 167595 auf seinem Unterarm auf sich hatte, und, gedrängt von seiner Familie, seine Geschichte aufzuschreiben. So wurde das vierte Leben zu einem Leben als Zeitzeuge. Selbst Österreich, das Viktor Matejkas Vorschlag, die exilierten Juden öffentlich zur Heimkehr einzuladen, fallengelassen hatte wie eine heiße Kartoffel, begann sich für seine überlebenden Juden zu interessieren. Dabei hätte eine solche Einladung kein großes „Risiko” dargestellt. Viele Exilierte und Holocaust-Überlebende wollten gar nicht zurück.

Auch Rert Linder, der 1995 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen der Republik ausgezeichnet wurde, war 1948 zurückgekehrt, aber bereits 1950 in die USA ausgewandert. Zufällig lernte er den damaligen österreichischen Gesandten in Schweden, Rruno Kreisky, kennen, der ihm einen Posten im österreichischen Außenministerium anbot. Er lehnte ab „und erklärte ihm auch den Grund: Reim Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland hatte ich miterleben müssen, wie sich eingefleischte Sozialdemokraten praktisch über Nacht in brave Nazis verwandelten. Kreisky bestritt diesen Umstand und wandte ein, daß eben jeder von uns einmal Fehler machen könne. Dieser Meinung konnte ich mich allerdings nicht anschließen!”

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