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Der Philosoph und die Politik

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Wer kennt nicht das Klischee vom „deutschen Professor“, der, mit sich selbst und seinem Wissen zufrieden, im Elfenbeinturm der gesellschaftlichen Isolierung und des maßlosen Hochmuts sitzt, der gewollt „unpolitisch“ und damit sehr wohl politisch, nämlich asozial ist? Jeder, der von außen die geistigen Strömungen in Deutschland verfolgt, weiß, daß dieser Typus deutscher Gelehrsamkeit immer weniger der Wirklichkeit entspricht. Langsam, aber sicher geht die Entwicklung über den weltfremden deutschen Professor hinweg. Den Beweis dafür liefern deutsche Professoren selbst. Die modernen Sozialwissenschaften erfordern einen Gelehrtentyp, der die gesellschaftliche Realität nicht flieht, sondern sich ihr stellt. Das treffendste Beispiel für diesen Wandel aber bietet ein deutscher Philosoph: Karl Jaspers, der 83jährige Patriarch unter den deutschen Philosophen, hat sich nie damit begnügt, über die menschliche Existenz an sich zu theoretisie- ren. Er hat es schon immer als seine Aufgabe angesehen, sich auch politisch zu engagieren. Seine jüngste Wortmeldung, in der er die Bundesrepublik einer überaus harten Kritik unterzieht1, hat in Deutschland ein heftiges Für und Wider hervorgerufen. Jaspers wird damit seine Absicht, der Menschheit im allgemeinen und Deutschland im besonderen ein Mahner zu sein, erreicht sehen.

Das Fazit der Analyse von Jaspers ist: Die deutsche Demokratie habe sittlich-politisch vor den ihr 1945 gestellten Aufgaben versagt. Das geistige Vakuum, entstanden durch den Untergang des Dritten Reiches, durch das Verdammungsurteil der Geschichte über die Wertordnung des nazistischen Verbrecherstaates, sei nicht ausgefüllt worden. „Ein Weiterleben nach dem Nazistaat setzt eine geistige Revolution voraus, eine sittlich-politische Revolution auf geistigem Grunde.“ Und eben eine solche Revolution sei nicht erfolgt.

Mit großer, niemals unecht wirkender Leidenschaft setzt Jaspers mit seiner Kritik dort ein, wo — er legt dies überzeugend dar — das moralische Versagen der deutschen Demokratie am deutlichsten unter der dünnen Schicht wohlgefälliger Selbstsicherheit erkennbar ist, in der vieldiskutierten Frage der Verjährung von Morden des NS-Staates. „Der Nazistaat war ein Verbrecherstaat, nicht ein Staat, der auch Verbrechen begeht“, verkündet Jaspers und unterscheidet, im Anschluß an Hannah Arendt, zwischen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Verbrechen gegen die Menschheit“. Letztere entziehen sich völlig den bisher üblichen Kategorien; sie sind keine Kriegsverbrechen. „Verbrechen gegen die Menschheit ist der Anspruch, darüber zu entscheiden, welche Menschengruppen und Völker auf Erden leben dürfen oder nicht, und diesen Anspruch durch die Tat der Ausrottung durchzuführen... Kein Mensch hat das Recht, zu urteilen, daß eine Volksgruppe nicht da sein soll. Wer auf Grund solchen Urteils die Ausrottung von Völkern durch eine Organisation vollzieht und daran teilnimmt, tut etwas, was von allen Verbrechen, die es bisher gab, grundsätzlich verschieden ist.“ Jaspers’ tiefschürfende, von glaubhafter Aufrichtigkeit getragenen Ausführungen lassen alle ausschließlich im Bereich des Juristischen bleibenden Argumente dürr und künstlich erscheinen. Der Rechtsbegriff des Philosophen triumphiert hier über den solcher Juristen, die sich zuerst das Recht nach Belieben schaffen und auslegen, um es dann zu absoluter Geltung erheben zu wollen. Das Recht hat sich den Rechtsvorstellungen anzupassen, nicht umgekehrt.

Mit den Maßstäben, die er sich an Hand dieser faszinierenden Analyse geschaffen hat, mißt Jaspers den deutschen Bundestag. Arme deutsche Parlamentarier, die einem solchen Richterphilosophen ausgeiiefert sind! Schonungslos deckt dieser manche Hohlheit des deutschen Parlamentarismus auf. Aber Jaspers’ Angriff verliert, je weiter er sich von der Verjährungsfrage entfernt, an Elan und vor allem an Überzeugungskraft. Seine Postulate sind absolut, die Politik aber, besonders die demokratische, ist relativ. Bei der Freilegung der moralischen Basis eines Staates ist sittliches Pathos nur zu begrüßen, die realen Forderungen aber müssen, will man nicht an der Bedingtheit jeder konkreten Politik Vorbeigehen, bescheidener gestellt sein.

Nicht anders ist es, wenn Jaspers seine Kritik zu einer Strukturanalyse der Bundesrepublik ausweitet: Der große Wurf gelingt, aber viele Schlußfolgerungen überzeugen nicht, viele sind auch ganz einfach falsch. Den ersten Schritt „von der Demokratie zur Parteienoligarchie“ habe die Bundesrepublik bereits vollzogen, ein zweiter drohe, „von der Parteienoligarchie zur Diktatur“. Das Volk, nach der Verfassungstheorie der Souverän, sei in der Verfassungsrealität von der Parteienoligarchie entmachtet, die gekennzeichnet ist durch den Mangel an Opposition und durch „Verachtung des Volkes“.

Jaspers ist ein Mann der Philosophie, nicht der Sozialwissenschaften. Er denkt in rechts- und staatsphilosophischen Begriffen und nicht in funktionalistischen, die durch die Ergebnisse empirischer Politologie erhärtet werden. Die unglückliche Abstrahierung des Staates von den konkreten politischen Interessen, die dualistische Gegenüberstellung des geradezu mythisierten Staates mit den verächtlich gemachten Parteien, die prinzipielle Differierung zwischen Staats- und Parteipolitik, zwischen Volk und Masse: Solche Unterscheidungen sind nichts als Kunstgriffe, um die letzten Reservate eines Absolutheitsansprüche erhebenden politischen Denkens zu retten. Demokratie heißt Relativismus, heißt Abwägen von Prioritäten, heißt auch Taktik. Jaspers neigt zur Doktrin, zur Versteinerung situationsbezogener Überlegungen. Wenn er, um nur ein Beispiel zu nennen, über die große Koalition urteilt, durch sie „würde die Scheindemokratie vollends verschwinden in den autoritären Regierungen der Parteienoligarchie, die nur die gemeinsame Verantwortung aller, also gar keine Verantwortung mehr hat“, so ist das ein Einwand, der bei bestimmten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen völlig zu recht gegen eine Konzentrationsregierung erhoben werden kann, der jedoch nicht zum Dogma gemacht werden sollte. Andere Konstellationen erfordern andere Lösungen. Österreich darf hier als Beispiel angeführt werden.

Was heißt „Volk“? Wer ist das? Wer bestimmt, was Volk ist? ,Weder tiitler, noch Stalin haben darauf verzichtet, sich ununterbrochen auf „das Volk“ zu berüfen, sich als die Vollstrecker des Volkswillens zu deklarieren. Jaspers aber verwendet diesen Begriff „Volk“, der so oft mißbraucht und daher mißverständlich ist, mit geradezu inflatorischer Häufigkeit. Das Volk — immer wieder wird es gegen die Parteien ausgespielt. Aber es sind doch die Parteien, die das Volk überhaupt erst politisch relevant werden lassen. „Was ein Volk will, ist völlig anarchisch“ (Duverger); es bedarf gewisser Institutionen und Formen, deren Zweck die „Bündelung der politischen Energien“ (Hermens) ist, die Kanalisierung seiner sonst uferlosen sozialen Dynamik; es bedarf der politischen Parteien, um überhaupt Demokratie entstehen zu lassen. Alle diese Überlegungen fehlen bei Jaspers. Er geht vom flammenden Demokratieideal eines Rousseau aus, um dann festzustellen, daß die deutsche Demokratie unvollkommen ist (was selbstverständlich ist), daß sie eine „Scheindemokratie“ ist, und daß die Parteien daran die Schuld tragen. Aber gemessen an der gebieterischen Notwendigkeit der Existenz politischer Parteien wirken Jaspers Rufe nach einer „politischen Aristokratie im Wortsinn“ einer überholten Vorstellung von Demokratie zugehörig.

Ähnlich zwiespältig sind Jaspers’ außenpolitische Thesen. Viele seiner Auffassungen wünscht man den deutschen Parteien ins Stammbuch, vor allem die Polemik gegen eine Außenpolitik, die sich in unerfüllbaren Rechtsansprüchen festgefahren hat. Von einer weltpolitischen Schwarzweißmalerei kann sich Jaspers jedoch nicht ganz freimachen. Er hängt einem unkritischen Abendlandmythos nach und hat auch einen Sündenbock der Weltpolitik gefunden: China. Offen fordert er die USA und die Sowjetunion zum Präventivkrieg gegen Peking auf, als ob die chinesische Aggressivität, deren drohende Existenz niemand bestreiten wird, aus sich selbjst erklärt werden könnte und nicht tiefere Wurzeln hätte, die es zuerst auszurotten gilt. Wieder geht hier Jaspers an den sozialen und ökonomischen Verknüpfungen der Politik vorbei und beschränkt sich auf die Rolle eines moralischen Rufers in der Wüste, der zweifellos eine wichtige Funktion ausfüllt, der aber nur Teilwahrheiten liefern kann.

Der Philosoph hat gesprochen. Nicht als unfehlbarer Olympier, sondern als Kritiker, der zum Überprüfen alter Positionen anregen will, und der sich auch nicht einer Gegenkritik entzieht. Wenn die meist suspekte Unterscheidung zwischen konstruktiver und destruktiver Kritik einen Sinn haben soll, so ist Jaspers’ Kritik konstruktiv schlechthin. „Nicht Verneinung ist die Absicht, sondern eine wenn auch nur winzige Hilfe durch Besinnung“ — so umschreibt Jaspers selbst sein Anliegen. Die deutsche Demokratie kann stolz darauf sein, einen Kritiker von solchem lebendigen demokratischen Bewußtsein, von solcher Leidenschaft, von solcher Gedankenschärfe zu besitzen, wie es Karl Jaspers ist. Der österreichischen Demokratie hingegen wären Philosophen und andere Intellektuelle mit demselben politischen Engagement zu wünschen.

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