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Der Präsident aß und trank nicht

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Montevideo, im Jänner

28 Stunden lang aß und trank der bolivianische Staatspräsident Hernän Siles Zuazo nichts. Dann gaben die Führer der COB, der bolivianischen Arbeiterzentrale, ihren Widerstand gegen sein Stabilisierungsprogramm auf. Die Minenarbeiter und Eisenbahner stellten die Streiks ein. „Um ein Volk vom Hunger zu befreien, begann sein Präsident einen Hungerstreik“, schrieb eine südamerikanische Zeitung. Auf dem „Schwarzen Markt" war der Dollar, der offiziell noch immer mit 190 bolivianischen Pesos notiert wurde, in wenigen Monaten von 650 auf 1300 „bolivianos“ gestiegen.

Der Kongreß gab dem Präsidenten Blankovollmachten, um die Krise zu lösen. Er bildete einen „Stabilisierungsrat" unter Leitung des nordamerikanischen Wirtschaftssachverständigen George Jackson Eder. Die Washingtoner Regierung und der Weltwährungsfonds versprachen 25- Millionen Dollar, um einen Währungsreservefonds zu bilden und zu freier Wirtschaft ohne Devisenbeschränkungen zu kommen, Auf Grund der Vereinbarungen mit Washington erließ Siles vier Dekrete, durch die unter anderem die Gehälter auf ein Jahr reduziert wurden. Weiter wurden die Staatszuschüsse für die „pulperfas“, die „Konsumgeschäfte“ in den Minen, aufgehoben. Dort waren die Preise seit der Zeit vor der Revolution (1952) „eingefroren“, so daß der Staat ein Kilogramm Fleisch für 1000 bolivianos (zirka 3 österreichische Schilling) kaufen und es in den „pulperfas“

für 23 bolivianos (zirka 7 österreichische Groschen) verkaufen mußte. Die COB — die Arbeiterzentrale — sah diese Gesetzgebung als „gegen die Arbeiterinteressen" gerichtet an. Diese, wie Siles sagte, „rein marxistische Organisation“ verlangte statt der Liberalisierung des Handels seine Verstaatlichung und wollte „Wirtschaftsverbrechen“ durch „Volksgerichte“ mit Todesstrafe ahnden lassen. Ihr Führer ist Juan L e c h f n, Vize- und Senatspräsident, ein eleganter Don Juan arabischer Abstammung, den die Indio-Minenarbeiter wie einen Halbgott verehren. Lechfn selbst ist nicht Kommunist, hat aber mehrere in seiner COB und beherrscht praktisch Bolivien. Nur die Minen- und Landarbeiter sind bewaffnet! Das Heer ist nach mehreren Revolutionen entwaffnet worden, da es klassenmäßig die entrechteten Feudalherren repräsentierte und politisch die enteigneten Minenbesitzer gestützt hatte.

Lechfn gilt in Washington wegen seines Radikalismus als verdächtig, während die „intellektuellen Revolutionäre“, Dr. Paz E s t e n s- soro, der frühere Präsident (zur Zeit Botschafter in London), und der jetzige, Siles, als gemäßigte Elemente aus Washington unterstützt werden. (Die Produktion an Zinn, von dem Bolivien 22 Prozent des Weltbedarfs liefert, ist zurückgegangen. Die Stollen sind erschöpft. Die ausländischen Geologen haben das Land nach der Revolution verlassen, so daß Wissenschaftler fehlen, um neue Zinnvorkommen festzustellen. Die Anlagen sind veraltet. „Die Arbeiter haben für ihre Henker mehr gearbeitet , sagte der Präsident.) Qbwohl der MNR (Movimiento Nacional Revolucionario — Nationalrevolutionäre Bewegung) mit dem Kampfruf „Gegen den nordamerikanischen Imperialismus“ an die Macht kam und die zum Teil nordamerikanischen Minengesellschaften enteignete, schenkt die Washingtoner Regierung der bolivianischen jährlich 25 Millionen Dollar. Dadurch hat sie aus Feinden Freunde gemacht. Aber auch dieser Betrag reicht in keiner Weise, um die Importe zu bezahlen, für die aus eigenem nur etwa 75 Millionen Dollar für fast 4 Millionen Menschen zur Verfügung stehen. Die Agrarproduktion ist unzulänglich. Obwohl Kinder der Indios niemals in ihrem Leben Milch bekommen, müssen doch 26 Millionen Dollar im Jahr für die Lebensmitteleinfuhr ausgegeben werden. Die Masse der Indios lebt auf dem unfruchtbaren Hochplateau (3000 Meter hoch), während das Land auf halber Höhe und in den Tropen brach liegt.

Die Bevölkerung soll jetzt verpflanzt werden: Die Petroleumproduktion wird ausgebaut. Die neue Oelleitung zu dem chilenischen Hafen Arica — Bolivien selbst ist vom Meere abgeschnitten! — soll täglich 50.000 Faß befördern und jährlich 50 Millionen Dollar bringen und so den Zinnausfall ausgleichen. Zur Durchführung aller dieser Pläne ist die Beteiligung des ausländischen Privatkapitals unerläßlich, das sich vor allem durch die unsichere politische Lage abgeschreckt fühlt.

Präsident Siles kam zwar im August 1956 im Zeichen der Befriedungspolitik an die Macht. Aber schon im September organisierte die einzige bedeutende Oppositionspartei, die rechtsradikale „Falange Socialista", einen „Hungermarsch" auf La Paz, in dessem Verlauf unter anderem die Gebäude der Regierungszeitung „La Nacion“ und des Staatsradios in Brand gesteckt wurden. Lieber 100 Oppositionelle suchten in südamerikanischen Botschaften in La Paz Asyl. Viele andere wurden verhaftet. 47 Gefangene, die im Flugzeug in ein Konzentrationslager gebracht werden sollten, überwältigten auf dem Flug den Piloten und führten den Apparat nach Argentinien, wo sie Asyl fanden. Präsident Siles verkündete den Ausnahmezustand und erklärte. daß die „Befriedung" zu Ende sei und die „Revolution ihren unerbittlichen Weg nähme“.

So rettet das „kapitalistische“ Washington ein antikapitalistisches revolutionäres Regime, um ein Chaos zu verhüten, das zum Kommunismus /führen, könnte. '

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