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Der „Prozeß der Barrikaden“

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Wenn zu Beginn des Herbstes der Jeanson-Prozeß so überstürzt und schlecht vorbereitet über die Pariser Szene ging, so hatte das seinen politischen Grund: er sollte das Gegengewicht zu dem Prozeß bilden, der diesen Donnerstag im Pariser Justizpalast beginnt — gegen den „Prozeß der Barrikaden“ (vom Jännerputsch dieses Jahres .in Algier), den man um des bekanntesten Angeklagten willen auch den „Lagaillarde-Prozeß“ nennt. Das gaullistische Regime brauchte einen solchen Ausweis, daß es gegen die äußerste Linke hart zuschlägt. Der Lagaillarde-Prozeß ist nämlich für die Regierung eine höchst unangenehme Geschichte, weil er mehr als ein Schlag gegen die Extremisten auf der anderen Seite ist. Nicht zufällig hatten die Behörden geplant, den ganzen Prozeß hinter verschlossenen Türen abrollen zu lassen (was Lagaillarde durch seine Drohung, dann kein Wort zu sagen, zunichte machte). Und nicht zufällig hat Lagaillarde gefordert, daß das stenographische Protokoll des gesamten Prozesses im „Journal officiel“ abgedruckt werden soll (was man bisher nur für den Prozeß gegen Marschall Petain gemacht hat).

Das Hochexplosive am Lagaillarde-Prozeß ist, daß sich hier nicht einfach ein Staat gegen seine Feinde wehrt. Dieser Prozeß ist eine viel kompliziertere Operation: in ihm versucht sich ein Staat von seinen revolutionären Ursprüngen zu distanzieren. Es war der Para-Leutnant Lagaillarde, der in den entscheidenden Minuten des 13. Mai 1958 die aktivistischen Stoßtrupps zum Sturm auf das Generalgouvernement in Algier mitgerissen und damit der Vierten Republik den Todesstoß versetzt hat. Gewiß, ein Gaullist war er nie — es waren die Gaullisten Soustelle, Delbecque und Neuwirth und der General Salan, die den Wildbach jenes Putsches unter dem Ruf „Vive de Gaulle!“ in das Becken der Fünften Republik kanalisierten. Es wurde aber als symbolischer Augenblick empfunden, als de Gaulle bei seinem ersten Besuch in Algier nach dem Putsch dem in Zivi! und halb abwehrender Achtungstellung vor ihm aufgebauten Lagaillarde die Hand schüttelte: dieser Händedruck schien die Brücke zwischen Revolution und Ordnung zu schlagen.

Es dauerte aber nicht einmal zwei Jahre, bis der Spalt sich wieder auf tat: Am 24. Jänner dieses Jahres brach der zweite Putsch von Algier los, und wieder war Lagaillarde an der Spitze. Damals, als der Staat diesen zweiten Putsch nicht niederzuschlagen wagte, sondern seine „Neutralisierung“ einer „dritten Kraft“ jenseits von Staat und Putschisten, nämlich der Armee, anvertraute — damals begann die Auflösung der Fünften Republik. Es hat uns viel Feindseligkeit eingetragen, als wir das damals gleich aussprachen. Heute, wo sich in Frankreich von neuem und kaum noch verhüllt der Aufmarsch in die Bürgerkriegsstellungen vollzieht, sieht man, daß die Fünfte Republik als das, was sie sein sollte, gar nicht mehr existiert: nämlich als Verkörperung der wiedergefundenen nationalen Einheit. Gäbe es dafür eine bessere Illustration als den Umstand, daß von den erwähnten vier Begründern dieser Republik mit Neuwirth nur noch ein einziger (und gewiß nicht der wichtigste) an de Gaulies Seite steht? Salan, Soustelle und Delbecque hingegen gehören heute zu den Chefs des Aufstandes von rechts her. Und diese Stellung können sie nur deshalb einnehmen, weil sie nach Meinung sehr vieler Franzosen in die Sezession die Bundeslade mitgenommen haben, auf die sich die Fünfte Republik seinerzeit gründete.

Wenn das gaullistische Regime dem Lagaillarde-Prozeß mit so gemischten Gefühlen entgegensieht, so liegt das daran, daß Lagaillarde der „existentialistische Landsknecht“-mit seinem verwegenen Bartkranz, während seiner Haft für einen Teil der Franzosen mehr als ein bloßer Dynamitero geworden ist. Mag es auch nur eine Minderheit sein — für sie ist nicht mehr Lagaillarde die Revolution und de Gaulle die Ordnung, sondern es ist für sie gerade umgekehrt. Für dieses Lager der französischen Politik gehören die beiden Parolen, unter denen der „13. Mai“ sich unbestreitbar abwickelte — „Algerie francaisel“ und „Vive de Gaulle!“ —, untrennbar zusammen. Die zweite Parole ist für sie nur zusammen mit der ersten gültig. Als Beweismaterial bedienen sie sich dabei mit Vorliebe jener Photos der Massen, die im Frühjahr 1958 de Gaulle in den algeri-s:hen Städten empfingen und aus denen weithin sichtbar die Transparente mit den beiden Parolen aufragen. Und als Legende dieser Bilder werden de-Gaulle-Aussprüche von damals herangezogen, die sich als Bekenntnisse zum „französischen Algerien“ auslegen lassen — etwa die berühmte Ernennung der Algerier zu Franzosen „ä part entiere“. Kurzum: das Explosive am Lagaillarde-Prozeß ist, daß für einen Teil der Franzosen der Träger der „Legitimität“ (wenn uch nicht der Legalität) in Paris im Sante-Gefängni und nicht mehr im Elysee-Palast sitzt.

Wm wir damals gleich nach dem Putsch vom Jänner befürchtet hatten, ist eingetroffen: der politischen Zirkulation und damit der Möglichkeit des Sich-Blamierens entzogen, ist La-gaillardes politisches „Potential“ erheblich gestiegen. Vergessen sind die Zeiten, wo ihm •eine politischen Gegner ehrenrührige Handlungen (mutwillige Tötungen, Aneignung des Gutes von Gefangenen) nachweisen wollten. Selbst regierungstreue Blätter billigen ihm das Prädikat eines „Pur“ (eines „Reinen“) zu. Er hat ja nicht, wie Soustelle, Salan und Delbecque, das Pferd gewechselt. Und er hat sich nicht — wie O r t i z, der andere Chef des Jännerputsches — in die Büsche geschlagen, sondern er stellte sich der legalen Gewalt mit den stolzen Worten: „Ich bin der Chef und ich nehme die ganze Verantwortung auf mich Und vor allem hat er gegenüber dem zum Lavieren genötigten Regime den Vorteil einer unbedingten, einer absoluten Haltung für sich. Wir haben selbst Gegner des Algerienkrieges sagen hören: „Im Grunde gibt es gegenüber dem Algerienkrieg nur zwei konsequente Haltungen: diejenige der Unterzeichner des .Manifestes der 121' und diejenige eines Lagaillarde. Für die einen hat sich die Politik der Moral unterzuordnen; für die andern hat die Nation immer recht. Beide Haltungen sind in sich konsequent. Alles dazwischen aber ist Kompromiß und Wischiwaschi ...“

Es fehlt allerdings auch nicht an Versuchen, beide so unbedingt scheinenden Haltungen als „Literatur“ zu entlarven. Daß manche das Unterzeichnen von Manifesten für eine unverbindliche Geste halten, ist bekannt. Und was Lagaillarde betrifft, so erinnern wir uns gut des Stoßseufzers eines nationalistischen Franzosen nach der Übergabe von Lagaillardes „Alkazar“ Anfang dieses Jahres: „Im richtigen Alkazar, dem in Spanien, hat man bis zum bitteren Ende gekämpft. Wenn Lagaillarde die Konsequenz besessen hätte, sich in seinem von Sprengstoff berstenden Fakultätsgebäude in die Luft zu sprengen, so hätte auf 20 Jahre hinaus keine französische Regierung es wagen können, am Prinzip des .französischen Algeriens' zu rütteln. So aber hat sich auch Lagaillarde nur als rhetorisches Phänomen erwiesen, als mediterrane Melodramatik. Zwischen ihm und Herriot besteht nur ein Stil-, kein Wesensunterschied.“

Nun, der Prozeß wird zeigen, wie Lagaillarde mit seinem Pfund zu wuchern versteht, Mit ein paar ungeschickten Sätzen kann er sein ganzes politisches Kapital verspielen. Ein Handikap ist für ihn auch, daß er formal nur einer unter 20 Angeklagten (fünf verhafteten, vier geflüchteten, elf provisorisch in Freiheit befindlichen) ist. Und unter seinen Mitangeklagten sind längst nicht alle als „Purs“ anzusehen. Von dem das spanische Exil genießenden O r 11 z war bereits die Rede. Auch wenn die gegen diesen Bistrot-Besitzer vorgebrachten Beschuldigungen des Mädchenhandels und anderer dunkler Geschäfte nicht zu stimmen brauchen, so steht dieser andere Führer des Jännerputsches doch in weniger günstigem Licht da als Lagaillarde. Zunächst einmal ist die Schießerei vom 24. Jänner, die so manches Todesopfer kostete, in seinem „Sektor“ und nicht demjenigen Lagaillardes losgebrochen. (Und die Behauptungen von Putschistenseite, daß es sich dabei um eine Polizeiprovokation gehandelt habe, sind bisher kaum genügend belegt worden.) Und dann ist da ja auch sein Verschwinden, das mit der Anwesenheit von Ortiz-schen Unterführern auf der Anklagebank kontrastiert. Vom streng revolutionären, alles der Sache unterordnenden Standpunkt aus mag die Forderung donquijotesk erscheinen, daß ein geflüchteter Chef sich seinen Untergebenen auf der Anklagebank zugesellen soll — in einem Land wie Frankreich, wo „honneur“ immer noch großgeschrieben wird, rückt Ortiz' Abwesenheit ihn automatisch in ein schiefes Licht. Der dritte Prominente unter den Angeklagten, der aus Gesundheitsrücksichten auf freiem Fuß befindliche Alain de S e r i g n y, früherer Generaldirektor des Ultra-Blattes „L'Echo dAlger“, läßt sich auch nicht in die Kategorie der „Purs“ einreihen. Er gilt der Öffentlichkeit nun einmal als Repräsentant der großen, mit Algerien verknüpften Geldinteressen. Die Meldung ist darum durchaus glaubwürdig, daß von offizieller Seite versucht werden könnte, ihn an Stelle von Lagaillarde in den Mittelpunkt des Prozesses zu spielen. Alle anderen Angeklagten jedenfalls gehören zur zweiten Garnitur: der ehemalige poujadistische Abgeordnete und Para-Leutnant Demarquet, der Studentenführer S u s i n i, der Flieger und Leiter patriotischer Dachverbände, A r n o u 1 d, der etwas versponnene Ständestaatsrheoretiker Doktor L e f b v r e, der beim Putsch die „Terri-torialeinheiten“ befehligende Kommandant S a-t i n - L i g n i e r e s. der geflüchtete Chef der „Volksbewegung vom 13. Mai“, Robert M a r t e 1.

Wichtiger als sie dürften politisch einzelne der Verteidiger werden. Lagaillarde zwar hat sich in Maitre G a 11 o t einen politisch nicht abgestempelten und noch wenig bekannten Advokaten gewählt. Als Verteidiger de Serignys finden wir aber Maitre I s o r n i, der schon Marschall Petain und den füsilierten Schriftsteller Robert Brasillach verteidigt hat; die Vertretung Demarquets hat Maitre Tixier-Vignan-c o u r, einer der klügsten Köpfe des französischen Rechtsextremismus, übernommen. So kann denn der „Prozeß der Barrikaden“ zu einem großen politischen Spektakel werden, in dem es auch um die Existenz des gaullistischen Regimes geht. Daß der Prozeß auch auf die Straße übergreift, wird ein großes Polizeiaufgebot zu verhindern suchen.

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