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Der Rapacki-Plan

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Es löste allgemeine Ueberraschung aus, daß der britische Außenminister Selwyn Lloyd in seinem Weihnachts-Ffernsehinterview den bereits Anfang Oktober in der UNO erhobenen Vorschlag des polnischen Außenministers Adam Rapacki — die Schaffung einer „kernwaffenfreien Zone“ in Mitteleuropa, die die beiden Teile Deutschlands sowie Polen und die Tschechoslowakei einschließen soll — als einen „aussichtsreichen Ausgangspunkt für Gespräche mit der Sowjetunion“ bezeichnet und zur sorgfältigen Prüfung empfohlen hat. Lloyd ist damit das erste Regierungsmitglied eines NATO-Staates, der nach der Pariser NATO-Konferenz — dort war die Diskussion mit dem Ostblock auf der Grundlage des Rapacki-Planes zwar von Kanada, Norwegen und Dänemark befürwortet, aber von der übrigen Majorität abgelehnt worden! — diesen polnischen Plan in positiver Form erneut aufgegriffen hat. Die führende deutsche Tageszeitung „Die Welt“ meinte dazu:

„Man kommt nicht weiter, wenn man jeden vorwärtsweisenden Vorschlag einfach sofort als .unrealistisch' und .unmöglich' abtut. Selwyn Lloyd erkennt nun den polnischen Vorschlag bezüglich Mitteleuropa als Diskussionsgrundlage an. Das ist ein bedeutender Schritt weiter ... Diese Aeußerungen Lloyds sind aber gerade deshalb so bemerkenswert, weil sie von einem konservativen Außenminister stammen und nicht etwa von Bevan oder Gaitskell ..“

EIN BEISPIEL KONSERVATIVER POLITIK

Nun — es ist sogar ausgerechnet noch der rechte Tory-Flügel der seinerzeit als „Suezrebellen“ bekannten konservativen Abgeordneten, der unter dem Eindruck der Radiovorlesungen von George F. K e n n a n der britischen Regierung empfahl, jenen Rapacki-Plan — auch Gomulka hat kürzlich in einer seiner Reden die Vorschläge seines Außenministers mit den Gedanken Kennans verbunden! — im Lichte der Kennanschen Thesen doch nochmals durchzudenken. Außerdem dürfte Mr. Lloyd daraufgekommen sein, daß es auch noch eine ganze Reihe von Parallelen zwischen diesen polnischen Vorschlägen und jenem Mitteleuropaplan gibt, den seinerzeit sein Vorgänger im britischen Außenamt und frühere Premier, der ebenfalls konservative Anthony Eden, entworfen hat und der schon damals in der Idee eines schrittweisen sowjetisch-amerikanischen gegenseitigen „Sich-Absetzens“ aus Mitteleuropa — in der englischen Fachsprache „disengagement“ genannt — gipfelte. Freilich, ohne damals von den Sowjets als Verhandlungsgrundlage akzeptiert worden zu sein! Sollte man demgegenüber diesmal mit Moskau auf einer solchen Basis ins Gespräch kommen können — warum nicht, so meinte Selwyn Lloyd.

Fast scheint es in diesem Zusammenhang, daß es in der freien Welt nunmehr schöpferischen konservativen Köpfen zufällt, die westliche Außenpolitik aus ihrer gegenwärtigen Erstarrung heraus und auf die Bahn einer undoktrinären Diplomatie klassischen Stils zurückzuführen, da es offenbar doch zum eigentlichen Wesen konservativer Politik gehört, die Entwicklung der Weltpolitik noch frei von doktrinären und ideologischen Scheuklappen in allen ihren Wandlungen wirklich realpolitisch zu erfassen ...

GESPRÄCHE - ABER WIE?

In diesem Sinne kann man auch Bundeskanzler Adenauer zum Teil nicht jenes unvoreingenommene Gefühl für gewisse Realitäten absprechen, das eine in schöpferischer Weise konservative Politik vor der zumeist ideologisch befangenen Linken so sehr auszeichnen kann, wenn auch er während der Pariser NATO-Koft-ferenz — vor allem gegen die von Dulles in ihn gesetzten Erwartungen — ein neues diplomatisches Gespräch mit dem Kreml befürwortete, bevor Sich Westeuropa eindeutig auf die amerikanische „Raketenlinie“ festlegen läßt. Aber wir müssen dabei doch eben nur sagen „zum Teil“, weil Adenauer das Gespräch mit Moskau zwar befürwortet, den Rapacki-Plan als Grundlage aber ebenso abgelehnt hat wie vorher die Thesen Kennans. Wenn man Adenauer immerhin einen ehrlichen Verhandlungswillen mit dem Ostblock zubilligt und nicht — wie es „Die Welt“ befürchtet - seine „Verhandlungen mit den Sowjets nur den Sinn haben sollen, zu beweisen, daß Gespräche mit Moskau eben keinen Sinn haben“, dann sieht man deren Basis noch nicht klar. Auch hat die Tatsache, daß Adenauer wohl mit dem Kreml reden, aber

den Rapacki-Plan nicht diskutieren will, in Warschau und Prag Beunruhigung ausgelöst. Also vielleicht gar ein deutsch-russisches Gespräch über die Köpfe „Zwischeneuropas“ hinweg? So unbegründet derartige Befürchtungen augenblicklich vielleicht auch sein mögen, man sollte sich in Bonn nicht ganz darüber hinwegsetzen. Wer die Geschichte des östlichen Mitteleuropas kennt, der weiß nur zu gut, warum auch schon die leiseste Kontur eines deutschrussischen Kontaktes über jene „Zwischenzone“ hinweg vor allem die Polen, aber auch die Tschechen erschrecken muß ...

Für eine positive Beurteilung des Rapacki-Planes ist hingegen gerade die Ueberlegung ausschlaggebend, daß der polnische Staat unter Gomulka heute eben doch nicht so einfach mit einem „Satelliten Moskaus“ gleichgesetzt werden kann und daß sich die polnische Regierung ■'— wie es gutinformierte Kreise in Warschau wissen wollen — im Laufe der letzten Monate um den Preis gewisser oft schmerzlicher Konzessionen an Moskau im Inneren, und dementsprechend gewisser „Abstriche“ an Gomulkas ursprünglichem Oktoberprogramm vom Vorjahr, eine entsprechend größere Bewegungsfreiheit von Moskau auf dem Sektor der Außenpolitik zu erkämpfen vermochte. Um so größer ist die Bedeutung des Rapacki-Planes, wenn er unter diesen Umständen tatsächlich auf eine ursprünglich polnische Initiative zurückgeht. Dies freilich läßt sich nur erfahren, wenn man der Entstehungsgeschichte des Rapacki-Planes nachgeht.

Wie man heute bereits sicher weiß, ist der Rapacki-Plan tatsächlich nach und nach im polnischen Außenamt in Warschau herangewachsen. Ursprünglich war Moskau sogar dagegen, und es brauchte wiederholte Unterredungen Ra-packis mit Gromyko und Chruschtschow, bis der Kreml schließlich — Monate nach dem ersten Entwurf — ja sagte und anschließend daran die Tschechoslowakei und die DDR dafür gewonnen werden konnten.

RAPACKI-PLAN - NICHT VON RAPACKIl

Uebrigens stammt das ganze Konzept nicht von Rapacki, der es freilich aufgriff, durchkämpfte und ihm den Namen gab. Der eigentliche Einfall stammt von seinen beiden Stellvertretern: Josef Winiewicz und Przemy-slaw Ogrodzinski, beide — wie übrigens auch Rapacki selbst/ — ursprünglich Sozialdemokraten. Winiewicz, zwischen den beiden Weltkriegen Deutschlandsachverständiger großer polnischer Blätter und schließlich auch der polnischen Presseagentur PAP, ging bei Kriegsausbruch nach London, wo er dann Deutschland-und Mitteleuropaexperte der polnischen Exilregierung General Sikorskis und ihres (noch heute in London als Mitherausgeber des „Intelligence Digest“ lebenden) Außenministers Graf R o m e r war. Bis heute liegen in den Archiven der Londoner polnischen Exilregierung die Memoranden und Denkschriften Winiewiczs über den polnischen Standpunkt zu einem Friedensvertrag mit Deutschland und die neue Nachkriegsordnung in Mitteleuropa. Schon damals trat er dabei für eine Neutralisierung Mitteleuropas — das heißt eines deutschen und eines mittelosteuropäischen Staatenbundes, letz-

terer unter polnischer Führung und von einer polnisch-tschechoslowakischen Union als Kern ausgehend! — zwischen Moskau und Washington ein. Mit Mikolajczyk kehrte er 1945 nach Warschau zurück, kehrte seinen in London als permanente Exilregierung verbleibenden Kollegen den Rücken und trat in das Warschauer Außenamt ein, wo er dann jahrelang polnischer Botschafter in den USA und bei der UNO wurde und auch blieb, als Mikolajczyk abermals nach dem Westen fliehen mußte. Sein Kollege Ogrodzinski ist gebürtiger Auslandspole, der seine Jugend als polnischer Arbeitersohn in Frankreich und Deutschland verbrachte. Bevor ihn Rapacki ins Außenamt holte, war er jahrelang polnischer Geschäftsträger in Paris. Auch heute gilt sein Hauptanliegen vor allem dem Ausbau der polnischen Beziehungen mit den Ländern des Westens.

Winiewicz und Ogrodzinski — Rapackis engste Mitarbeiter — sind also diejenigen polnischen Spitzendiplomaten, die — vor allem, seitdem Gomulka wieder am Ruder ist — ständig nach Konzeptionen und Möglichkeiten suchen, um Polen eine größere Bewegungsfreiheit auf der Weltbühne zu verschaffen und ihrem Land, das bis vor kurzem noch lediglich eine Provinz des Nachkriegsimperiums der Sowjets war, die. Rolle einer Brücke zwischen Ost und West zuzuweisen, was Rapacki kürzlich — im Gegensatz zu der oft schon recht fragwürdig gewordenen „aktiven Koexistenz“ Titos — als „Politik der konstruktiven Koexistenz“ bezeichnete.

Der gegenwärtige Rapacki-Plan ist in diesem Sinne nicht das erste Projekt, das jenem Ziel polnischer Außenpolitik dienen soll. Es handelt sich vielmehr um den bereits dritten Vorstoß innerhalb eines Jahres: im April lancierte man die Idee einer „mitteleuropäischen Zone beschränkter Rüstungen“, die neben Polen, der CSR und den beiden Deutschland damals auch noch Ungarn. Holland und Luxemburg umfassen sollte, im Spätsommer — unmittelbar vor dem mit Tito abgesprochenen und dann von Rumänien lancierten Vorschlag einer Balkanunion,- den kurz vor Weihnachten Mi-

kejan in einem Interview mit einer linksgerichteten griechischen Zeitung erneut aufgriff — propagierte man den Gedanken der „Neutralisierung des baltischen Raumes“. Die Verwirklichung derartiger Pläne müßte schließlich Polen eine solche Sonderstellung innerhalb des Ostblocks einräumen, daß sie allmählich Warschau aus der direkten Abhängigkeit von Moskau löst und auf diesem Wege den Polen gestatte, dann auch andere Oststaaten schrittweise nachzuziehen, vor allem die Tschechoslowakei und gegebenenfalls auch noch Ungarn, -womit in einer neuen Form Polens uralter — noch von der Jagiellonenzeit her datierender — Führungsanspruch in Ostmitteleuropa, der während des zweiten Weltkrieges in London zur Konzipierung verschiedener, von einer Union Warschau-Prag ausgehender Föderationspläne führte, die später allerdings alle ins Wasser fielen, seine Rechtfertigung fände ... so kalkuliert man zumindest in Polens Außenamt und so müßten gewiß auch im Westen alle jene überlegen, denen auch noch nach der Generalpleite westlicher Ostpolitik vor einem Jahr in Ungarn weiterhin an einer sukzessiven Lockerung der Bande der osteuropäischen Staaten von Moskau gelegen ist.

UND UNGARN?

Lind in diesem Blickwinkel wird auch der schwache Punkt des Rapacki-Planes offenbar: Ungarn. Gomulka stellte es kürzlich in einer Rede anheim, daß auch Ungarn jener „atomfreien Zone“ angeschlossen werden könnte, der dann „gewiß auch Jugoslawien und Oesterreich“ beitreten würden. Im offiziellen Rapacki-Plan steht aber nichts von Ungarn, und Rapacki wich dieser Frage — kürzlich in dem „Welt“-Inter-view direkt darauf angesprochen — geschickt aus. Warum also nicht auch Ungarn, das anderseits in den neutralen Balkanunionsplänen ebenfalls unberücksichtigt bleibt? Warum bleibt dieses strategisch so wichtige Land Ungarn — im räumlichen Mittelpunkt jenes „Zwischeneuropas“ zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer — außerhalb aller jener Ueberlegun-gen? Will Moskau also in Budapest bleiben und damit die diplomatischen Operationen im mitteleuropäisch-baltischen und südosteuropäischen Vorfeld seines Imperiums voneinander getrennt halten? Schon um endlich einmal Klarheit über die Moskauer Gesamtkonzeption bezuglich „Zwischeneuropa“ zu bekommen, müßte der Westen nunmehr die diplomatische Diskussion über jenen Rapacki-Plan eröffnen, zugleich aber auch die Einbeziehung ebenfalls Ungarns in jenen fordern.

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